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Full text of "Kaukasus: Reisen und Forschungen im kaukasischen Hochgebirge"

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KAUKASUS 

Reisen   und  Forschungen  im   kaukasischen  Hochgebirge 


VON 


M.  VON  DECHY 

In   drei   Bänden 


BAND  I 


EIjBRUSS    (  ivIiI-iGiil       j.j^u  / 


KAUKASUS 

Reisen  und  Forschungen  im  kaukasisclien  Hochgebirge 


MORIZ  VON  DECHY 

IN  DREI  BÄNDEN 


BAND  I 

MIT    EINUNDZWANZIG    KUPFER  -  HELIOGRAVÜREN,    ZEHN    PANORAMEN    UND 
HUNDERTSECHSUNDSIEBZIG    ABBILDUNGEN   IM  TEXT   NACH    PHOTOGRAPHI- 
SCHEN AUFNAHMEN   DES  VERFASSERS 


BERLIN    1905 

DIETRICH   REIMER  (ERNST  VOHSEN) 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


511 


Druck  von  Otto  Eisner,  Berlin  S.42. 


Voyage;  tu  trouveras  une  compensation  ä  ce 

que  tu   quittes. 
Deplace-toi,  vois  du  pays,  car  l'agreable  en 

cette  vie  est  dans  le  deplacement. 
Pour  rhomme  doue  d'intelligence  et  de  talent, 

il  n'y  a  point  dans  la  vie  sedentaire  de 

gloire   ä  esperer. 
Ainsi,   quitte  les  pays   oii  tu   resides,  et  va  ä 

Tiitranger. 
Le  repos  de  l'eau  la  corrompt; 

tandis  que  l'eau  qui  coule  devient  exquise  et 

s'altere  si  eile  ne  coule  pas. 
Le  grain  d'or  est  comme  de  la  poussiere   tant 

qu'il  n'est  pas  sorti  de  sa  gangue  ou  de  son 

filon; 
Et  le  bois  d'aloes,  si  procieux,  n'est  dans  son 

pays  d'origine,   que   du  bois  ;i  brüler. 

\'ers  persans. 


Vorwort. 

Vorwörter  enthalten  oft  etwas  wie  eine  Selbstbiographie  des  Ver- 
fassers, sie  erzählen,  wie  das  Buch  entstand,  manches  Wort  wird  in  der 
Form  einer  Beichte  gesagt;  ein  Vorwort,  das  ja  in  der  Regel  erst,  wenn 
das  Buch  fertig  ist,  geschrieben  wird,  ist  ein  supremer  Appell  an  den  Leser. 
Vielleicht  werden  deswegen  Vorwörter  meist  nicht  gelesen.  Mich  haben  sie 
immer  interessiert,  schon  weil  ich  darin  die  teilweise  Befriedigung  einer 
berechtigten  Neugierde  zu  finden  hoffte,  etwas  über  den  Verfasser  zu  er- 
fahren, mit  dessen  Geistesprodukt  man  ja  im  Begriffe  steht,  sich  zu  beschäf- 
tigen. Jedenfalls  will  ich  die  Gelegenheit  benutzen,  einiges  über  das  Ent- 
stehen des  Buches  und  noch  mehreres  zu  sagen,  was  in  den  folgenden 
Blättern  keinen  Platz  mehr  fand  oder  hier  an  besserer  Stelle  ist. 

Die  Liebe  zu  den  Alpen,  deren  Hochgipfel  ich  erstiegen  habe  zu 
einer  Zeit,  als  Gletscherfahrten  nur  von  wenigen  ausgeführt  wurden,  und 
das  Eindringen  in  die  Hochregionen  noch  einer  kleinen  Entdeckungsreise 
glich,  hat  mich  nach  dem  fernen  Himalaya,  in  den  frostigen  Kaukasus 
und  in  andere  Hochgebirge  der  Erde  geführt.  Es  galt,  bei  der  geo- 
graphischen Erforschung  aussereuropäischer  Hochgebirge  die  Bekanntschaft 
mit  den  gleichartigen  oder  ähnlichen  Erscheinungen  der  Alpen,  das  Vertraut- 
sein mit  den  Gefahren  und  den  Schwierigkeiten,  welche  das  Hochgebirge 
einem   Eindringen   entgegenstellt,    grösseren   Zwecken    dienstbar    zu    machen. 

Dieses  Buch  handelt  von  meinen  Reisen  im  Kaukasischen  Hoch- 
gebirge. Die  ersten  wandten  sich  dem  zentralen  Teile  desselben  zu,  dessen 
eisige  Hochregionen  damals  unerforscht,  nahezu  unbetreten  waren.  Die 
letzten  Reisen  führten  in  die  im  (Jsten  und  Westen  gelegenen  Gebiete. 
Durch  die  Bereisung  des  Kaukasischen  Hochgebirges  in  seiner  ganzen  Aus- 
dehnung sollte  die  Kenntnis  seiner  physischen  Verhältnisse,  seiner  Ober- 
flächengestaltung gefördert  und  seine  Darstellung  in  Wort  und  Bild  ermög- 
licht  werden. 


\'(  iRWÜRT. 

Die  HcschrcilninL;-  meiner  Reisen  soll  sich  auf  Selbstgeschautes,  Selbst- 
erlcbtes  stützen.  Sie  (Mithält  die  Hinweise  auf  die  wissenschaftlichen  Er- 
gebnisse, so  wie  sie  sich  darboten,  sie  zeigt,  wie  die  Kenntnis  der  bereisten 
Hochgebirgslandschaften  gewonnen,  wie  sie  erweitert  wurde.  Es  wäre 
leichter  gewesen,  die  Resultate  der  Reisen  in  trockene  Paragraphen  zu  fassen, 
eine  Länderbeschreibung,  nach  topographischen  Abschnitten  geordnet,  zu 
bringen,  das  Buch  hätte  vielleicht  in  den  Augen  einiger  sogar  ein  wissen- 
schaftlicheres Gepräge  gehabt.  Es  ist  jedoch  meine  feste  Ueberzeugung, 
dass  der  \'erbreitung  erdkundlicher  Kenntnisse  von  den  Hochregionen  des 
Kaukasus  damit  weniger  gedient  gewesen  wäre.  Es  ist  unglaublich,  wie 
viel  unrichtige  Vorstellungen  von  der  Hochgebirgswelt  des  Kaukasus,  wo 
in  weite  Regionen  noch  kein  Sterblicher  gedrungen,  noch  immer  fortbestehen. 
Der  Zweck  eines  Buches  ist,  dass  es  gelesen  werde,  und  diesen  Zweck 
glaubte  ich  nur  in  der  Eorm  zu  erreichen,  die  ich  meinen  Schilderungen  ge- 
geben  habe. 

Die  Aehnlichkeit  der  beobachteten  Erscheinungen,  wie  sie  das  Ge- 
birge bietet,  die  Wiederholung  von  Berg  und  Tal  und  Gletscher  war  dabei 
eine  Klippe,  deren  Gefährlichkeit  ich  nicht  verkannte.  Aber  selbst,  wo  die 
Natur  anscheinend  gleichartig  ist,  weiss  sie  durch  eine  überraschende  Mannig- 
faltigkeit in  den  Details  Wechsel  zu  schaffen,  und  mit  dem  Erfassen  der- 
selben kann  auch  die  Schilderung  vielleicht  der  Gefahr  ermüdender  W^ieder- 
holung  entgehen.  Das  Einstreuen  persönlicher  Erlebni.sse  wird  die  Erzäh- 
lung ebenso  beleben,  wie  die  Reise  selbst,  und  die  aufrichtige  Darstellung 
der  Wagnisse  und  Gefahren  bei  Erreichung  eines  schwierigen  Zieles 
sind  Pflicht  des  Reisenden,  der  Interesse  für  sein  Tun,  für  sein  Werk 
erwecken  will. 

Um  die  Ergebnisse  meiner  Reisen  wertvoller  zu  gestalten,  hatte  ich 
mehrere  Fachmänner  zur  Teilnahme  an  denselben  eingeladen,  welche  sich 
mit  Disziplinen  beschäftigten,  die  mit  der  erdkundlichen  Erforschung  in 
engen  Beziehungen  stehen.  Es  waren  dies  die  Botaniker  f  Hugo  Lojka, 
Ladislaus  Hollos,  die  Geologen  Franz  Schafarzik,  Karl  Papp  und  Desiderius 
Laczkö.  Im  dritten  Bande  dieses  Werkes  werden  auch  diese  wissenschaft- 
lichen Ergebnisse  veröffentlicht  werden.  Die  umfangreichen  naturwissen- 
schaftlichen Sammlungen,  die  ich  heimbrachte,  habe  ich  vaterländischen 
Institutionen  zum  Geschenk  gemacht.  Dadurch  und  indem  ich  ungarischen 
Gelehrten  die  Möglichkeit  bot,  an  meinen  Reisen  und  an  der  wissenschaft- 
lichen Erforschung  ferner  Regionen  Teil  zu  nehmen,  glaubte  ich  eine 
patriotische   Pflicht   meinem   \^aterlande  gegenüber  zu   erlüllen. 


VcMnVORT. 

Während  der  Zeit,  welche  zwischen  meine  ersten  und  meine  letzten 
Reisen  fällt,  hat  die  Erforschung  der  kaukasischen  Hochgebirgswelt  nicht 
stillgestanden.  Aber  damit  der  chronologische  Verlauf  meiner  Reisen  in 
der  Beschreibung  nicht  gestört  werde,  damit  sie  den  von  mir  beab- 
sichtigten Charakter  des  Selbsterforschten,  Selbsterlebten  nicht  verliere,  habe 
ich  meine  Schilderungen  so  belassen,  wie  ich  das  kaukasische  Hochgebirge 
in  den  Jahren  meiner  Reisen  sah.  Nur  die  Fortschritte  in  der  Kartographie, 
in  der  Nomenklatur,  die  in  der  Zwischenzeit  eingetreten  sind,  habe  ich 
berücksichtigt. 

Das  Buch  enthält  keine  Beschreibung  Kaukasiens,  daher  auch  keine 
solche  von  Städten  wie  Tiflis  oder  Baku;  auch  die  Wege  zum  und  vom 
Hochgebirge,  sowie  Bekanntes  wurde  nur  in  kurzen  Strichen,  oft  nur,  soweit 
es  zum  Verständnis  des  übrigen  nötig  ist,  gezeichnet.  Ethnographische, 
anthropologische  und  archäologische  Forschungen  lagen  ausserhalb  des  Be- 
reiches meiner  Arbeiten.  Aber  die  Völkerschaften,  durch  deren  Wohnsitze 
in  den  Hochgebirgstälern  mich  mein  Weg  führte,  musste  ich  kurz  erwähnen, 
weil  die  Naturszenen  die  Folie  für  das  Menschenleben  sind,  das  sich  in 
ihnen  abwickelt,  weil  sich  der  Zusammenhang  zwischen  Naturerscheinungen 
und  Menschenleben  nirgends  schärfer,  ursächlicher  offenbart  als   im  Kaukasus. 

Ich  war  und  bin  mir  der  an  Unmöglichkeit  streifenden  Schwierigkeit 
bewusst,  eine  erschöpfende  Darstellung  des  kaukasischen  Hochgebirges  zu 
geben,  und  der  Lücken,  die  der  Versuch,  eine  so  grosse  Aufgabe  zu  lösen, 
mit  sich  bringen  muss.  Ich  war  bestrebt,  in  einem  Buche,  das  sich  an 
einen  grösseren  Kreis  wendet,  meine  Leser  nicht  durch  Zitate  aus  andern 
Ouellenwerken  oder  durch  viel  topographische  Details  zu  ermüden; 
ich  habe  topographische  Dissertationen  vermieden,  weil  ja  zum  Schlüsse 
die  Karte  das  Endresultat  aller  dieser  Erwägungen  in  klarster,  übersichtlicher 
Form  bietet.  Die  Abschnitte  über  (Urographie  und  Gletscher  im  dritten 
Bande  mögen  ihr  als  Ergänzung  dienen.  Verhältnisse,  die  ausserhalb 
meines  Wollens  und  Könnens  lagen,  haben  einmal  für  längere  Zeit  die 
Fortsetzung  meiner  Arbeiten  unterbrochen,  und  kurz  bemessene  Reisezeit 
oder  ungünstige  Wetterperioden  haben  oft  die  Ergebnisse  geschmälert.  — 
Ich  musste  mich  begnügen,  das  auf  sieben  Expeditionen  im  kaukasischen 
Hochgebirge,  oft  unter  grossen  Entbehrungen,  Mühen  und  Gefahren  Ge- 
sehene und  Erforschte  in  Wort  und  Bild  nach  meinem  besten  Können  in 
den  folgenden  ISlättern  zu  bieten,  und  erfülle  eine  Ehrenpflicht  gegen- 
über meinen  Reisegefährten,  die  mich  auf  vier  Expeditionen  begleiteten, 
indem  ich  auch  die  Resultate  ihrer  Forschungen  der  Oeffentlichkeit  übergebe. 

—     IX    — 


VORNV(  )KT. 

So,  wie  ich  wührend  ineiner  Reisen  der  photographischen  Aufnahme 
tler  (.lurchwanderten  Landschatten  das  yrösste  Gewicht  beilegte,  habe  ich 
auch  bei  der  Veröffentlichung  ihrer  Schilderung  der  bildlichen  Darstellung 
die  vollste  Aufmerksamkeit  geschenkt,  und  so,  wie  ich  in  der  Photographie 
das  beste  Hilfsmittel  zur  treuen  Wiedergabe  der  Physiognomie  und  des 
Reliefs  der  Naturformen  erblicke,  wurde  auch  bei  der  Reproduktion  meiner 
Aufnahmen  nur  die  photographische  Methode  angewandt.  Ich  war  bestrebt 
in  dem  ausgedehnten  Ciebiete  des  kaukasischen  Hochgebirges  den  typischen 
Charakter  seiner  Oberflächengestaltung  vom  Standpunkte  des  Physio- 
geographen  zu  erfassen  und  bildlich  darzustellen.  Gaben  die  Aufnahmen  während 
meiner  früheren  Reisen  die  ersten  systematisch  aufgenommenen  Bilder  der 
Gletscherwelt  des  zentralen  Kaukasus,  so  trachtete  ich,  durch  ihre  Ergänzung 
aus  den  Hauptgebieten  der  östlichen  und  westlichen  Teile  zum  ersten 
Male  eine  bildliche  Darstellung  dieses  mächtigen  Gebirgss)stenis  in  seiner 
ganzen   Ausdehnung  zu   bieten. 

Auch  die  beigegebene  Karte,  die  auf  Grund  des  gesamten  vor- 
handenen Materials  ein  kartographisches  Bild  des  Kaukasus  geben  soll,  ist 
die  erste,  das  ganze  kaukasische  Hochgebirge  einschliessende  Karte  in 
grösserm  Massstabe ,  welche  in  nicht  russischer  Sprache  erschienen  ist. 
Ich  glaube  damit  einem  wirklichen  Bedürfnisse  entsprochen  zu  haben, 
in  einer  Zeit,  in  welcher  die  Erschliessung  des  kaukasischen  Hoch- 
gebirges stetig  fortschreitet  und  damit  auch  das  Interesse  für  dasselbe 
steigern   dürfte. 

In  der  Schreibweise  kaukasischer  Namen  habe  ich  diese  mit  den 
Hilfsmitteln  der  deutschen  Sprache  wiedergegeben,  ohne  zu  konventionellen 
Zeichen  Zuflucht  zu  nehmen,  deren  vorhergehendes  Studium  vom  Leser 
kaum  gefordert  werden  kann.  Manche,  vielleicht  unrichtige,  .Schreibweise 
hat  sich  soweit  eingebürgert,  dass  ich  sie,  selbst  auf  die  Gefahr  der 
Inkonsequenz  hin,  belassen  habe.  Dies  gilt  auch  von  der  Bildung  der 
deutschen  ethnographischen  Bezeichnungen  und  der  Namen  für  die 
kaukasischen  Volksstämme.  In  vielen  Phallen  habe  ich  mich  von  meinen 
an  Ort  und  Stelle  gemachten  Aufzeichnungen,  die  der  Aussisrache  der 
Eingeborenen   folgten,  leiten  lassen. 

jetzt,  da  alles  Erschaute  und  Erlebte,  Arbeiten  und  Genüsse  zum 
Teil  längst  vergangener  Tage  wieder  an  mir  vorüberziehen  und  sich  zu 
einer  strahlenden  Erinnerung  an  die  kaukasischen  Berge  vereinigen,  mit 
denen  mich  unauslöschliche  Liebe  verbindet,  danke  ich  allen,  die  mich  in 
meinen   Bestrebuneen   mit   Rat   und   Tat   unterstützt  haben. 


Vorwort. 

lihrrurchtsvollen  Dank  sage  ich  Sr.  K.  Hoheit  dem  Grossfürsten 
Alexander  Michailowitsch,  dem  Präsidenten  der  Kais.  russ.  geographischen, 
Gesellschaft  für  das  gnädige  Interesse  und  die  Anerkennung,  die  Hochder- 
selbe  meinen  Reisen  und  Arbeiten  zuteil  werden  Hess. 

Unterstützung  und  Förderung  meiner  Reisezwecke  üuid  ich  bei  den 
Kais.  russ.  Ministerien  in  .St.  Petersburg  und  bei  den  Kais.  russ.  Behörden 
in  Kaukasien,  und  es  ist  mir  eine  Ehrenpflicht,  dessen  hier  dankend  zu  ge- 
denken. Tiefsten  Dank  schulde  ich  auch  dem  Herrn  Generalleutnant 
Kulberg,  dem  Chef  des  militär-topographischen  Bureaus  in  Tiflis,  für  die 
gütige  Ueberlassung  der  noch  unveröffentlichen  Messtisch-Aufnahmen,  eine 
schöne  Förderung  wissenschaftlicher  Bestrebungen;  ferner  dem  k.  u.  k. 
Ministerium  des  Aeussern  und  den  Herren  Botschaftern  Sr.  k.  u.  k.  apost. 
Majestät  in  Petersburg,  I.  I.  E.  E.  Grafen  von  Wolkenstein-Trostl)urg, 
Prinzen  Franz  Liechtenstein  und  Baron  P'eli.x  Aehrenthal-Lexa  für  die 
wirksame  funführung  bei  den  Kaiserlich  russischen  Behörden.  Prinz  Liech- 
tenstein hat  auch  später  noch,  mit  seinem  warmen  Interesse  für  alles 
Schöne  und  Gute,  für  jede  Betätigung  männlicher  Tatkraft,  den  lebhaftesten 
Anteil   an   meinen   Reisen   genommen. 

Besten  Dank  sage  ich  meinen  verehrten  Freunden,  D.  W.  PVeshfield, 
Dr.  Gottfried  Merzbacher  und  Vittorio  Sella,  die  mit  mir  zusammen  immer 
bestrebt  waren,  die  Erforschung  des  kaukasischen  Hochgebirges  zu  fördern 
und  mich  auch  bei  der  Veröffentlichung  dieses  Buches  mit  ihrem  reichen 
Wissen   unterstützt  haben.") 

Worte  des  Dankes  gebühren  meinen  Reisegefährten  und  meinen 
Mitarbeitern,  denen  ja  überdies  die  Würdigung  für  das  von  ihnen  Geleistete 
seitens  der  hierzu  ISerufenen  nicht  fehlen  wird.  Dankend  will  ich  auch 
der  Mühe  und  .Sorgfalt  gedenken,  mit  welcher  der  Verleger,  Herr  Konsul 
Vohsen,  bestrebt  war,  meinen  WHinschen  und  Anregungen,  insbesondere 
betreffs  Ausstattung  des  Werkes,   nachzukommen. 

W^enn  ich  jetzt  dieses  Buch  dem  deutschen  Leser  übergebe,  will  ich  mit 
den  Worten  eines  grossen  deutschen  Naturforschers,  Alexander  von  Humboldt, 
schliessen.  Wie  Humboldt  in  der  Einleitung  zu  seinem  Monumentalwerke,  dem 
Kosmos,  ausruft:  »Stolz  auf  das  Vaterland,  dessen  intellektuelle  Einheit  die  feste 
Stütze  jeder  Kraftäusserung  ist«,  möchte  auch  ich  das  alte  »patriae  Caritas, 
oniniae  Caritas  superat«    voranschicken,   aber  indem   ich  mich  zur  Schilderung 


■■■■)  Herrn  Vittorio  Sella  verdanke  ich  die  Vorlagen  zu  mehreren  Textillustrationen,  Herrn 
Dr.  W.  Freshtield  die  Benutzung  seiner  Tagebuchnotizen  bei  der  Schilderung  der  gemeinsam  aus- 
geführten Reise,  und  Herrn  Gottfr.  Merzbacher  zwei  nach  Zeichnungen  gefertigte  Klischees. 

—      XI     — 


Vorwort. 

meiner  Reisen  der  deutschen  Sprache  bediente,  auch  Humboldts  Worte,  die  er 
den  obigen  anfügte,  wiederholen:  »Hochbeglückt  dürfen  wir  den  nennen, 
der  bei  der  lebendigen  Darstellung  der  Phänomene  des  Weltalls  aus  den 
Tiefen  einer  Sprache  schöpfen  kann,  welche  seit  Jahrhunderten  so  mächtig 
auf  alles  eingewirkt  hat,  was  durch  Erhöhung  und  ungebundene  Anwendung 
geistiger  Kräfte,  in  dem  Gebiete  schöpferischer  Phantasie,  wie  in  dem  der 
ergründeten  Vernunft,  die  Schicksale  der  Menschheit  bewegt.« 

Budapest,   4.   November    1905. 

M.  V.  Dechy. 


Inhalts-Verzeiehnis  des  ersten  Bandes. 


Vorwort \II-XII 

Verzeichnis  der  Abbildungen   des  ersten  Bandes XXIII— XXVII 

Verzeichnis  der  Abkürzungen XXVII 

Einleitung i— 6 

Der  Kaukasus  in  Sage  und  Geschichte.  Unwegsamkeit  des  kauka- 
sischen Hochgebirges.  Gemisch  von  Völkern  und  Sprachen.  Einfluss  der 
geographischen  Faktoren  auf  die  historischen  Begebenheiten.  Die  russische 
Herrschaft.  Beginn  der  wissenschaftlichen  Erforschung.  Abich  und  Radde. 
Die  Hochregionen  setzen  der  Forschungstätigkeit  eine  Grenze.  Freshfield 
und  Genossen  die  ersten,  die  in  die  eisige  Hochregion  eindringen.  Fort- 
bestehen der  irrigen  Vorstellungen  über  die  physische  Geographie  der 
Hochregion.  Das  kaukasische  Hochgebirge  ein  dankbares  Feld  für  geogra- 
phische Forschung.  Die  Bezeichnung  Kaukasus  sollte  nur  auf  das  Gebirge 
bezogen  werden.  Ciskaukasien  und  Transkaukasien.  Die  topographischen 
\'erhältnisse  des  Kaukasus  und  sein  orographischer  Aufbau.  Einteilung 
in  Westlicher,  Zentraler  und  Oestlicher  Kaukasus. 

I.  Kapitel.     Nach    dem    Kaukasus.     Erste   Reise 7^1? 

Von  Budapest  nach  Odessa  und  über  das  Schwarze  Meer  nach  der 
Krim.  Die  Südküste  mit  Sewastopol  und  JaUa.  Feodossia,  das  Kafla 
der  Genuesen.  Kertsch  mit  dem  Berge  von  Mithridates.  Das  Meer  von 
Asow.  Rostow  am  Don.  Bahnfahrt  bis  Wladikawkas.  Die  Kette  des 
Kaukasus  erscheint  am  Horizont  mit  Elbruss,  dem  höchsten  Gipfel.  Die 
Terekebene  im  Norden  des  zentralen  Kaukasus.  Das  Talbecken  von 
Wladikawkas.  Vorbereitungen  für  die  Bergreise  in  Wladikawkas.  Berg- 
führer aus  den  Alpen  im  Kaukasus.  Alexander  Burgener  und  Peter  Ruppen 
aus  dem  Wallis  (Schweiz).  Die  offene  Order  der  russischen  Regierung. 
Der  Dolmetscher,  Herr  Staatsrat  Gymnasiallehrer  Dolbischew.  Die  Reise- 
ausrüstung. Die  wissenschafdichen  Instrumente.  Der  zentrale  Kaukasus 
mein  Reisegebiet. 

II.  Kapitel.     Von    Wladikawkas    in    die   Gruppe    des   Adai-Choch    .  18—31 

Ueber  die  Tereksteppe  querfeldein  nach  Alagir.  Troika  und  Telega. 
Der  Ardon.  Heilige  Haine  bei  den  Ossen.  Das  Nachtquartier  in  Alagir. 
Schwierigkeiten,  Telegen  für  die  Weiterfahrt  zu  erhalten.  Die  Geduldfrage 
im  Kaukasus.  Vorgebirgslandschaft.  Die  Schluchten  des  Ardontales. 
Geologisches.  Wachttürme  und  alte  Befestigungen.  Der  Aul  Nusal. 
Der  Fahrweg  hört  auf;  das  Gepäck  wird  auf  Tragtiere  geladen.  Die 
Tahveitung     bei    St.  Nicolai.       Ein     ideales    Standquartier     im    zentralen 

—     XIII     — 


Ixiialts-Vekzhichnis  des  ersten  Bandes. 

Seite 

Kaukasus.  Durch  das  Zejatal.  Im  gletscherreichen  Talhintergrund  erscheint 
der  4647  m  hohe  Gipfel  des  Adai-Choch.  Aul  Zei.  Die  Dorfbewohner. 
Mittagsrast  im  Buchenwald.  Duftender  Blülenflor  der  Alpenmatten. 
Rhododendron  caucasicum,  die  Alpenrose  des  Kaukasus  Die  Kapelle 
Rekom,  ein  ossetisches  Heiligtum.  Die  Talstufe  von  Rekom  ein  entleertes 
Seebecken.  Nadelwald.  Geröllboden.  Der  Zei-Gletscher.  Das  erste  Zelt- 
lager. Schaschlik.  Photographische  Arbeiten.  Die  Burka,  der  Wetter- 
mantel der  Einy^eborenen. 

III.  Kapitel.     Die   Ersteigung   des   Adai-Choch 32—45 

Schönes  Wetter  veranlasst,  sofort  den  Versuch  zur  Ersteigung  des 
Adai-Choch  zu  wagen.  Ein  hohes  Freilager  in  der  Schneeregion  wird 
geplant.  Nur  die  notwendigste  Ausrüstung  wird  mitgenommen.  Reiche 
Vegetation  am  Gletscherrande.  Die  eingeborenen  Träger  kehren  vom 
Fusse  des  Gletschersturzes  zurück.  In  den  Seracs.  Schwierige  Ueber- 
windung  des  Eisfalles.  In  3300  m  Höhe  wird  auf  abschüssigen  Felsen 
das  Biwak  bezogen.  Ausblick  auf  die  nördlichen  Vorketten.  Armseliger 
Proviant.  Kaltes,  hartes  Lager.  Später  Aufbruch.  Durch  ein  Couloir 
zum  Gipfelgrat.  Ueber  diesen  zur  ersten  Höhe  auf  dem  obersten  Kamm. 
Ermüdung.  Schwierige  Kletterei  über  die  aus  dem  Firngrate  aufragenden 
Felstürme.  Traversieren  an  den  Nordwestabhängen  des  Gipfels.  Die 
höchste  Spitze  des  Adai-Choch  erreicht.  Aussicht.  Gipfclgestein.  Unfall 
beim  .\bstieg  durch  die  Schneerinne.  Im  Biwak  alles  durch  Schmelz- 
wasser durchnässt.  Unwetter.  Schlechte  Nacht.  Veränderte  Route  im 
Abstieg,  um  dem  Eisfall  auszuweichen.  Irrfahrten  in  der  Schneewüste. 
Roter  Schnee.  Burgener  und  sein  Revolver.  Zusammentreffen  mit  den 
Eingeborenen,  welche  Proviant  heraufbringen.  Der  Brief  Dolbischews. 
Wieder  im  Zeltlager.     Rückweg  nach  St.  Nicolai. 

IV.  Kapitel.     Aus    dem   Ardontal   zum    Uruch 46—59 

Das  Seitental  des  Ssadon.  Bergwerk  Ssadon.  Das  Volk  der  Ossen. 
Nach  Kamunta.  Oede  Steinschluchten.  Die  Jurakalkkette.  Der  Kamunta- 
sattel.  Bauart  des  Dorfes  Kamunta.  Fremdartige  Landschaft.  Die 
Nekropole  von  Kamunta.  Schwierigkeit,  die  Eingeborenen  zu  bewegen,  der 
von  mir  geplanten  Wegrichtung  zu  folgen.  Es  ist  undurchführbar,  im 
Kaukasus  von  bewohnten  Orten  früh  aufzubrechen.  Heisser  Anstieg. 
Gletscher  und  Gipfel  im  Skattikomtale.  Schwieriges  Uebersetzen  kau- 
kasischer Bäche.  Die  reitende  Photographie.  Der  Gular-Pass.  Nachtlager 
beim  Dorfe  Gular.  Aul  Dsinago.  Blick  auf  den  Karagom-Gletscher. 
Styr-Digor,  der  Hauptort  des  Uruch-Tales.  Die  Digoiier.  Unser  Gastwirt 
Karagubajew.  Ein  kaukasisches  Diner.  Belästigende  Neugierde  der 
kaukasischen  Bergbewohner.  Das  Hochgebirge  im  Hintergrunde  von 
Styr-Digor.  Der  Gletscher-Zirkus  des  Taimasivcek.  Das  Quellgebiet  des 
Uruch  ist  ein  Längental.  Der  LJruch  tost  durch  eine  tiefe  Erosionskluft. 
Nachtlager  auf  einer  Wiese  im  oberen  LIruchtal. 

V.  Kapitel.     Aus    dem    Uruchtal    nach   Baikar 60—77 

W.mdcrung  durch  U.is  baumlose  Hochtal  drs  Uruch.  Diu  Tcirassen- 
.-itufcn  im  Charwcss-T.de.  Schwieriger  Anstieg  für  die  La>tpfcrde.  Sturz 
eines  Pferdes.  Das  Gepäck  wird  eine  Strecke  weit  getragen.  .\uf  der 
Höhe  des  Bergrückens.  .Anblick  der  im  Norden  liegenden  Ssugankette 
und  der  Laboda.      In  der  Ferne  Adai-Choch.     Nachtlager  auf  dem   Hoch- 

—     XIV     — 


Inhalts -Verzeichnis  ijes  ersten  Bandes. 

Seite 

platcau.  Wäsciie  am  liach.  Frugales  Abrndfsscn.  Unzufriedenheit 
uicincr  lit-j^lcitci".  Am  Sclitüli\cclc-FaÄS.  Aussicht  auf  die  Granitriesen 
des  zentralen  Kaukasus.  Unsicherheit  der  Nomenklatur.  .Abstieg  ins 
oberste  Tscherektal.  Eisenhaltige  Quellen.  Selitulu-  und  Fytnargin- 
Gletscher.  Lager  am  Wachtposten  Karaul  in  Baikar.  Verstiegen  in 
der  Dychssu-Schlucht.  Der  Dychssu-Gletscher  und  seine  Umrandung. 
Erpressungsversuch  der  Pferdetreiber  aus  Kamimta.  Pferdediebstähle  im 
Kaukasus.  Schöne  Alpcnszenerien.  später  durch  einförmige  Landschaft 
nach  .A-ul  Kunnym  in  Balkarien.  Die  Bauart  der  Dörfer  bei  den  Berg- 
tataren. FZinun.  Gemischte  Gesellschaft  in  unserm  Schlafsalon.  Die 
Bergbewohner  der  Täler  des  Tscherek,  Tschegem  und  Bakssan.  Die 
Schluchten   des  Tscherek. 

\'I.  Kapitel.     Von    Baikar   in    das    Hochgebirge    von   Besingi   .     .     .  7S-91 

Uebergang  \on  Balk.u-  in  d.is  T.il  von  Besingi  lUru-an".  Bcgriissung 
im  Au\  Tubenel.  Der  Fürst  von  Besingi  und  seine  Gasthütte.  Fürst 
Hamsat  Urussbiew,  mein  Begleiter  in  den  Tälern  der  mohammedanischen 
Bergtataren.  Heimkehr  des  Herrn  Dolbischew.  Zum  Besingi-Gletscher. 
Der  grösste  Gletscher  des  Kaukasus.  Die  Entdeckung  des  grossen 
Midschirgi-Gletschers.  Eindringen  in  seine  Firnregion.  Seine  Umrandung. 
Moränen  im  Kaukasus.  Schwierigkeiten,  mit  Worten  ein  treffendes  Bild 
dieser  Erscheinungen  zu  geben.  Mein  schönster  Erfolg  liegt  in  den 
photographischen  Aufnahmen,  die  ersten  aus  dieser  Gletscherwelt.  Wider- 
legung der  bis  damals  geltenden  irrigen  Angaben  über  die  physische 
Natur  und  das  Gletscherphänomen  im  kaukasischen  Hochgebirge.  Koschtan- 
T.m  imd  Dych-Tau.  Unmöglichkeit,  diese  Gipfel  zu  identifizieren.  Lager- 
leben im  Besingi-Tal.  Festgelage.  Schlechtes  Wetter.  Rückkehr  nach 
Besingi  und  Weiterreise  Elbrusswärts.    .Abschied  \om  Fürsten  von  Besingi. 

VII.  Kapitel.     Von   Besingi    nach   Tschegem    und    zu    den    Quellen 

des   Bakssan 92—105 

Passübergang  von  Besingi  nach  Tschegem.  Fremdartige  Landschaft  in 
Tschegem.  Die  Schlucht  des  Dschilki-Ssu.  Beim  Fürsten  von  Tschegem. 
Tracht  der  Bergtatarinnen.  Das  Mittelgebirge  zwischen  den  Tälern  des 
Tschegem  und  Bakssan.  Lager  im  Gestendi-Tal.  Das  Bakssantal.  Aul 
Urussbieh.  Im  Hintergrunde  das  Massiv  des  Dongusorun.  Emjjfang  beim 
Fürsten  Ismael  LTrussbiew.  Der  Begrifl"  des  Wertes  der  Zeit  fehlt  den 
Kaukasiern.  Der  Kaukasus  ist  arm  an  Wasserfällen.  Der  F.ill  des 
Ssultrau-Ssu  bei  Urussbieh.  Unser  Quartier  in  Urussbieh.  Die  Bergtataren 
\on  Urussbieh.  Nach  dem  obersten  Bakssantal.  Grosse  Kavalkade,  die 
mit  uns  zum  Fuss  der  (;ietscher  zielit.  Schöne  L.indschaftsbilder  im 
oberen  Bakssan-Tal.  Die  Seitentäler  des  Bakssan.  .Auf  der  obersten 
Talstufc.  Uebcr  der  N.idel-Waldung,  welche  das  Gehänge  und  den  Tal- 
boden bedeckt,  erscheinen  der  .Asau-tiietschcr  und  seine  Umrandung. 
Lager  beim  Kosch-.Asau. 

VIII.  Kapitel.     Elbruss,   der  Minghi-Tau  der  Kaukasier       ....      106-  116 

.•\m  Fusse  des  Klbruss.  Föhnuetter.  Die  Tersskol-Schluelit.  .Anblick 
des  Elbruss.  Topographisches  und  Geologisches.  Minghi-T.ui,  der  Name 
des  Bergvolkes  die  richtige  Bezeichnung.  Der  Elbruss  war  den  alten 
Völkern    heilig.      Die  Familie  Noah    die    ersten   Besteiger.      \'ersuclie    zur 

—      .XV      — 


Imialts-Vkrzkiciims  des  ersten  Haxues. 

Seile 
Ersteigung  des  Gipfels.  Die  nissisclie  Expedition  von  1829.  Der  Veisucli 
Raddes.  Freslifield  und  seine  Gefälirten  erstiegen  I  868  den  zweithöclisten 
südöstliclien  Gipfel,  Grove  und  seine  Gefährten  1874  den  nordwestlichen 
höchsten  Gipfel.  Langandauemdes  schlechtes  Wetter.  Die  guten  und 
bösen  (Geister  des  Elbruss.  Unangenehme  zoologische  Entdeckung.  Mangel 
an  Proviant.  Jagd.  Der  Steinbock,  die  Boarzieg-e  und  die  Gemse  des 
Kaukasus.      \'orbereitungen   zum  .■Aufbruch. 

IX.  Kapitel.     Ersteigung   des   Elbruss    (Minghi-Tau) 117—129 

Durch  die  Tersskolschlucln.  Anblick  eines  Teilstückes  der  Haupt- 
kette. Biwak  am  Rande  des  Firnplatcaus  des  Elbruss  in  3600  m  Höhe. 
Das  Wetter  \'erschlimmert  sich.  Stirrm,  Hagel  und  Regen.  Am  Morgen 
bessert  sich  das  Wetter.  Entschluss,  die  Ersteigung  zu  unternehmen. 
.Später  .Aufbruch.  Der  Turjäger  Molley  Tirbolas.  Längsspalten  am  Firn- 
feld. Aussicht  vom  Firnplateau  auf  die  Hauptkette.  Das  Wetter  wird 
wieder  schlechter.  Ermüdender  Anstieg'  im  tiefen  Schnee.  Der  Sattel 
zwischen  beiden  Gipfeln  ist  kein  alter  Krater.  Felsdurchbrochenes  Firn- 
gehänge. Die  oberste  Kraterwand.  Um  6  Uhr  des  23.  .August  wird  der 
höchste  Gipfel  des  Elbruss  erreicht.  Persönliches  Empfinden.  Polar- 
landschaft. Späte  Stunde.  Kälte.  Gipfelgestein.  Fluchtartiger  Abstieg. 
Vereister  Firnhang.  Gefährliche  Situation.  Stundenlanges  Stufenhauen  im 
Eis  in  finsterer  Nacht.  Ork.m  und  Kälte,  Sturm.  Das  kleine  Pelzjäckchen 
Mohammeds.  Um  2  Uhr  morgens  im  Biwak.  Freudige  Begrüssung 
durch  die  Eingeborenen.  Ueber  die  Ersteigung  des  Elbruss.  Einwirkung 
der  verdünnten  Luft.  Bergkrankheit.  Frostschäden.  Einzug  in  Urussbieh. 
Allah   il  Allah   lllaha   . 

X.  Kapitel.     Aus    dem    Hakssantale    iiber    den    Betscho-Pass    nach 

Swanetien 130—146 

I'hm.  die  H.uiptkette  auf  einem  Ciletscherpass  n.ich  Swanetien  zu 
übersclireiten.  Wer  Tage  in  L'russbieh  festgehalten.  .Mangel  an  den 
notwendigsten  Lebensmitteln.  .Al:)schied  \on  den  Urussbiehfürsten.  Swanen 
als  Träger.  Nachtlag^er  im  Jussengi-Tal.  Burgener  krank.  Der  Erfolg 
meiner  .Apotheke.  Der  Jussengi-Gletscher.  Der  Betscho-Pass.  Herrliche 
.Aussicht.  .Anblick  der  Elbrussgipfel.  Eine  neue  Bergwelt  im  Süden. 
Abstieg  in  das  Tal  des  Dolratschala.  Kaukasische  Grössenverhältnisse. 
Schwieriges  Liebersetzen  der  Bäche  \-om  Uschba- Gletscher.  Nachtlager 
im  Walde  des  Dolratales.  Blick  durch  das  mondbeleuchtete  Tal.  Empfang- 
in Maseri  beim  Fürsten  Dadischkilian.  In  Betscho.  Uschba.  .Aufbau  des 
kaukasischen  Matterhorns.  .Schlechtes  Wetter.  Burgener  dringt  auf  Heim- 
reise. Durcli  das  Tal  der  Mulchara  nach  Muschal.  Swanetische  Tal- 
landschaft. .Abends  beim  Priester  von  Muschal.  L'eber  den  Ugür-Pass 
zum  Hauptquellfluss  des  Ingur.  Rückblick  auf  das  Mulchara-Tal. 
.\nblick    der  Tetnuld-Gruppc.      Nachtlager    in   2450   m   Höhe.      Schneefall. 

XI.  Kapitel.     Swanetien,   und    itber   den  Latpari-Pass    ins   Riontal      147  -160 

Die  orographi-clien  \'erhältnisse  Swanetiens.  Die  Längenhoch- 
täler des  Ingur,  Zchenis-Zchali  und  Rion.  Das  Kesseltal  des  Ingur.  Nur 
ein  einziger,  während  eines  Teiles  des  Jahres  für  Saumtiere  gangbarer 
Weg  in  das  Tal:  der  Latpari-Pass.  Das  \'olk  der  Swanen.  Freies 
Swanetien     und     Dadischkilianisches    Swanetien.       Das    Dadischkilianische 

—      .XVI      — 


Inhalts-Vkrzkichms  des  ersten  Baxues. 

Seile 

Swancticn  im  obersten  T.ile  des  /^ehenis-Zeliiili.  Aufstieg  zum  Latpari- 
Pa?s.  Panorama  der  kaukasischen  Hauptkette.  Der  Latjjari-Pass,  die 
Touristen-Route  der  Zukunft.  Reiche  Entwicklung  der  suljalpinen  Wiesen- 
flora. Die  Dorfgenossenschaft  Tscholur.  Im  Tale  des  Zchenis-Zchali. 
Nachtlager  auf  Alpenmatten  am  Rande  des  Waldes.  Ueppige  Vegetation 
der  südlichen  Kaukasustälcr.  Die  Ikirg  der  Dadianfürsten  am  Zchenis- 
Zchali.  Engschlucht  von  Muri.  Zageri.  \\'i(>der  in  europäischer 
Zivilisation.  Weiterreise.  Die  Schluchten  des  Ladschanuri.  Um 
Mitternacht  ist  Alpana,  die  Fahrstrasse  erreicht.  Den  Rion  entlang  nach 
Kutais.  Die  subtropische  Flora  des  imteren  Riontales.  Nach  dem  wald- 
reichen Suramgebirge  folgt  jenseits  die  steinige  sonnenverbrannte  Kur- 
landschaft. Tiflis.  Ueber  die  grusinisclie  Heerstrasse  im  Regen  nach 
Wladikawkas.   Heimkehr. 

XII.  Kapitel.     Das    obere   Ardontal,    der    Mamisson-Pass    und    das 
östliche  Ouellgebiet  des  Rion.     Zweite  Reise i6i  — 173 

Der  Botaniker  Prof.  Lojka  mein  Reisegefährte.  Reiseausrijstung. 
Aufenthalt  in  der  Krim.  Beobachtungen  und  Messungen  am  Zei-Gletsche ". 
Botanische  Sammlungen.  Die  Kassara-Schlucht.  Der  Ardon  durchbricht 
die  Fortsetzung  des  granitischen  Hauptkammes,  welcher  aufhört,  Wasser- 
scheide zu  sein.  Durch  das  Ardon-Hochtal.  Alte  Gletscherspuren.  Das 
Quellgebiet  des  Ardon.  Der  Mamisson-Pass.  Bis  zu  den  Kubanquelle:' 
keine  Einsattlung  im  Hauptkamm,  die  unter  3000  m  sinkt  und  schneefrei 
ist.  Ueppige  Vegetation  und  Wald  im  ösdichen  Quellgebiet  des  Rion. 
Riesenstaudenflora.  Ranunculus  Lojkae  S.  et  L.  n.  sp.  Lager  bei  Gurschewi. 
Aussicht  vom  Rhododendronhügel,  Vorgipfel  des  Kozi-Choch.  Lojka  er- 
krankt. Rückweg  über  den  Mamisson-Pass.  Panorama  der  kaukasischen 
Hauptkette  von  den  Höhen  oberhalb  des  Mamisson-Passes.  Tschantschachi- 
Choch  der  Eiger  der  Gruppe.  Gedanken  über  die  fortschreitende  Kenntnis 
und  die  Erschliessung  des   Kaukasus.      Der  Kaukasus  playground  Europas. 

XIII.  Kapitel.     Durch    die  Kabarda    und    das  Bakssan-Tal    zu    den 
Gletschern  am  Südfusse  des  Elbruss 174—183 

Die  Ortschaft  Naltschik  am  Nordfusse  des  zentralen  Kaukasus. 
Die  Kabarda  und  ihre  Bewohner.  Durch  die  Steppe  der  Kabarda  nach 
Ataschukin.  Sturz  der  Telega.  Gastfreundlicher  Empfang  beim  Fürsten 
von  Ataschukin.  Einförmig'e  Landschaft  im  unteren  Bakssan-Tal.  Die 
geologischen  Formationen  im  Bakssan-Tale.  Zu  den  Bakss.m-QucUen. 
Beobachtungen  und  Sammlungen  am  Tersskol-  und  .\sau-(jletscher.  Neue 
Arten  \on  Phanerogamen  und  Cryptogamen.  Werbung  von  Swanen  als 
Träger  für  den  geplanten  Uebergang  nach  dem  .Süden  der  Hauptkette. 
Rustem   Chan,   der  Knjas  aus  Swanetien  begleitet   uns. 

XIV.  KaiMtc!.     Ueber   Gletscherpässe    nach   Swanetien    (Dschiper- 

Pass  und  Bassa-Pass) 184—198 

Reise  ins  Unbekannte.  Topographische  Rätsel.  Die  P'irnregion  des 
Asau-Gletschers  terra  incognita.  Szenerien  am  Asaugletscher.  Nachtlager 
in  Kosch-Ismael.  Anblick  der  Elbrussgipfel.  Photographische  Aufnahmen. 
Botanisches,  Saxifraga  scleropoda  S.  et  L.  n.  sp.  Aufschlagen  des  Lagers. 
Kalte  Nacht.  Anstieg  über  den  Dschiper  -  Gletscher.  Firnlinic.  Am 
Dschiper-Pass.    Rundschau.     Nivale  Flora  an  den  Felsen  der  Passumgebung. 

—      XVU      — 


iN'IIALTS-VERZlilCIlMS    DES    ERSTEN    BANDES. 

Seite 
Die  toiJo^raphisclien  V'crhältnisso  des  Gebietes.  Uer  Ncnskra-Gletsclier. 
Ueppige  liohe  Vegetation  im  Nenskra-Tale.  lirucli  des  Quccksiljjer- 
Baronieters.  Stechfliegen  und  Mücken.  Biuak  an  der  linken  Talwand. 
Wichtigkeit  hoher  Biwaks  bei  Bergfahrten  im  Kaukasus.  Schlechtes 
Wetter.  Ueber  den  Bassa-Pass.  Abstieg  ins  Nakra-Tal.  Keine  Gletscher- 
bildungen an  der  Ostseite  des  Ueberganges.  Lager  im  Nakra-Tal.  Das 
Gebiet  des  Dongusorun-Passes  im  Norden.  Zoologische  Forschungs- 
expeditionen des  Knjas  Rustem  Chan.  Riesenstaudenflora.  Ueber  einen 
Scheiderücken  zum  Ingiu'.  Blick  auf  das  Tal  und  seine  Höhen.  In 
-Swanctien. 

X\'.  Kapitel.     Wanderungen  in  Swanetien 199— 212 

Nachtlager  in  T.iur.ir.  Zudringliche  Neugierde  der  Dorfbewohner, 
Pferde  sind  in  Taurar  und  P.iri  nur  nach  stundenlangem  Warten  unter 
grossem  Lärm  und  Streiten  der  Eingeborenen  erhältlich.  Durch  das 
Ingurtal  über  Pari  nach  Ezeri.  Bei  dem  Fürsten  Dadischkilian  in  Ezeri. 
In  Betscho.  Eintreffen  des  Gouverneurs  von  Kutais.  Festgelage  in  Betscho. 
Der  Tolombasch.  Russische  Kolonisationspolitik.  Wechselnde  Ansichten 
des  LJschbagipfels.  Ins  Mulchara-Tal.  Die  swanetische  Tallandschaft. 
Tetnuld  erhebt  sich  im  Osten.  Kämjife  mit  den  Pferdetreibern  in  Mestia. 
Nachtquartier  in  der  Kanzellaria  von  Mulach.  Ausblicke  vom  Wege  nach 
Adisch.  L'schb.i  und  Tschatuin-TcUi.  DorfAdisch.  Zinn  Adisch-Gletscher. 
Der  Eisfall  hat  seinesgleichen  niclit  in  den  .Alpen.  Gletscherbeobachtungen. 
Alpine  Flora.  \'erbascum  Dechyanum  S.  et  L.  nov.  sp.  .\ussicht  vom 
Bergrücken  zwischen  .Adisch  und  Chalde.  Das  Chalde-Tal  und  die  Quell- 
schlucht des  Ingur.  Der  Chalde-Gletscher.  Rückkehr  nach  Muschal. 
Beim   Geistlichen   Margiani. 

XVI.  KapiteL     Von    Swanetien    ijber    den    Twiber-Pas.s    nach    dem 
Tschegem-Tale 213  —  225 

Die  L'eberschreitung  der  Haujitkette  wird  über  den  Twiber-Pass 
geplant.  Erster  Versuch.  Das  Mulchara-Tal  ist  ein  reiches  erratisches 
Terrain.  Elendes  Nachtlager  am  Fusse  des  Twibcr-Gletschers.  \'om 
Regen  zurückgetrieben.  Die  Swanen  weigern  sich,  den  Twiber-Pass  zu 
überschreiten.  Nach  langwierigen  Verhandlungen  mit  zehn  .Swanen  ziun 
zweiten  Male  im  Biwak.  Der  Twiber-Gletscher  und  seine  Zuflüsse.  .Aus- 
gedehnte Firnregion.  Im  Firnbecken  des  Dsinal-Gletschers.  Anstieg  in 
die  .Schnccwüstc.  Der  Twiber-Pass.  Aussicht  vom  Bodorku-Grate.  Der 
Gipfel  des  Tischtengen.  Blütenpflanzen  in  der  Schneeregion.  \'eronica 
glareosa  S.  et  L.  nov.  sp.  Abstieg  über  den  Kulak-Gletscher.  Lager  an 
den  Quellen  des  Kara-.Ssu.  Gegensätze  der  L.nidschaftsformen  in  der 
Firnregion  und   in   den  Talgründen. 

XVII.  KapiteL    Da.s  Ouellgebiet  des  Tschege  m-Tales,  in  die  Firn- 

region  des  Besi ngi-Gletschers  und  nach  Transkaukasien  .  226-241 
Die  imgrk.inntcn  Gletscherlandscliaften  im  Quellgebiete  des  Tschegem- 
Tales.  Schaurtu-  und  Tjutjurgu-Gletscher  mit  der  Saluinan-Kctte.  Ein- 
förmige Landschaft  im  mittleren  Tschegem-Tale.  In  Tschegem  bei  Fürst 
Beg-Mursa-Malkaruko.  Spätes  Nachtessen  bei  kaukasischen  Gastfreunden. 
Ueber  den  Tschegem-Besingi-Sattel.  Calamintha  caucasica  S.  et  L.  no\'.  sji. 
In  die  Firnregion  des  Besingi-Gletschers,  das  .Allerheiligste  der  kaukasischen 

—      Will      — 


Inhalts -Verzeichnis  des  ersten  Bandes. 

Seite 

Hochgebirgswplt.  Allrin  in  der  Eiswelt  des  Besingi-GIetschers.  Anblick 
von  Dych-Taii.  Kni[)or  in  die  Region  ewigen  Schnees.  Der  Eiswall  von 
der  Gestola  bis  zur  Schchara.  Die  Schlucht  des  Besingi-Tscherek.  Durch 
die  Vorberge  nach  Naltschik.  Wald.  Voralpenlandschaft.  Von  Naltschik 
nach  Wladikawkas.  Ueber  die  grusinische  Heerstrasse.  Das  Dairel-Defile. 
Die  Tamara-Burg.  Das  Dariel-Defile  war  keine  Strasse  für  Völker- 
wanderungen. Am  Kasbek  vorbei  zur  Passhöhe  der  Krestowaja-Gora 
\Kreuz-Pass\  In  das  Tal  der  Aragwa.  Die  Südseite  der  grusinischen 
Heerstrasse.  Der  Kartwelische  Volksstamm.  In  Tiflis.  Dr.  Raddo.  Die 
kaukasische  Bergkette  vom  Schwarzen  Meer. 

XVIir.   Kapitel.      Zu     den     Gletschern    des    Zeja-    und    UrucliTales. 

Dritte  Reise 242—256 

Der  ("leologe  Dr.  Schafarzik.  Am  16.  Juni  von  Budapest  über  Odessa, 
.Schwarzes  Meer,  See  von  Asow  nach  Wladikawkas.  Am  30.  Juni  wieder 
in  St.  Nicolai  im  Ardontal.  Arbeiten  am  Zei-Gletscher.  Resultate  der 
Messungen.  Kranke  Bergbewohner  am  Fusse  der  kaukasischen  Gletscher. 
Ueber  Kamunta  und  das  Ssonguta-Tal  zum  Uruch.  Bei  meinem  alten 
Bekannten  Chogasch  Karagubajew  in  Styr-Digor.  Ausflug  ziun  Tana- 
Gletscher.  Zum  Karagom-Gletscher.  .Sonnenaufgang  im  Karagom-Tale. 
Das  Uebersetzen  der  Bergbäche.  Wald-  und  Bergwiesen.  Der  Karagom- 
Gletscher.  Eisszenerien.  Eisfall.  Biwak  im  Walde.  Lagerleben.  Das 
Uruch-Tal.  ein  tief  eingeschnittenes  Erosionstal.  Die  Teufelsbrücke.  Reiche 
Vegetation.  Durch  die  Vorberge.  Waldiges  Hügelland.  \'ersteinerungen 
im  Jurakalk  und  Ammonite  im  Bachbette  des  Ssurch-Ssu.  Stephanoceras 
Liechtensteinü  nov.  sp.  Elendes  Nachtlager  in  Mahomedansk.  Durch  die 
Steppe  zur  Bahnstation  Elchetowo.  Die  Gepäcksteleg^a  bricht.  Nach  den 
Badeorten  am  Nordfusse  des  Kaukasus. 

XIX.  Kapitel.      Die    Mineralquellen    am    Nordfusse    des    Kaukasus. 

D urch  die  Teberda  zum  Kluchor-Pass  und  nach  dem  Karatschai  257—270 
Pjätigorsk  und  die  Gruppe  des  Brsch-T.iu.  Geologisches  und  Bot.i- 
nisches.  Die  Mineralquellen.  Kislowodsk.  Wieder  ins  Hochgebirge.  Das 
Tafelland  zwischen  Kuma,  Podkumok  und  Malka.  Nach  dem  Kubangebiete. 
Chumara  im  Kubantale.  In  die  Teberda.  Wechsel  der  Gesteinsarten,  im 
Teberda-Tale.  Teberdinsk.  Weigerung  der  Teberdiner,  den  Nachar-Pass 
zu  überschreiten.  Alpine  Hochgebirgslandschaft.  Die  Teberda-Schlucht. 
See  Tumanly-Gel.  Seltenheit  von  Seen  im  Kaukasus.  Glaziales  Trogtal. 
Der  Eissee.  Sturm  am  Kluchor-Pass.  Zurück  zum  Standquartier  in  der 
Teberda.  Ueber  den  Teberda-Dout-Pass.  Anblick  des  Elbruss  \on  der 
Passhöhe.  Geologisches.  Oede  Steinwildnis  im  Dout-Tale.  Schlechtes 
Nachtquartier.  Das  eine  der  beiden  Quecksilber-Barometer  zerbrochen. 
Ueber  den  Dout-Utschkulan-Pass.  Elbruss  von  der  Höhe  sichtbar.  Abstieg 
nach  Utschkulan.      Karatschai   und  seine   Be\\ohnei-. 

XX.  Kapitel.     Nordwcärts  um  den  Ellbruss 271—287 

Die  östlichen  Quellbäche  des  Kuban,  Ullukam,  Utschkulan  und  Ullu- 
cliursuk.  Utschkulan,  Hauptort  des  Gebietes.  Das  Volk  der  Karatschaier. 
Aul  Chursuk.  Weigerung  der  Karatschaier,  über  die  Gletscher  des  Elbruss- 
massivs in  das  Bakssantal  zu  gehen.  Ausflug  ins  oberste  Ullukam-T.il. 
Eine    alte    Endmoräne    im  Ullukam-Tale.      Das    Bergrund    am    Chotjutau- 

—     XIX     — 


Ixualts-Verzeichnls  des  ersten  Bandes. 

Seite 
Gletscher.  Ucr  UUuosen-Gletschcr.  Festgehalten  in  Chursuk.  Zügel- 
losigkeit  der  Karatschaier.  Durch  das  UUuchursuk-Tal.  Erste  Passhöhe. 
Elbruss  vom  Nordwesten.  Das  Firnplateau  des  Elbruss  gleicht  einem 
norwegischen  Fjeld.  Kaltes  Nachtlager  in  2602  m  Höhe.  Der  Buruntasch- 
Pass.  Die  Gletscher  an  der  Nordseite  des  Elbruss.  Der  UUatschiran. 
Gesteine  der  Endmoräne,  zumeist  Trachyte.  Hohe  Schneegrenze.  Die 
Firn-  imd  Gletscherbedeckung  des  Elbrussmassivs  bildet  einen  Uebergangs- 
tvpus  zwischen  dem  Inlandseis  in  den  skandinavischen  Gebieten  und  den 
alpinen  Vergletscherungsformen.  Nachtlager  am  Bakssankosch.  Revolte 
der  Pferdetreiber.  Landschaft  im  Quellgebiete  der  Malka.  Trachytwände 
aus  Erdpyramiden  im  Malka-Tal.  Blick  auf  das  canonartige  Tafelland  im 
Norden.  Weltabgeschlossenheit  dieser  Gegend.  Der  Kyrtyk-Pass.  Aussicht 
auf  die   Hauptkette.      Wieder  in  Urussbieh. 

XXI.  Kapitel.     Zu  den  Gletschern  des  Bakssantales 288—302 

Bei  Fürst  Ismael  in  Urussbieh  wieder  gastfreimdlich  aufgenommen. 
Der  europäische  Reisende  gilt  im  Osten  als  ,'\rzt.  Meine  ärztliche  Praxis. 
Ein  desperater  Fall.  Ein  Scheintoter  wird  ins  Leben  gerufen.  Grosse 
Nachfrage  bei  den  Bakssantataren  nach  meinem  Lebenselixier.  Begehrter 
noch  als  Arzneien  von  selten  der  Eingeborenen  ist  Tabak.  Die  öster- 
reichische Virginia-Zigarre  im  Kaukasus.  In  das  Adyl-Tal.  Der  Schcheldy- 
gletscher.  Im  Firngebiet  des  Schcheldy-Gletschers.  Grossartige  Szenerie. 
Schcheldy-Tau  und  Tschatyn-Tau.  Arbeiten  an  den  Bakssan-Gletschern. 
Wiedersehen  des  Elbruss-Gipfels.  Meine  nach  Naltschik  dirigierten  Kisten 
mit  photographischen  Platten  wurden  von  dort  nicht  nach  Urussbieh  weiter- 
befördert. Dies  zwingt,  das  Hochgebirge  zu  verlassen.  Veränderte  Ver- 
hältnisse in  Urussbieh.  .'Vuch  dort  Zügellosigkeit  der  Bergbewohner. 
Ein  Streifzug  durch  den  Nordfuss  des  Daghestan.  Ausflug  nach  Borschom 
und  Abastuman.  Oede  des  armenischen  Hochlandes.  Tropenartiger 
Vegetationsreichtum  am  Niederstieg  nach  Kutais.  Heimreise  über  Kon- 
stantinopel,  Athen  und   Koifu. 

XXII.  Kapitel.     Aus    dem    Bakssan-Tal    über   den  Adyr-Mestia-Pass 

nach  Swanetien.     Vierte  Reise 303—3^5 

Zusammentreffen  mit  Douglas  W.  Frcshficld  in  Charkow.  Die 
S:L\oy,u-den-Führer  Devouassoud.  Zahlreiche  umfangreiche  Gepäckstücke 
bilden  die  Ausrüstung.  Die  Terekebene.  Alte  Bekannte  aus  den  Bergen 
in  Naltschik.  Beim  Kabardaerfürsten  Ataschukin.  Spätes  Nachtessen. 
Langer  Tagesritt  nach  Urussbieh.  Anwerbung  von  Trägern  für  den  Adyr- 
Pass.  Lager  im  obersten  Adyrssu-Tal.  Anstieg  über  Moränen  und  Eis. 
Dschigit.  Panorama  vom  Rande  des- Firnbeckens.  Aussicht  vom  .\dyr- 
Mestia-Pass.  Abstieg  über  den  Leksyr-Gletscher.  Alpenflora  an  den  Ufer- 
hängen des  Gletschers.  Lagerplatz.  Uschba  und  Tschatyn-Tau.  Der 
Tschalaat-Gletscher,  der  am  tiefsten  herabreichende  Kaukasus-Gletscher. 
Moränen  und  Gesteine,  .abstieg  in  das  Tal  der  Mulchara  nach  Mestia. 
Festschmaus  für  unsere  Urussbiehträger.  Nach  Betscho.  Freshfields  Re- 
kognoszierung L'schbas. 

XXIII.  Kapitel.     Wieder  im  freien  Swanetien 316—326 

Von  Betscho  über  Eli  nach  Ipari.  Nachtquai-tier  in  der  Kanzellaria. 
Mittagsrast  im  Dorfe  Adisch.     Cieldforderung  der  Adischer  für  Benutzung 

—     X.X     —      . 


Inhalts -Verzeichnis  des  ersten  Bandes. 

Seite 

des  Rastplatzes.  Revolver  zur  Hand.  Messungen  am  Adisch-Gletscher. 
Lager  im  Walde.  Regen  und  Sturm.  Beraubung  des  Lagers  während 
der  Nacht.  Rückkehr  nach  Muschal.  Einzug  des  Bischofs  von  Poti  und 
seines  Gefolges  in  Muschal.  Die  Kosaken  des  Pristaws  von  Betscho  eskor- 
tieren die  Familienältesten  aus  Adisch  nach  Muschal.  Gerichtsverfahren 
des  Pristaws.  Die  Adischer  werden  entwaffnet  und  gefangen  nach  Betscho 
geführt.  Schwierigkeiten  bei  der  Anwerbung  von  Trägern  zur  Ueber- 
schreitung  der  Hauptkette  auf  dem  seit  Menschengedenken  nicht  began- 
genen Zanncr-Pass. 

XXI\'.  Kapitel.      Ueber    den    Zanner-Pass    nach    dem    Norden    der 

Hauptkette 327—340 

Die  Gletscher  an  der  südlichen,  dem  Mulchara-Tal  zugewendeten 
Abdachung  des  Haujitkammes.  Durch  die  Zanner-Schlucht.  Der  Zanner- 
und  der  Nageb-Gletscher.  Nachtwache  im  Zanner-Lager.  Träumeiei  am 
Wachtfeuer.  Mondlicht.  Anstieg  über  den  Zanner-Gletscher.  Anblick 
der  Eisfassade  des  Tetnuld.  Freshfield  und  seine  Führer  stossen  im  Firn- 
becken des  Zanner-Gletschers  zu  uns.  Tetnuld  wurde  erstiegen.  Er- 
müdender Marsch  durch  tiefen,  pulverigen  Schnee.  Irrfahrten  im  Nebel. 
Gebete  der  Swanen.  Nach  einem  Marsch  \on  1 3  Stunden  am  Zanner- 
Pass.  Grossartige  Aussicht  auf  die  Bergriesen  des  Besingi-Gebietes. 
Sonnenuntergang.  Vergleich  mit  der  Umgebung  des  Gorner  Gletschers. 
Ueberhängende  Firnmatten  auf  der  Passhöhe,  jenseits  ein-  steiler  Schnee- 
wall. Die  Swanen  weigern  sich,  abzusteigen.  Das  Gepäck  wird  hinab- 
geschleudert. Nach  langem  Geschrei  folgen  die  Swanen.  Um  9  Uhr  nachts 
werden  die  Zelte  hoch  über  dem  Besingi-Gletscher  aufgeschlagen.  Lu- 
kullisches .Abendessen  im  Zelte. 

XXV.  Kapitel.     Im  Umkreise  des  Koschtan-Tau 34[— 348 

Die  Ueberschreitung  des  Zanner-Passes  die  schönste  Gletscherfahrt 
im  Kaukasus.  Ueber  den  Besingi-Gletscher.  Wieder  bei  .Sr.  Hoheit  dem 
Fürsten  von  Besingi.  Ins  Dumala-Tal.  Der  UUuaus-GIetschcr.  Am  Fusse 
des  Koschtan-Tau.  Photographische  Aufnahmen.  Heimkehr.  Im  folgenden 
Jahre  wird  von  englischen  Reisenden  mit  Schweizer  Führern  ein  Versuch, 
Koschtan-Tau  zu  ersteigen,  unternommen.  Die  Reisenden  verliessen  ihr 
Lager  am  Fusse  des  LTluaus-Gletschers  und  kehrten  nicht  wieder.  Nach- 
forschungen nach  dem  Schicksale  der  Verschollenen.  Der  letzte  Biwak- 
platz. Die  Reisenden  müssen  im  .Anstiege  durch  .Absturz  \erunglückt  sein. 
Rec[uiescant   in  pace. 

Das  Register  zu  Band  I  und  II,  das  Verzeichnis  der  Druckfehler,  Zusätze 
und  Berichtigungen,  sowie  die  Karte  des  kaukasischen  Hochgebirges, 
Massstab  i  1400000,  in  zwei  Blättern,  befinden  sich  am  Schluss  des 
zweiten  Bandes. 


Verzeichnis  der  Abbildungen  des  ersten  Bandes. 


Verzeichnis  der  Kupfer-Heliogravüren. 

Klbruss   (Minghi-Taul    vom  Firngeljietc    des  Asiui-Gletscher-; Titelbild 

Adai-Choch  vom  Zeja-Tal 27 

Adai-Choch 32 

Der  Zei-G!etscher 34 

Seracs  am  Zei-Gletscher 3S 

Der  Besingi-Gletscher 82 

Prinzessin  Ui-ussbiew  (Bergtatarini 98 

Das  Mulchara-Tal  bei  Mestia 143 

Swanen 150 

Elbruss  vom  Dschiper-Pass 184 

Der  Dschiper-Gletscher        189 

Uschba 204 

Tichtengen 223 

Hadschi  in  St)'r-Digor 248 

Der  Karagom-Gletscher 250 

Teberda- Schlucht 257 

See  in  der  Teberda 265 

Eissee  unterhalb  des  Kluchor-Passes 266 

Die  Kette  des  Tschatyn-Tau  und   Schcheldy-Tau 297 

Tetnuld  vom  Zanner-Gletschcr 331 

Koschtan-Tau 344 

Verzeichnis  der  Panoramen. 

Von    einer  Kammhöhe    (ca.  3000  m)    unterhalb    des  Schtulivcek-Passes    gegen    die    dignrische 

Kette  im  Norden 61 

Die  Granitriesen  des  Kaukasus  vom   Schtuli\cck-Pass   (3348   m 64 

Bergrund  am  Midschirgi-GIetschcr 88 

Voin  Betscho-Pass  (3375   m^  gegen   Süden  und  Südwesten 134 

Panorama  der  Hauptkette  vom  Tetnuld  bis  zum  Ailama  vom   L.itp.iri-i'ass   i2S00   ni'     .      .      .  154 
Der    südliche    Teil     der    Adai-Choch-Grup|ie     vom    Rhododendron-Hügel     i2200  mi     oberhalb 

Gurschewi 169 

\'om  Dschiper-Asau-Pass   (3267   ni'   gegen   Süden  und  Südwesten 190 

\'on   einer  Höhe  in  der  südlichen  Umrandung  des  östlichen  Zweiges  des   liesingi-( Gletschers    .  234 

\'om  Adyr-Mestia-Pass  (3751    m)  gegen  Süden 303 

\'om  Firnplateau  (^ca.  3000  m)  im  Norden  des  Adyr-Mestia-Passes 310 

—     XXUI     — 


Vkkzkichms  der  Abbildungen'  des  ersten  Bandes. 

Verzeichnis  der  Text-Abbildungen. 

Seite 

Kopfleiste 1 

Odessa 7 

Südküsto  der   Krim S 

Jalta 9 

Kaiikasuskettc   (Kaslickgruppei   aus  der  Terckeljene 18 

Nachas-Schlucht 22 

Neuer  ossetischier  Grabstein  (Sella) 23 

Alte  ossetische  Grabsteine  iScUai 23 

Nusal-Schlucht 25 

Die  Karawane  zieht  durch  das  Dorf  Zci 28 

Zunge  des  Zei-Gletschers  mit  Gletschertor 30 

Hintergrund  des  Zeja-Tales  von  den  Hütten  des  Dorfes  Zei 32 

Vegetation   i^mit  blühendem  Rhododendron  caucasicum)   ain  Zci-Gletscher 33 

In  den  Seracs  des  Zei-Gletschers 35 

Adai-Choch  vom  Osten  (Sella) 39 

Der  Eisstrom  des  Zei-Gletschers  ^tah\ärts) 43 

Das  Dorf  Kamunta 46 

Ossetische  Heumäher 47 

Digorier 48 

Firnhöhen  im  Skattikom-Tale 52 

Karagomtal  bei  Dsinago 53 

Der  Digorier  Karagubajew 5  5 

Hintergrund  von  Styr-Digor 5  7 

Gletscher-Zirkus  oberhalb  Styr-Digor 58 

Ssugan-Kctte  vom  Plateau  unterhalb  des  Schtulivcek-Passes 60 

Laboda.     \'om   Plateau  unterhalb  des  Schtulivcek 62 

Fytnargin-Gletscher 65 

Dychssu-Schlucht 66 

Dychssu-Gletscher  und  Schchara 69 

Tscherek-Tal 72 

Balkaren 75 

Tscherek-Schlucht 76 

Kaukasische  Waffen n 

Aus  der  Eisregion  des  Midschirgi-Gletschers   (Hochgebirge  von  Bcsingii 78 

Urwan-Tal  oberhalb  Tubencl 81 

Midschirgi-Gletscher 84 

Eiswall   mit  Dych-Tau   \  om   Midschirgi-Gletscher 85 

Midschirgi-Tau  vom   Midschirgi-Gletscher 87 

Der  Fürst  von  Besingi  und  seine  Getreuen   ( Sella  ^ 90 

Kaukasische  Trinkgefässe 91 

Milderes  Bakssan-Tal 92 

Aul  Tschegem 93 

Prinzessinnen  in  Tschegem 95 

Bakssan-Tal  bei  Urussbieh.   mit  Dongusorun   im   Hintergründe 98 

Wasserfall  des  Ssyltran-Ssu • 101 

Berg-Tataren   (Urussbier)  in  Urussbieh 1 02 

Der  Asau-Gletscher,  von  den  Tersskolhängcn  g^esehen 104 

Elbruss  vom  Norden 106 

Elbruss  von  den   Hängen  der  Tersskol-Schlucht 107 

Nach  der  Jagd.     Meine  Gastfreunde   im  Standquartier  von  Kosch  Asau 113 

—     XXIV     — 


Verzeichnis  der  Abbildungen  des  ersten  Bandes. 

Seite 
Capra  caucasica  Güldcnstädt,   Capra  pallasii,   Capra  aegagrus  pallasii   mach  /eichiuingl        .      .      114 

Die  Gruppe  des  Dongusorun  von  oljerliall)   Koscli  Asau 115 

Eis  und  Lava  am  Elbruss        117 

Die  Hauptkette  vom  Rande  des  Fiinplateaus   am  Elbruss 118 

Swanetische  Träger  auf  dem  Marsch 1 30 

Ismael  UiTissbiew 131 

Die  Gipfel  des  Dongusorun   mit  dem  Jussengi-Gletscher 133 

Dolra-Gletscher 1 36 

Absch'iuss  des   Betscho-Tales 138 

Uschba 141 

Tschangi,   swanetische   Harfe 144 

Die  Tetnuldgnippe  vom  Ugür-Pass 145 

Zeltlager  nach  einem  Schneefall 1 46 

Swanetisches  Dorf 147 

Alte  Kirche  in   Muschal 15  1 

Turm  in  einem  swanetischen  Dorfe 152 

Tal  des  Zchenis-Zchali 

Schluchten  des  Zchenis-Zchali 

Burg  der  Dadianfürsten  am  Zchenis-Zchali 

Defile  vor  Muri 

Ausgang  des  Defile  von   Muri 

Tiflis 

Der  südliche  Teil   der  Adai-Choch-Gruppe  vom   Mamisson-Pass 

Die  Krimküste  bei  Jalta,  vom   Meere  gesehen 

Kassara-Schlucht 

Die  Kaltber-Kette  aus  der   Kassara-Schlucht 

Ranunculus  Lojkae  S.   et  L.   nov.   sp.'-M 

Tschantschachi-Choch 

Nepeta  caucasica  S    et  L.   nov.   sp.''M 

Hütten  im  Aul  Urussbich 

Kabardaer 

Kabarda-Mädchen 

Der  Asau-Gletscher 

Tasche  aus  der  Kabarda  inach  Zeichnung  von    Iwan  v.   Dechy 

Unsere  Karawane  am  Asau-Gletscher 

Vom  Elbruss-Plateau  niederziehender  Gletscher 

Am  Asau-Gletscher 

Saxifraga  scleropoda  Somm.   et  Lev.  nov.   sp.'-' 

Nenskra-Tal 

Vorbereitungen  zum  Diner 

Nakra-Tal ~ 

Ingurtal  bei  Ezeri 

Neugierige  in   einem  swanetischen   IJorfe 200 

Uschba  und  Tschatuin- Tau -07 

Eisfall  imd  Zunge  des  Adisch-Gletschers 209 

Verbascum  Dechyanum  Somm.   et  Lev.   nov.   sp.'-') 210 

Der  Chalde-Gletscher 211 

Gentiana  Dechyana   Somm.   et   Le\-.   now   sp -  '  - 

Der  Twiber-Gletscher - '  -* 

Das  Ende  des  Twiber-Gletschers -  ' ' 


Die  Abbildungen   von  Pflanzen  uml  Versteinerungen  sind  den  Tafeln  des  dritten  Bandes  entnommen. 
—     XXV     — 


Vf.rzkichms  der  Abbildungen  des  ersten  Bandes. 

Sehe 

Am  •IVil)iM-(;ictscluT 218 

Sscri-  und  Assmasclii-Cllctscher 219 

Dsinal-Glctschcr 221 

Vom  Twibcr-Pass  gegen  Westen 222 

Vcronica  glareosa,  Sonini.   et   Lr\ .   nov.   sp/"i 223 

Das  Tal  des  Kara-Ssu 224 

Kindschalo.  kaukasische  Dolchmosser 225 

Der  Kulak  Gletscher 226 

Tjutjurgu-  und  Schaurtu-(  ".letscher 227 

Der  Schaurtu-GIetscher  und  seine  Umrandung  \on  der  Talsohle  des  Kara-Ssu 228 

Vom  Tschegem-Besingi-Sattel 230 

Calamintha   caucasica   S.  et   L.   nov.   sp 231 

Dyeh-Tau 232 

Katuyn-Tau  und  Gcstola    iWoolleyi 233 

Besingi-Schlucht 234 

Das  Dariel-Defile       236 

Tamara-Burg   in   der  Durchbruchsschlucht  des  Terek 237 

Kasbek  von  der  grusinischen  Heerstrasse 238 

Das  Tal   der  Ara^ua 238 

Georgische   Musikinstrumente 241 

Wohnhütten  in  einem  Digorier-Dorfe 242 

Mädchen  aus  Machtschek 245 

Ossen  aus   Machtschek 24  5 

Der  Tana-Gletscher 247 

Digerier 248 

Die  Zunge  des  Karagom-Gletschers 250 

Im  Uruchtale 252 

Uruch-Schlucht  i Achschinta-Kom 253 

Vegetation  in  der  Uruch-Schlucht 254 

Stephanoceras  Liechtensteinii,  nov.   sp.'-'i 256 

Kuban-Tal  vor  Chumara 257 

Eingeborene  aus  Teberdinsk 262 

Im  Teberda-Tal 262 

Die  Teberda  und  die  Gipfel   und  Gletscher  im  Amanaus-Tale 263 

Mündung  des  Buulgen-Tales 264 

Der  Kluchor-Gletscher 265 

Eissee  imterhalb  des  Kluchor-Passes 266 

Elbruss  \-om  Dout-Utschkulan-Pass 269 

Aul  Chursuk 271 

Karatschaifrauen  aus   Utschkulan        272 

Karatschaer  aus  Utschkulan 273 

Riegel  im  UUukam-Tal 274 

Das  Bergrund  des   Chotjutau-Gletschers 275 

UUuosen-Gletscher 276 

Elbruss  vom  Nordwesten 279 

Trachytwände  im  Malka-Tal 282 

Erdpyramiden  im  Malka-Tal 283 

Kyrtyk-Gletscher 287 

Das  Seitental  des  Adyl-Ssu   iB-ikssantal 288 

Bakssantatarin  am  Webstuhl 291 

*)  Die  .\bbildungen   von  Pflanzen  und  Versteineriingen  sind  den  Tafeln  des  dritten  Bandes  entnommen. 
—      XXVI      — 


VKRZIilCIIXIS    DKR    AlililLDUNGEN    UND    AliKÜRZUXCiK.X    DES    ERSTEN    BANDES. 

Seite 

Eintritt  ins  T,il   des  Ad\l-Ssu 293 

Der  westliche  Talzweig  des  AdyUsii-Talcs 295 

Der  Schcheldy-Gletscher 296 

Oestliches  Firnbecken  des  Schcheldy-Cletschers 297 

Der  Elbruss  von  Südosten 299 

Rhabdocidaris  caucasica  nov.   sp.'-- 1 301 

Lager  im  Tale  des  Adyr-Ssu        302 

Kleine  Bakssantatarin   iFainilie  Urussbiewi   mit  ilirer  Dienerin 305 

Lastesel  mit  Treiberjungen 306 

Die  Oeffnung  des  Adyrssu-Tales  mit  Ullu-Tau-tsch.ina  im   Hintergiundi» 307 

Ullu-Tau-tschana  im  Adyrssu-Tale 308 

Lagerplatz  iin  Adyrssu-Tale 309 

Uschba  und  Tschatyn-Tau  mit  Tschalaat-Ctletscher 313 

Mestia  und  die  Leilakette 314 

Der  Adisch-Gletscher 316 

Uschba  vom  Osten 317 

Dorf  Adisch 318 

Swanen  in  Adisch   (Links  unser  Kosak  aus  der  Kabardai 319 

Das  Ende  des  Adisch-Gletschers 320 

Der  Zanner-Gletscher ^'2■^ 

Zanner-  und  Nageb-Gletscher        ' 328 

Der  Nageb-Gletscher 329 

Unterer  Eisfall  des  Zanner-Gletschers 332 

Der  Besingi-Gletscher  (Sellai 34  t 

UlIu-aus-Gletscher  mit  der  Koschtan-Kette 344 

Gestein  vom  höchsten   Felsgrate  am  Elbruss 347 


*)  Die   Abbililunsen  von  Pflanzen  imil  Versteinerungen  sind  den  Tafeln  des  dritten  Bandes  entnommen. 


Verzeichnis  der  Abkürzungen. 


m  =   Meter. 

km  =  Kilometer. 

qkm        ^=  Quadratkilometer. 

1 "  C       ^1  Grad  der  hundertteiligen  Thermomcterskala. 

(B.  D.  i  =   Höheninessungen  des  Verfassers  auf  Grund  von  .Ablesungen  am   Quecksilber- Barometer. 

[K.  D.l  ^  Höhenmessuiigen  des  Verfassers  mittels  Aneroids. 


Einleitung. 

Duris   cautibiis,    horrens   Caucasus. 
(Virsilius.) 

Die  kaukasischen  Ländergebiete  waren  schon  den  Völkern  des  Aher- 
tums  bekannt.  Ein  reicher  Sagenkreis  umwebt  die  Landschaften  zwischen 
dem  Schwarzen  und  dem  Kaspischen  Meere.  Dort  bildete  das  Kafgebirge 
der  Alten  das  Ende  der  Welt,  der  Kauk-Asos,  das  Asa-Land,  den  Götter- 
sitz nach  der  deukalionischen  Flut.  Nach  dem  Sonnenlande  Kolchis  ging 
der  Zue  der  Argonauten,  und  an  die  Felsen  des  Kaukasus  ward  Prometheus 
von   den  erzürnten   Göttern  geschmiedet. 

Herodot,  Strabo  und  andere  Schriftsteller  ihrer  Zeit  geben  uns  die 
ersten  Nachrichten  von  den  kaukasischen  Ländern.  Alte,  zum  grossen 
Teile  verschwundene  Völker  wohnten  dort,  und  der  Strom  von  Völker- 
wanderungen bewegte  sich  durch  diese  Ländergebiete.  So  wurde  der 
kaukasische  Isthmus  bis  in  die  jüngste  Zeit  ein  Tummelplatz  der  ver- 
schiedensten Völker,  der  Schauplatz  von  Rassenkriegen  und  religiösen 
Kämpfen.  Den  Heeren  der  Assjrer  und  Bab)'lonier,  den  Kriegern  Cyrus' 
und  Xenophons  folgten  die  Horden  Dschingis- Chans  und  Temirlans,  und 
mit  diesen  haben  die  Einbrüche  skythischer  Eroberer  den  kaukasischen 
Boden  zum  Schauplatz  ihres  Herrscherehrgeizes,  oder  ihrer  Beutesucht,  zur 
blutgedüngten  Wahlstatt  gemacht.  Nur  kurze  Perioden  ruhiger  friedlicher 
Entwicklung  waren  diesen  Ländern  gegönnt,  während  welcher  dieselben  eine 
Stätte  asiatischer  Kultur  wurden.  Die  topographische  Lage  und  die  reiche 
Konfiguration  des  kaukasischen  Isthmus  hat  auf  diese  Ereignisse  be- 
stimmend eingewirkt,  infolge  jenes  Zusammenhanges,  welcher  überall 
zwischen  den  geschichtlichen  Begebenheiten  und  den  geographischen 
Faktoren  besteht. 

An  der  Grenze  zweier  Kontinente  steht  das  den  kaukasischen  Isthmus 
durchziehende  mächtige  Hochgebirge,  der  Kaukasus.     Er  war  ein  hemmender 

Dechy;    Kaukasus.  1 

—        1        — 


Di-;r  Kaukasus  ix  Sagk  und  Geschichte. 

Wall  für  die  Bewegung  der  V'ölkerzüge,  der  ihre  Wogen  in  gewisse 
Richtungen  zwang.  Nur  die  Brandung  derselben  erreichte  das  rauhe,  hohe, 
schwer  übersteigbare  Gebirge.  Die  historische  Bedeutung  der  Gebirge, 
besiegten  und  verfolgten  Völkern  zum  Asyl  zu  dienen,  zeigt  auch  der 
Kaukasus.  Die  in  das  Gebirge  verschlagenen  Bruchteile  der  den  Kau- 
kasus umschwärmenden  \"ölkerschaften  fanden  dort  von  der  Aussenwelt 
abgeschlossene  Zufluchtstätten.  Hieraus  erklärt  sich  das  Gemisch  von 
V^ölkern  und  .Sprachen ,  welches  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  dort  er- 
halten  hat. 

Die  Gebirgsnatur  schreibt  in  den  Pässen  den  Völkern  ihre  natür- 
lichen Wege  vor  und  bestimmt  nicht  nur  die  Richtung  ihres  Verkehrs, 
sondern  beeinflusst  auch  den  Verlauf  der  geschichtlichen  Ereignisse.  In  der 
Unwegsamkeit  des  Kaukasus,  in  welchem  die  Natur  nur  in  der  Nähe  des 
Kaspischen  Meerufers  bei  Derbend  eine  schmale  und  niedrige  Pforte  — 
Pylae  Caspiae,  die  Porta  Caucasica  — ,  die  Verbindung  zwischen  Asien 
und  Europa,  zwischen  Süd  und  Nord,  offen  liess,  liegt  ein  grosser  Unter- 
schied im  Gegenhalte  zu  den  Alpen,  die  schon  seit  den  Zügen  der  Rhaetier 
und  Römer  bequeme  Verkehrswege  für  friedliche  und  kriegerische  Zwecke 
zwischen  den  nördlichen  und  südlichen  Abdachungen  boten.  In  diesem 
Aufbau  des  Kaukasus  liegt  auch  der  Schlüssel  zur  Erklärung  der  Tatsache, 
dass  im  langen  W'andel  und  Wechsel  der  Zeiten,  welche  in  diesen  Länder- 
gebieten die  Zusammenstösse  asiatischer  Kulturvölker  und  barbarischer  Er- 
oberer .sahen,  in  welchen  Staatengebilde  entstanden  und  vergingen,  Christen- 
tum und  Islam  bald  neben-,  bald  übereinander  standen,  —  Kaukasien  bis 
in  die  neueste  Zeit  zwar  eine  geographische,  aber  keine  politische  Ein- 
heit bildete. 

Diesen  langen,  zum  Teil  vom  Lichte  der  historischen  Erkenntnis 
kaum  erhellten  Perioden  folgte  jene  Zeit,  in  welcher  das  mächtige  Russische 
Reich  im  Norden  in  die  Geschichte  der  kaukasischen  Ländergebiete  ein- 
zugreifen begann.  Im  Ringen  Russlands  um  die  Herrschaft  am  kaukasischen 
Isthmus  tritt  wieder  die  Gebirgsnatur  desselben  bestimmend  auf,  indem  sie, 
wie  überall ,  den  Gebirg.svölkern  die  Möglichkeit  längeren  Widerstandes 
gegen  Eroberungszüge  und  aufgedrungene  Herrschaft  verlieh.  Nahezu  ein 
Jahrhundert  währte  es,  bis  es  Russland  nach  blutigen  Kämpfen  mit  den 
Bergvölkern  gelang,  diesen  vielgeprüften  Läntlern  Ruhe  und  Eriedcn  zu 
schenken  und  in  dieselben  die  Errungenschaften  europäischer  Zivilisation  zu 
tragen.  In  diese  Zeit  fällt  auch  die  wissenschaftliche  Erforschung  des 
kaukasischen   Isthmus. 


Die  wissenschaftliche  1<:rforschung  Kaukasiens. 

Seit  dem  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  war  eine  Reihe  von 
Forschungsreisenden  bemüht,  soweit  die  einzelnen  Gebiete  Kaukasiens  zu- 
gänglich waren,  den  Grunil  für  unsere  Kenntnisse  ihrer  geographischen  und 
geologischen  Verhältnisse,  von  Fauna,  Flora  und  Ethnographie  zu  legen. 
Mit  der  Pazifizierung  des  Landes  wurden  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  von 
Russland  in  intensivster  Weise  in  Angriff  genommen,  und  es  genüge  hier, 
aus  der  Zahl  der  verdienstvollen  Männer,  welchen  diese  Aufgabe  zufiel,  auf 
die  grossen  Verdienste  hinzuweisen,  welche  sich  Güldenstädt,  Pallas,  Klaproth, 
Eichwald,  Parrot  und  in  erster  Reihe  Abich  und  Radde  um  die  Erforschung 
Kaukasiens  erworben  haben.  Diese  Forschungstätigkeit,  welche  sich  auf 
alle  Zweige  menschlichen  Wissens  erstreckt,  fand  jedoch  an  den  abwehrenden 
Flanken  des  kaukasischen  Hochgebirges  eine  kaum  überschrittene  Grenze. 
Die  unwirtliche  Natur  des  schnee-  und  eisbeladenen  Hochgebirges  hat  überall 
auf  der  Erde,  auch  in  den  Alpen,  sich  am  längsten  des  Forschungsdranges 
der  Menschen  zu  erwehren  gewusst,  und  die  hohen  und  höchsten  Regionen 
des  kaukasischen  Hochgebirges,  die  sich  über  den  obersten  Talgehängen 
in  weiter  Ausdehnung  und  in  schroffem ,  jedes  Vordringen  erschwerenden 
Aufbau   erheben,   blieben   unbetreten,   unerforscht. 

Es  kann  daher  nicht  wundernehmen,  dass  unsere  Kenntnisse  von 
den  Hochregionen  dieses  mächtigen  Hochgebirges  noch  lückenhaft  blieben, 
und  dass  die  Angaben  darüber  in  allen  wissenschaftlichen  Werken  zum 
grössten  Teile  irrige  waren  und  auch  die  Karten  der  kaukasischen  Länder- 
gebiete von  den  orographischen  Verhältnissen  der  Hochregionen,  von  ihrer 
Schnee-  und  Gletscherbedeckung  unrichtige  Darstellungen  gaben.  Nur 
wenige  Gipfel  waren  gemessen,  nur  von  wenigen  Punkten  und  Pässen  im 
Hochgebirge  waren  Höhen  bekannt,  man  hatte  keine  Ahnung  von  der 
Existenz  einer  Reihe  der  höchsten  Gipfel  und  zahlloser  bedeutender  Gletscher, 
von  der  wirklichen  Ausdehnung  der  Schneebedeckung  und  der  einzelnen 
Gletscherindividuen,   von   der   Grösse  ihrer  Firnreservoire. 

Die  ersten,  welche,  beseelt  von  Forscherdrang  und  erfüllt  von  kühnem 
Mute,  in  die  eisigen  Hochregionen  des  zentralen  Kaukasus  eindrangen,  waren 
im  Jahre  i  868  die  Engländer  D.  W.  Freshfield,  W.  A.  Moore  und  C.  C.  Tucker, 
mit  dem  Savoyer  Bergführer  Frangois  Devouassoud.  Freshfield  gebührt  der 
unvergängliche  Ruhm,  die  ersten  genauen  Berichte  über  die  höchsten  Gipfel, 
über  die  Gletscherwelt  eines  Teiles  des  Kaukasus,  über  den  landschaftlichen 
Charakter  seiner  Hochregionen  veröffentlicht  und,  als  Kenner  der  gleich- 
artigen Erscheinungen  in  den  Alpen,  durch  Vergleiche  die  Kenntnis  des 
kaukasischen  Hochgebirges   unserem  Verständnisse   nähergebracht  zu   haben. 


IrRICK    VoKSTELLUNC.EN    Ül'.ER    DIE    IMINSISCIIE    GE(  )(;RAI'H1E    DER    HOCHRElUON. 

Aber  das  Ounkel,  das  über  den  Schneerej^nonen  des  Kaukasus  lag,  war 
tkirch  diese  Reise  kaum  gelichtet,  und  die  irrigen  Vorstellungen  über  die 
Orographie  und  physische  Geographie,  insbesondere  über  die  Schnee- 
bedeckung und  die  Entwicklung  des  Gletscherphänomens  in  den  kaukasischen 
Hochregionen,   blieben   fortbestehen.  *j 

Noch  harrten  ausgedehnte  Strecken  des  Hochgebirges  der  Begehung, 
in  weite  Reviere  desselben  war  noch  kein  Blick  eines  Sterblichen  gedrungen, 
noch  fehlten  exakte  Daten,  Höhenmessungen,  vor  allem  aber  getreue  Natur- 
aufnahmen mit  Hilfe  der  photographischen  Kamera,  welche  als  Dokumente 
der  Wahrheit,  als  Beweise  für  Behauptungen  dienen  konnten,  die  im  Gegen- 
satze zu  den  bis  dahin  geltenden  xAnschauungen  standen.  Im  kaukasischen 
Hochgebirge,  in  seinen  nahezu  unbetretenen  Eisregionen  lag  daher  ein 
schönes  Feld  für  geographische  Forschung,  welches  sich  denjenigen  öffnete, 
die  in  der  harten  Schule  der  Alpen  gelernt  hatten,  die  Schwierigkeiten  und 
Hindernisse  zu  besiegen,  den  Gefahren  mutig  zu  begegnen,  welche  einem 
Eindringen  in  dieselben  sich   entgegenstellen. 

Sechzehn  Jahre  waren  seit  der  Reise  Freshfields  verflossen,  ohne  dass 
die  irrigen  Vorstellungen  über  die  Orographie  und  physische  Geographie  der 
kaukasischen  Hochregionen,  die  in  Vorstehendem  angedeutet  wurden,  einer 
richtigen  Auffassung  Raum  gegeben  hätten,  ohne  dass  die  Stille  der  weiten 
Schneewüsten  der  kaukasischen  Hochregion  gestört  worden  wäre,  als  ich  im 
Jahre  1884  meine  Schritte  nach  dem  Kaukasus  lenkte. 


*)  So  enthält  der  sechste,  1881  erschienene  Band  der  >Geographie  Universelle«,  des 
Monumentalwerkes  von  Elysee  Reclus,  des  Gelehrten,  der  die  Ergebnisse  der  Forschungen  auf  dem 
Gebiete  der  Erdkunde  in  wissenschaftlicher,  den  Gegenstand  beherrschender  Weise  zu  verwerten  wusste, 
folgende  mit  Ausnahme  der  Bemerkung  von  der  absoluten  Höhe  und  der  Lage  des  kaukasischen 
Hochgebirges  falsche  Darstellung:  »Obwohl  die  Gipfel  des  Kaukasus  höher  sind  als  die  der  Alpen,  sind 
sie  verhältnismässig  wenig  mit  Schnee  und  Eis  bedeckt,  nicht  allein  wegen  ihrer  südlicheren  Breite 
und  andern  klimatischen  Ursachen,  sondern  auch  wegen  der  Schmalheit  der  hohen  Kämme  und 
wegen  des  Mangels  an  Kesseln  (Cirques),  wo  die  Schneemassen  sich  ausbreiten  und  Firnreservoire 
für  Gletscher  bilden  können.  Der  Mangel  an  Schnee  bringt  eine  korrespondierende  Seltenheit  der 
Gletscher  mit  sich.v  —  Die  gleichen  irrtümlichen  Angaben,  insbesondere  über  die  Schneebedeckung 
und  die  Entwicklung  des  Gletscherphänomens,  enthalten  die  Berichte  der  russischen  Forschungs- 
reisenden. So  schreibt  der  ausgezeichnete  Geologe  Muschketow  noch  im  Jahre  1882:  Die  Masse 
des  Eises  auf  dem  Elbruss  ist  gleich  der  Summe  aller  Eismassen  der  kaukasischen  Kette,  und  die 
Oberfläche,  welche  die  gesamten  kaukasischen  Gletscher  bedecken,  ist  kleiner  als  die  der  Montblanc- 
Gruppe  allein.«  Der  berühmte  Geologe  und  ausgezeichnete  Gletscherforscher  Prof.  A.  Heim  fasste 
in  seinem  1885  erschienenen  »Handbuch  der  Gletscherkunde«  die  Summe  unserer  Kenntnis  von  der 
.Schneebedeckung  und  den  Gletschern  des  Kaukasus  in  folgenden  zumeist  irrigen  Sätzen  zusammen: 
Gletscher  von  den  Dimensionen  des  Aletschgletschers,  des  Unteraargletschers  oder  des  Mer-de-glace 
fehlen  .  .  .  die  meisten  kaukasischen  Gletscher  gehören  zu  den  Hängegletschern  ....  die  gesamte 
Schnee-  und  Eisbedeckung  des  Kaukasus  beträgt    I^Oqkmi! 

—     4     — 


Orograi'Iiische  Vkriiältmsse  ])i;s  Kalkasus. 

Die  Reisen,  welche  in  den  folgenden  Blättern  geschildert  werden 
sollen,  waren  der  Erforschung  des  kaukasischen  Hochgebirges  gewidmet. 
In  kurzen  Strichen,  nur  soweit  es  zum  leichteren  Verständnis  derselben 
nötig  ist,  sollen  die  topographischen  Verhältnisse  des  kaukasischen  Hoch- 
gebirges angedeutet  werden. 

Es  erscheint  vor  allem  nötig,  hervorzuheben,  dass  .sehr  oft  mit  dem 
Namen  Kaukasus  zwei  nicht  identische  Begriffe  bezeichnet  werden,  und  zwar 
das  Gesamtgebiet,  die  Länder  des  kaukasischen  Isthmus,  und  oft  auch  nur, 
von  diesen  losgelöst,  das  den  Isthmus  durchziehende  Hochgebirge,  oder  aber 
die  dasselbe  im  Süden  oder  Norden  umgebenden  Gebiete.  Es  entsteht 
hierdurch  eine  Begriffsverwirrung,  welcher  insbesondere  Geographen  entgegen- 
treten sollten.  Es  sollte  unter  der  Bezeichnung  Kaukasus  nur  das  Gebirge, 
der  Kaukasus  par  excellence,  verstanden  werden,  indes  für  die  kaukasischen 
Ländergebiete  die  Bezeichnung  Kaukasien  (für  den  nördlichen  Teil  Zis- 
kaukasien,   für  den   südlichen   Transkaukasien)   angewandt  werden   sollte. 

Das  Gebirgssystem  des  Kaukasus  erstreckt  sich  zwischen  dem  45. 
und  40.  Grad  nördlicher  Breite.  Mit  niedrigen  Hügelreihen  hebt  das 
Gebirge  in  der  Halbinsel  l'aman  im  .Schwarzen  Meere  an,  streicht  in  einer 
allgemeinen  Richtung  von  N.VV.  nach  S.O.,  zu  immer  grösseren  Erhebungen 
anschwellend,  bis  es  sich  zur  l'ferregion  des  Kaspischen  Meeres,  bei  der 
in  dasselbe  hinaustretenden  Halbinsel  Apscheron,  abdacht.*)  Im  Süden 
scheiden  die  Talgebiete  des  Rion  und  des  Kur  das  kaukasische  Gebirgs- 
system von  den  Gebirgen  und  Hochebenen  Armeniens.  Im  Osten  reicht 
es  bis  an  die  kaspische  Steppenzone,  und  den  gegen  Süden  abdachen- 
den Fuss  des  westlichen  Flügels  des  Gebirges  bespülen  die  Fluten  des 
Schwarzen  Meeres.  Im  Norden  sinkt  der  Kaukasus  in  die  Hochflächen, 
durch  welche  sich  die  demselben  entspringenden  Ströme  des  Kuban  und 
Terek  winden,  um  sich,  der  erstere  in  das  Schwarze  Meer,  der  letztere  in 
das  Kaspische  Meer  zu  ergiessen. 

Es  sind  niedrige  Bergreihen,  mit  welchen  der  Kaukasus  im  Westen 
beginnt,  und  erst  mit  der  Erhebung  der  Berggruppe  des  Fischt- Oschten,  im 
Meridiane  von  Sotschi,  am  Schwarzen  Meere,  zeigt  sein  Relief  das  Gepräge  des 
Hochgebirges.  Das  Gebirgssystem  erreicht  in  seinem  mittleren  Teile  die 
mächtigste  Entwicklung,  die  grössten  absoluten  Höhen,  und  behält  in  seiner  öst- 
lichen Fortsetzung  den  Charakter  des  Hochgebirges  bei,  bis  es  mit  den  Aus- 
läufern der  Gruppe  des  Basardjusi,  nahe  der  Uferregion  des  Kaspischen  Meeres, 


*)  In  der  Tat  setzt   das    Gebirgssystem    des  Kaukasus   unter   dem  Kaspischen  Meere  fort, 
schliesst  an   die   asiatischen    Gebirgsketten  und  wird    so   zum   Bindegliede   zwischen   zwei  Erdteilen. 


ElNTKII,UX(;    DES    KAlKASlSlllEX    GElilRGSSVSTE.MS. 

sich  in  unbedeutende  Bergzüge  zersplittert.  Die  Länge  dieses,  den  Charakter 
des  Hochgebirges  tragenden  Teiles  des  Kaukasus,  von  der  Mschtgruppe  bis 
zum  Massiv  des  Basardjusi,  beträgt  650  Kilometer,  was  in  den  Alpen  etwa  der 
Entfernung  des  Monte  Viso,  südwestlich  von  Turin,  bis  zum  Schneeberge 
bei  Wien  gleichkommt.  Auch  in  der  Breite  nimmt  das  kaukasische  Ge- 
birge mit  dem  Fortschreiten  nach  Südosten  bedeutend  zu,  erreicht  im  Meri- 
diane des  Elbruss  eine  Ausdehnung  von  über  100  Kilometern,  die  sich  im 
zentralen  Teile  bis  auf  1 30  bis  1 50  Kilometer  erhöht,  um  nach  einer  Ein- 
engung am  Terekeinschnitte  bis  nahezu  60  Kilometer,  im  Osten,  im  Daghe- 
stanischen  Berglande  wieder  bis  135  Kilometer  anzuwachsen.  Die  Breite  des 
zentralen  Kaukasus  zwischen  Naltschik,  einer  in  den  nördlichen  V'orbergen 
gelegenen  Ortschaft,  und  den  südlichen  Ausläufern  bei  Kutais  beträgt  etwa 
155  Kilometer,  ungefähr  so  viel,  wie  diejenige  zwischen  Luzern  und  Arona 
am   Lago  Maggiore. 

Der  bestimmende  Grundzug  im  Aufbau  des  Kaukasus  ist  der  eines 
Kettengebirges  mit  vielfach  gebogenen  Kammlinien;  es  muss  aber  als  eine 
irrige  Vorstellung  bezeichnet  werden,  ihn  als  eine  einfache  Bergkette  aufzu- 
fassen, dieselbe  muss  sich  vielmehr  der  Anschauung  hinneigen,  dass  der 
Kaukasus  ein  Gebirgssystem  bildet,  welches  ein  mannigfach  gegliedertes 
Gefüge  besitzt,  dessen  einzelne  Teile  orographisch  zusammengehören.  Die 
Erscheinungen,  wie  sie  die  Oroplastik  des  kaukasischen  Hochgebirges  bietet, 
legen  es  nahe,  dasselbe  in  drei  Hauptabteilungen  zu  gliedern.  Als  zentralen 
Kaukasus  stellt  sich  das  Teilstück  dar,  welches,  um  die  zwei  bekanntesten 
Hochgipfel  des  Kaukasus  anzuführen,  vom  Elbruss  und  Kasbek  flankiert  wird. 
Will  man  die  Grenzlinien  genauer  präzisieren,  so  liegen  sie  im  Westen,  im 
Ouellgebiete  des  Kuban,  am  Kluchor-Pass,  an  der  imeritinischen  Heerstrasse, 
die  in  der  Höhe  von  28 13  m  als  Saumpfad  über  die  Hauptkette  führt,  und 
im  Osten  am  Kreuz-Pass,  welchen  die  gru.sinische  Heerstrasse  in  2379  m  Höhe 
überschreitet.  Im  Westen  vom  Kluchor-Pass  liegt  der  westliche,  im  Osten 
des  Kreuz-Passes  der  östliche   Kaukasus. 


Odessa. 


I.   KAPITEL. 


Nach  dem  Kaukasus. 

Anil   1   will   <ret  nw  to    some   far-off  land, 
Wherc   higher  mountains  uniler   licaven   stand 
And  touch  tlie  bluo  at  lisiiiff  of  the  stars. 

George  Elliot. 

Von  Budapest  führt  die  Bahn  über  das  Karpathische  Randgebirge 
nach  Lemberg  und,  die  russische  Grenze  bei  Woloczysk  überschreitend, 
nach  Odessa.  Die  Wellen  des  Schwarzen  Meeres  brechen  sich  an  den 
Klippen,*)  mit  welchen  die  südrussische  Steppe  bei  Odessa  zum  Meere 
abfällt.  Oben  auf  dem  hohen  Plateau  breitet  sich  die  Stadt  aus.  Mit  einem 
der  schönen  Dampfer  der  »Russischen  Schwarzmeer -Gesellschaft«  setzten  wir 
die  Reise  fort.  Langsam  entschwinden  dem  Blicke  der  schöne  Boulevard, 
von  welchem  die  imposante  steinerne  P'reitreppe  hinab  zum  Hafen  führt, 
langsam  das  von  hohen,  vielkuppligen  Türmen  überragte  Häusergewirre  der 
Stadt,  und  der  Dampfer  eilt  an  mit  Villen  und  Landhäusern  dicht  besäten 
Uferpartien  vorbei,   hinaus   auf  die   freie   See. 

Nach  fünfzehnstündiger  Fahrt  kommt  am  folgenden  Morgen  die 
bergige  Landschaft  der  Krim  in  Sicht,  an  deren  Fuss  das  flache  Kap 
Chersonnes  mit  seinem  Leuchtturme  in  das  Meer  hineinragt.  Der  Dampfer 
läuft  in  die  weit  eingeschnittene  Bucht  von  Sewastopol  ein.     Wir  benutzen 


*)  Steppen -Kalke. 


DiK   SÜDKÜSTK    DER    KUIM. 

einen  nielirstiindiyen  Aulcnthalt,  um  eine  Riincltahrt  durcli  die  zum  Teil  neu 
aufgebaute  Stadt  zu  maclien,  an  neuen  Befestigungswerken  und  allen  I'Vied- 
höfen  vorbei.  Der  Wind  wirbelt  den  Staub  von  der  trockenen,  vegetations- 
losen Steppe  auf,  die  sich  wellenförmig  gegen  Norden  hinzieht,  hn  Südosten 
ragt  die  Bergkette  auf,  welche,  von  grauem  Dunst  umhüllt,  die  breite  Ma.sse 
des  Tschachrdagh  abschliesst. 

PZrst  mit  dem  Umschiffen  des  chersonnesischen  Vorgebirges  und 
nachdem  man  Balaklawa  passiert  hat,  folgt  auf  die  kahle  Oede  der  Um- 
gebungen Sewastopols  jener  durch  Schönheit  der  Formen  und  Reichtum 
der  Vegetation   ausgezeichnete  Küstensaum  des  Schwarzen  Meeres,   der  die 


Südk  liste    der    Krim. 

Landschaft  der  Krim  zu  einer  vielgepriesenen  gemacht  hat.  Ist  auch  die 
ihr  von  vielen  gezollte  Bewunderung  eine  zu  überschwengliche,  so  wird  der 
Reichtum  an  Naturschönheiten,  der  diese  Landschaften  auszeichnet,  mit 
ihrem  Wechsel  der  Ausblicke  auf  Berg  und  Tal,  auf  Meer  und  Uferklippen, 
fesseln.  Es  sind  die  Südabdachungen  der  vom  Plateau  bei  Sewastopol 
sichtbaren  Kalkkette,  weiche  hier  in  steilem  Abfalle  an  die  See  heraus- 
treten. Der  Dampfer  fährt  nahe  an  der  Küste  hin  und  bietet  so  in  rascher 
Aufeinanderfolge  den  Anblick  ihrer  Schönheiten.  Die  Bergkette  rückt  bald 
näher  an  das  Meeresufer,  bald  weicht  sie  wieder  zurück  und  gibt  einer 
nur  wenig  ansteigenden,  von  südlichen  W^äldern  bedeckten  Küste  Raum. 
Ott  jedoch  verschwindet  dem  Auge  der  schmale  Küstensaum,  und  dann 
scheinen  die  Berge  als  steil  abfallende  Vorgebirge  und  Kaps  unvermittelt  in 
die  See  hinauszutreten. 


Kektscii  lni>  das  Meer  von  Asow. 

Kill  in  üpiji^er  Vegetation  prangendes  Ufergelände,  von  Schlössern 
und  \'illen  belebt,  unter  welchen  Orianda,  Alupka  und  Livadia  durch 
glückliche  Verbindung  von  Kunst  und  Natur  weit  berühmt  geworden  sind, 
gleitet  als  Wandeldekoration  vor  dem  Seefahrer  vorüber,  bis  die  kleine, 
halbkreisförmige  Bucht  von  Jalta  sich  öffnet.  Am  Bergrund  steigen  die 
Häuser  und  Villen  amphitheatralisch  empor,  hinter  denselben  erhebt  sich 
waldiges   Gehänge,   von  felsigen   Graten  gekrönt. 

Als  der  Dampfer  die  Anker  hob,  war  es  Nacht,  und  am  Bergrücken 
von  Jalta  flimmerten  bis  hoch  hinauf  die  Lichter  und  leuchteten  noch  lange 
hinaus  auf  die  dunkle,  stille  See. 


Jalta. 


Am  frühen  Morgen  [massieren  wir  Feodossia,  das  Kaft'a  der  Genuesen, 
und  am  \^ormittag  konunt  tue  Halbinsel  von  Taman  in  Sicht.  Die  Küste 
der  Krim  schiebt  zur  Linken  das  mit  einem  Leuchtturm  gekrönte  Kap 
Takil-Buran  vor,  während  zur  Rechten  die  Halbinsel  Taman  mit  dem  Kap 
Kischela  sich  ausdehnt.  Zwischen  beiden  zieht  die  Meerenge  von  Jeni-Kale, 
der  kimmerische  Bosporus  der  Alten.  Einige  Stunden  später  lässt  der 
Dampfer  vor  der  Reede  von  Kertsch  die  Anker  fallen.  Die  Küste  ist  von 
niedrigen  Sandhügeln  umsäumt.  Ueber  Kertsch  erheben  sich  die  sonnen- 
verbrannten Hänge  des  Berges  von  Mithridates,  auf  dessen  Höhe  ein  kleiner 
Säulentempel  steht,  in  welchem  früher  die  in  der  l'mgebung  ausgegrabenen 
Altertümer,  bevor  sie  zum  allergrössten  Teile  in  die  Eremitage  nach 
Petersburg  gebracht  wurden,  aufgestellt  waren.  Abends  fuhren  wir  langsam 
durch  die  Enq;e  in  das  Meer  von  Asow.     Eine  kühle  Brise  wehte;  die  Glut 


Dil'.  Ke'I'I'k  des  Kaikasus  krscukint  am  Horizont. 

tler  Sonne,  welche  über  Kertsch  lai;-,  ist  gebrochen,  und  ihre  letzten  -Strahlen 
zaubern   jetzt    nur   noch   Farbeneffekte    an    den   Sanddiinen    der  Ufer   hervor. 

Am  Abend  des  folgenden  Tages  ist  das  Nordende  des  Asowschen 
Meerbusens  erreicht.  Eine  dichte  Staubwolke  verhüllt  das  auf  hohem  Sand- 
steinplateau  liegende    laganrog. 

In  früher  Morgenstunde  des  nächsten  Tages  führte  uns  die  Bahn 
nach  Rostow  am  Don.  Die  Stadt  breitet  sich  zu  beiden  Seiten  des  von 
einer  Eisenbahnbrücke  überspannten  Musses  aus  und  bietet,  von  einer  hohen, 
vieltürmigen   Kirche   im   byzantinischen   Stil   überragt,   einen  schönen  Anblick. 

Die  Eisenbahn  zieht  durch  die  reich  kultivierten  Ländereien  des 
Dongebietes  und  wendet  sich  später  südwärts.  Die  Gegend  nimmt  den 
Charakter  der  Steppe  an.  Mit  Tagesanbruch  haben  wir  das  Plateau  von 
Stawropol  erreicht.  Wir  nähern  uns  dem  Kaukasus.  Im  Süden  erhebt  sich 
das  Terrain  in  flachen  Terrassen  zum  Fusse  des  Gebirges.  Die  geraden 
Linien  werden  unterbrochen,  und  aus  der  Hochebene  treten  die  scharf- 
geschnittenen Formen  einer  Reihe  niedriger  Berge.  Im  Dämmerlichte  des 
frühen  Morgens  bietet  das  Eruptivmassiv  des  Beschtau,  zackige  Felsberge, 
welche  aus  der  gewellten  Hochfläche  aufragen,  eine  fremdartige  Landschafts- 
szenerie. Plötzlich  wird  der  Blick  von  diesem  pittoresken  Vordergrund  nach 
dem  südlichen  Horizont  gezogen.  In  riesigen  Grössenverhältnissen  ist  dort 
ein  i-soliert  aufragendes  Gebirge,  doppelgipflig,  in  einen  blendend  weissen 
Schneemantel  gehüllt,  erschienen:  es  ist  Elbruss  —  der  Minghi-Tau  der 
Kaukasier  — ,  der  höchste  Gipfel  des  Kaukasus,  5629  m  über  der  Meeres- 
fläche. Am  Pusse  der  Berge  wogte  ein  grauer  Nebelschleier.  An  den 
Schneekuppen  des  mit  majestätischer  Würde  in  die  Wolken  sich  erhebenden 
Berges  entzündete  das   Rot  des  anbrechenden   Tages   eine   Feuersglut. 

Die  Bahnlinie  in  ihrem  nach  Süden  gerichteten  Verlaufe  führt  immer 
mehr  den  kaukasischen  Bergen  entgegen.  Als  lange,  ununterbrochene  Kette 
erscheinen  sie  am  Gesichtskreise.  Ueber  bewaldeten  Vorbergen  steigen 
zerrissene  Felsgrate  auf;  zwischen  denselben  ziehen  die  Linien,  welche  die 
Spalten  der  Ouertäler  andeuten.  Begünstigt  von  einer  reinen  Atmosphäre, 
lassen  sich  die  Schnee-  und  Eislager  erkennen,  welche  sich  in  den  Faltungen 
des  Gebirges  ausbreiten.  In  der  Höhe,  die  Kette  krönend  und  die  Lage 
der  mächtigsten  Gruppen  bezeichnend,  erglänzen  firnbedeckte  Gipfel,  scharf- 
geschnittene Firste  aus  I""els  und  Eis.  Unter  denselben  glaubte  ich  bei 
meiner  ersten  Fahrt  die  Spitzen  in  der  Gruppe  des  Koschtan-Tau  und 
Dych-Tau  und  das  Massiv  des  Adai-Choch,  im  Hintergrunde  des  Ardon-Tales, 
zu    erkennen.      Zu    voller   Geltung   gelangen    später    die   Gipfel,    welche   sich 


WlADIKAWKAS    —    AUSOANOSI'UNKT    KUR    Dir:    BkREISI'XC    des    IIoCIKUClilKrJES. 

vom  Adai-Choch  bis  zum  Kasbek  erheben,  da  man  ihnen  viel  näher  gerückt 
ist  und   ihrer  Breitseite   entlang   fährt. 

Der  Eindruck,  den  die  den  ganzen  Tag  währende,  allerdings  lang- 
same Bahnfahrt  entlang  der  Riesenlinie  des  zentralen  Kaukasus  auf  mich 
machte,  war  im  Banne  des  Elbruss  der  mächtigste.  Weiterhin  erlahmte  das 
Interesse  an  dem  Anblicke  des  Bergwalles,  dessen  Schönheit  durch  den 
Mangel  eines  pittoresken  Vordergrundes  beeinträchtigt  wird.  Die  weiten, 
wellenförmigen  Flächen,  welche  sich  am  Fusse  der  Berge  ausdehnen,  sind 
schwach  bevölkert,  und  nur  selten  sind  die  Häusergruppen  russischer  An- 
siedlungen  sichtbar ;  der  Boden  ist  meist  ohne  Kulturen,  sonnenverbrannt, 
der  Steppe  gleichend.  Aber  immer  mehr  nähert  man  sich  dem  hochragenden 
Gebirge,  bewaldete  Vorberge  treten  heran,  und  das  früher  mehr  einer  Ebene 
gleichende  Terekgelände  nimmt  das  Aussehen  einer  breiten  Tallandschaft  an. 

Damals  war  Wladikawkas  (russisch  =  die  Beherrscherin  des  Kaukasus) 
der  Endpunkt  der  Bahnlinie.  Die  Stadt  liegt  in  einer  Seehöhe  von  715m 
am  Fusse  der  pittoresken  Masse  des  Tafelberges.  Ueber  den  bewaldeten 
Vorbergen  erheben  sich  die  Gipfel  der  Kasbekgruppe  und  im  Osten  die 
Berghöhen  aus  den  chewsurischen  Alpen.  Die  Stadt  beherrscht  im  Norden 
die  einzige  über  den  Kaukasus  führende  fahrbare  Strasse  und  ist  daher  ein 
wichtiger  Punkt  für  die  militärische  und  politische  Verwaltung  Kaukasiens.  Aus 
seinen  oberen  schluchtigen  Talstufen,  drei  einander  folgende  geologische  For- 
mationen, das  kristallinische  Urgebirge,  die  Jurakette  und  den  Kreidewall 
durchbrechend,  tritt  der  Terek  in  das  breite,  von  Tertiärhügeln  umrandete 
Becken  von  Wladikawkas.  Mächtige  Diluvialgeschiebe,  alte  lakustre  Ablage- 
rungen lassen  schliessen,  dass  das  weite  Faltungsbecken  in  geologischer  Vor- 
zeit von  einem  See  erfüllt  war,  und  Massen  von  Glazialschutt  sowie  zahl- 
reiche  erratische   Blöcke  sind   Zeugen   einer  entschwundenen   Eiszeit. 

Von  Wladikawkas  sollte  die  Bereisung  des  Hochgebirges  in 
Angriff  genommen  werden.  Ich  war  nicht  allein:  zwei  Bergführer  aus 
den  Schweizer  Alpen  kamen  mit  mir.  Gletscherwanderungen  und  hohe 
Bergbesteigungen,  die  an  erster  Stelle  meines  Reiseprogrammes  standen  und 
die  die  Erforschung  der  kaukasischen  Hochregionen  ermöglichen  sollten, 
sind  für  einen  einzelnen  Menschen  unausführbar.  Ein  einzelner  kann 
zerklüftete  Gletscher,  weite  Firnfelder  allein  nicht  überschreiten,  ohne  durch 
Einbrechen  in  die  oft  mit  einer  trügerischen  Schneedecke  verhüllten  tiefen 
Eisspalten  sein  Leben  aufs  Spiel  zu  setzen.  Die  durch  die  Ersteigungen 
der  höchsten  und  schwierigsten  Alpengipfel  in  der  zweiten  Hälfte  des  letzten 
Jahrhunderts   hoch   entwickelte  Technik  des  Bergsteigens  erfordert  auch  für 


]5i:kgfCiirer  ai;s  dkx  Alpen  im  Kaukasus. 

das  Erklettern  vun  steilen  Felswänden ,  vereisten  Hängen  und  scharfen 
Firnschneiden  die  Anzahl  von  drei  —  nur  ausnahmsweise  von  zwei  — 
Personen.  Diese  Bedingungen,  sowie  das  bei  Berg-  und  Gletscherfahrten 
in  Anwendung  kommende  System  des  gegenseitigen  Anseilens  der  daran 
teilnehmenden  Personen  kann  wohl  heute  bei  der  in  die  weitesten  Kreise 
gedrungenen  Kenntnis  der  Entwicklung  des  Alpinismus  als  bekannt  vor- 
ausgesetzt werden.  Die  technischen  Errungenschaften  aber  des  Alpinismus 
sind  es,  die  höheren  Zwecken  bei  Erforschung  der  aussereuropäischen  Hoch- 
gebirge dienstbar  gemacht  werden  sollen. 

Es  wurde  oft  die  Frage  gestellt,  warum  im  Kaukasus  nicht  ein- 
heimische h'ührer  verwendet  werden,  und  welche  Dienste  Alpenführer  in  den 
ihnen  unbekannten  Gegenden  leisten  können.  Der  erste  Teil  der  Frage 
war  leicht  zu  beantworten:  weil  es  im  Kaukasus  überhaupt  keine  Führer 
gab.  Die  einheimischen  Bergbewohner,  sonst  rüstige  Gänger,  haben  ebenso- 
wenig versucht,  die  eisigen  Hochgipfel  ihrer  Heimat  zu  erklettern,  wie  der 
Tiroler  oder  Schweizer  Bauer  vor  zweihundert  jähren  die  höchsten  Spitzen 
der  Alpen.  Das  Gebiet,  welches  über  den  obersten  Weideplätzen  liegt, 
hatte  für  beide  kein  Interesse;  nur  tier  Jäger  machte  gelegentlich  einen 
Streifzug  in  die  höheren  Regionen,  und  nur  gezwungen  benutzten  die  Berg- 
bewohner in  seltenen  Fällen  Hochpässe  als  Uebergang  in  andere  Talgebiete. 
Nichts  aber  führte  sie  auf  das  schwer  zu  begehende  F^els-  und  Eisterrain 
der  Gletscherwelt,  in  die  höchsten  Regionen  der  Hochgebirge.  Während 
der  Talwanderungen  bis  auf  die  letzten  begrasten  Bergrücken  oder  über 
einzelne  Hochpässe  dienen  die  Einheimischen  als  Wegweiser;  in  der  Gletscher- 
region aber  muss  der  Hochgebirgsforscher  in  dem  ohnedies  in  immer- 
währender Veränderung  begriftenen  Gebiete  selbst  die  Route  auf  die  eisigen 
Gipfel,   über  die  hohen  Gletscherpässe  suchen. 

FVeshheld,  Grove  und  ich  waren  die  ersten,  welche  Alpenführer  nach 
aussereuropäischen  Hochgebirgen  mitnahmen;  Freshfield  1868  Fran(;'ois 
Devouassoud  aus  Chamonix,  und  J.  C.  Grove  1874  Peter  Knubel  aus  dem 
Wallis  nach  dem  Kaukasus,  während  ich  1879  mit  Andreas  Maurer  aus 
dem  Berner  Oberland  nach  dem  Sikkim-Himalaya  reiste.  Bergführer  aus 
Tirol,  den  Schweizer  und  Italienischen  Alpen  haben  seitdem  an  der  Er- 
forschung der  aussereuropäischen  Hochgebirge  teilgenommen.  Während 
einige  von  ihnen  die  ausgezeichneten  Eigenschaften,  die  sie  in  ihrem  Heimats- 
gebirge entwickeln,  ihren  Mut  und  ihre  Ausdauer  auch  in  den  fremden  Hoch- 
CTebirtren  zur  Geltung  orebracht  haben,  konnten  andere  sich  den  ungewohnten 
Verhältnissen  schwerer  anbequemen,  das  im  Vergleiche  mit  den  Bergfahrten 


ViirbEkkitungen  für  die  Gei!irc;skeise. 

in  den  heimischen  Alpen  so  iinsas^bar  rauhere,  entbehrungsreichere  Leben 
nicht  ertragen,  wozu  dann  noch  oft  Erkrankungen,  die  P'olge  des  schädlichen 
Einflusses  ungünstiger,  ungewohnter  klimatischer  Verhältnisse  und  endlich 
ein  Gefühl  von  Heimweh  sich  gesellten.  Was  in  den  allermeisten  Fällen 
den  Alpenführern  nicht  behagte,  war  die  Reise  selbst  durch  die  Niederungen 
bis  an  den  Fuss  des  Gebirges,  die  Wanderungen  durch  die  oft  sehr  aus- 
gedehnten Talgebiete.  Waren  sie  einmal  inmitten  der  Gletscherregion,  im 
Aufstiege  zur  Gipfelhöhe,  zum  erstrebten  Ziele,  bei  der  Ueberwindung  der 
Schwierigkeiten,  welche  die  Natur  des  Gebirges  entgegenstellt,  so  fühlten 
sie  sich  meist  besser,  auch  bei  den  Entmutigten,  den  Wankenden  erwachte 
die  Kraft,   der  Ehrgeiz,  der  Wille,  den  Erfolg  zu  erringen. 

Als  ich  vor  Antritt  meiner  Reise  Umschau  nach  Genossen  unter  den 
Alpenführern  hielt,  entbehrte  ich  schmerzlich  meinen  treuen,  erprobten  Be- 
gleiter auf  der  Fahrt  nach  dem  fernen  Sikkim-Himalaya.  Ein  unbarmherziges 
Geschick  bereitete  dem  tatkräftigen,  kühnen  Mann  einen  frühen  Tod:  Drei 
Jahre  nach  unserer  Himalayaexpedition,  nachdem  wir  noch  in  den  Alpen 
die  zu  jener  Zeit  zu  den  schwierigsten  Ersteigungen  zählenden  Gipfel  der 
Dent  Blanche,  der  Aiguille  Verte  und  des  Rothorn  (von  Zermatt  nach  Zinal) 
zusammen  bezwungen  hatten,  stürzte  Maurer  am  3.  August  1882  mit  dem 
englischen  Bergsteiger  Pennhall  am  Wetterhorn,  wahrscheinlich  als  Opfer 
einer    abbrechenden   Eislawine. 

Meine  Gefährten  waren  diesmal  zwei  Bergführer  aus  der  Schweiz: 
Alexander  Burgener  und  Peter  Ruppen,  beide  aus  dem  Wallis.  Burgener 
gehörte  zu  den  erfahrensten  und  kühnsten  Berggängern  der  Alpen;  gleich 
ausgezeichnet  auf  Fels  und  Eis,  kräftig  und  kühn,  hatte  er  die  in  jener 
Zeit  schwierigsten  Ersteigungsprobleme  gelöst.  Ich  hatte  es  Burgener  über- 
lassen, einen  zweiten  jungen  und  kräftigen  Mann  mitzubringen;  seine  Wahl 
fiel   auf  Peter  Rup|:>en. 

In  Wladikawkas  sollten  die  letzten  Vorbereitungen  für  die  Reise  in 
das  Hochgebirge  getroffen  werden.  Das  K.  und  K.  österreichisch-ungarische 
Ministerium  des  Aeussern  hatte  sich  im  Wege  der  K.  u.  K.  öster.-ung.  Bot- 
schaft in  St.  Petersburg  mit  dem  Ersuchen  an  die  Kais,  russische  Regierung 
gewandt,  mich  in  der  Ausführung  meiner  Reisepläne  zu  unterstützen.  In 
Erfüllung  dieses  Ansuchens  hatte  die  Kais,  russische  Regierung  die  Güte, 
den  Behörden  in  Kaukasien  die  Förderung  meiner  Reisezwecke  zu  empfehlen. 
In  Wladikawkas  wurde  mir  die  offene  Order  (russischer  Otkrity  List)  des 
Generalgouverneurs  von  Kaukasien,  Fürsten  Dondukow-Korsakow,  behändigt, 
in  welcher  Ziele    und  Zwecke    meiner  Reise   dareeleg-t    waren   und    alle  Be- 


Reis?:vekhältnissk  im  katkasisciien  Hochckiurge. 

hörden  aufgefordert  wurden,  mich  in  der  Ausführung  derselben  zu  unter- 
stützen. Der  Gouverneur  von  W'ladikawkas,  General  von  Yurkowsky,  gab 
diesem  Vorschreiben  in  liebenswürdigster  Weise  tatkräftige  Folge.  Ohne 
diese  Empfehlungen  und  ohne  diese  Unterstützung  wäre  damals  eine  Reise 
in  das  Hochgebirge  unmöglich  gewesen,  ja  sie  wäre  auch  in  gewissen  Teilen 
desselben  nicht  gestattet  worden.  Für  eine  Reise  in  Kaukasien,  welche 
sich  auf  die  landläufige  Tour  nach  Borschom,  nach  den  nordkaukasischen 
Bädern  und  über  die  grusinische  Heerstrasse  nach  Transkaukasien,  eventuell 
auf  den  Nordfuss  des  Daghestan  beschränkt,  ist  eine  solches  Vorschreiben  teils 
unnötig,  teils  ohne  besondere  Bedeutung.  Sobald  jedoch  der  Reisende  von 
diesen  Linien,  welche  zu  den  bequem  erreichbaren  Reisezielen  gehören,  sich 
entfernt  und  in  die  von  wilden  Völkerschaften  bewohnten  Hochtäler  dringt, 
deren  Sprache  er  nicht  versteht  und  die  in  der  Beschränktheit  ihrer  eigenen 
Hilfsmittel  dem  Reisenden  nur  wenig  bieten  können,  werden  sich  Schwierig- 
keiten in  bezug  auf  Beförderungsmittel,  Unterkommen  und  V'erpflegung 
bieten,  zu  deren  Ueberwindung  eine  sorgfältige  Vorbereitung  nötig  ist  und 
bei   welcher  die   Unterstützung  der  Behörden    unentbehrlich  war. 

Eine  erste  Schwierigkeit  bildete  die  Beschaffung  eines  Dolmetsch. 
Derselbe  sollte  wenigstens  eine  der  von  den  Bergbewohnern  gesprochenen 
Sprachen  kennen  und  bei  meiner  damaligen  Unkenntnis  des  Russischen  auch 
irgend  eine  der  europäischen  Sprachen.  Ein  solcher  Mann  war  jedoch  in 
Wladikawkas  nicht  zu  finden.  General  von  Yurkowsky  hatte  nun  die  aus- 
nehmende Güte,  Herrn  .Staatsrat  W.  Dolbischew,  Lehrer  am  Gymnasium  zu 
Wladikawkas  und  durch  seine  archäologischen  Forschungen  in  weiteren 
Kreisen  bekannt,  zu  ersuchen,  auf  meine  Einladung  sich  während  des  ersten 
Teiles  meiner  Reise  mir  anzuschliessen.  Ausserdem  sollte  mir  immer  ein 
Kosak  von  den  in  der  Miliz  dienenden  Soldaten  beigegeben  werden,  welcher 
jener  Völkerschaft  angehörte,  oder  doch  ihre  Sprache  kannte,  in  deren  Ge- 
biet sich  meine  Reise  bewegte.  Dieser  musste  auch  etwas  des  Russischen 
mächtig  sein,  damit  eine  Verständigung  mit  den  Eingeborenen  durch  Ver- 
dolmetschung des  Herrn  Dolbischew  mir  möglich  gemacht  werde.  Ferner 
traf  General  von  \'urkowsky  die  Verfügung,  dass  im  späteren  Verlaufe  meiner 
Reise  ein  Mitglied  des  im  Bakssantale,  am  Fusse  des  Elbruss  ansässigen  ein- 
geborenen Feudalgeschlechtes  Urusbiew,  Hamsat  Urusbiew,  der  etwas  fran- 
zösisch sprach,  zu  mir  stossen  sollte,  um  mich  auf  der  Reise  durch  das 
Gebiet  seiner  Stammesgenossen  zu  begleiten. 

Nachdem  auf  diese  Weise  die  grösste  Schwierigkeit  behoben  war, 
galt  es,    das    Reisegepäck,    das    in   Koffern    und    Kisten    nach    W'ladikawkas 


DiK  Reiseausrüstung. 

transportiert  wurde,  auf  eine  den  Beförderungsmitteln  im  Gebirge  —  Trag- 
tiere oder  Träger  —  angepassten  Weise  umzupacken.  Was  die  Reiseaus- 
rüstung betrifft,  so  hatte  ich  mich  auf  das  Allernötigste  beschränkt,  soweit 
dadurch  die  Reisezwecke  selbst  nicht  gefährdet  erschienen,  da  ich  darin  die 
einzige  Möglichkeit  des  Fortkommens  im  Hochgebirge  erblickte.  Da  ich 
damals  noch  keine  Erfahrung  auf  Reisen  im  kaukasischen  Hochgebirge  hatte, 
war  ich  in   dieser  Beziehung  vielleicht  ein  wenig  zu   weit  gegangen. 

Den  wichtigsten  Bestandteil  der  Ausrüstung  bildete  ein  kleines  Zelt, 
welches,  von  dem  berühmten  Anden-  und  Alpenreisenden  Whymper  konstruiert, 
als  Whymperzelt  bekannt  ist  und  mir  schon  wiederholt  bei  Bergreisen  gedient 
hatte.  Es  ist  aus  wasserdichter  Segelleinwand  dachähnlich  gebaut  und  besitzt 
einen,  mit  den  Seitenwänden  zusammenhängenden,  Boden.  Dies  verhindert 
in  hohem  Masse  das  Eindringen  von  Nässe  und  schützt  auch  gegen  Kälte. 
Die  vorn  und  hinten  in  Verwendung  kommenden  Zeltstangen  werden  in 
der  Mitte  au.seinander  genommen,  wodurch  sie  im  Hochgebirge,  insbesondere 
bei  Begehung  von  Felswänden,  leichter  transportiert  werden  können.  Das 
Zelt  wird  mittels  Schnüren  an  in  den  Boden  getriebenen  Pflöcken  befestigt 
und  widersteht  dem  heftigsten  Sturme.  Es  hatte  bequem  Raum  für  zwei, 
zur  Not  für  drei  Personen.  Ueber  den  Zeltboden  wurde  noch  eine  Gummi- 
decke gebreitet  und  an  den  Zeltvvänden  befestigt ;  ich  hatte  ausserdem  eine 
zusammenrollbare  Korkmatratze,  die  ich  in  Calcutta  erworben  und  die  mir 
schon  im  Himalaya  gedient  hatte.  Ich  benutzte  ferner  eine  mit  Pelz  ge- 
fütterte Decke,  die  in  der  unteren  Hälfte  die  Form  eines  Sackes  hatte. 
Bei  einem  F"reilager  wurde  noch  eine  dünne  Gummidecke  darauf  geknüpft. 
Für  die  Führer  gab  es  Wolldecken  und  einen  gros.sen  .Sack  aus  dickem 
Kautschukstoff,  der  Raum  für  beide  bot.  Eine  einfache  Küchenbatterie,  die 
ich,  meinen  Bedürfnissen  angepasst,  mir  anfertigen  Hess,  und  die  mir  gleich- 
falls schon  im  Himalaya  gedient  hatte,  dazu  eiserne  Teetassen,  Teller, 
Löffel  und  Messer,  war  so  eingerichtet,  dass  alle  Teile  ineinander  und  in 
den  grössten  Kochtopf  passten,   über  den   dann  der  Deckel  geschnallt  wurde. 

An  Provisionen  wurde  nur  das  Allernötigste  mitgenommen.  Erbs- 
wurstsuppen, einige  Büchsen  Konservenguljasch,  Potted  Meats,  Sardinen, 
Liebigschen  Fleischextrakt  hatte  ich  mitgebracht.  I3en  Mangel  eines  grösseren 
Vorrates  an  Konserven  sollten  wir  aber  im  X'erlaufe  der  Reise  noch  bitter 
empfinden.  Tee,  Zucker,  Salz,  Kerzen,  Streichhölzer,  eine  Flasche  Sherry 
und  drei  Flaschen  Cognac  —  diese  für  äusserste  Fälle  bei  grossen  Berg- 
besteigungen und  als  Medizin  — ,  wurden  in  Wladikawkas  gekauft.  Eine 
Menge  anderer  Gegenstände  kamen  noch  hinzu  :   Laterne,  zusammenlegbarer 


VVlSSENSCHArrUCHE    INSTKL.MENTE. 

Wassereimer,  Stricke  zum  Festbinden  des  Gepäcks  auf  den  Sätteln  der 
Tragtiere,  einige  Werkzeuge,  wie  Holzhacke,  Hammer,  Stemmeisen,  Bohrer, 
Nägel,  Nähzeug  (Knöpfe  und  Bindfaden).  Endlich  waren  verschiedene  Kleinig- 
keiten, wie  Taschenspiegel,  Messer,  Kompasse  (wichtig  für  Mohammedaner), 
als  Geschenke   für  die   Bergbewohner  bestimmt. 

Zur  Ausrüstung  gehörten  ferner  die  für  Bergbesteigungen  nötigen 
Behelfe,  wie  Eisäxte  (eine  als  Reserve),  Gletscherseile  aus  bestem  Manila- 
hanf, Gletscherbrillen,  Schuhnägel.  An  Waffen  wurden  zwei  Revolver,  eine 
Kugelbüchse  und  Munition  mitgenommen.  Die  Reiseapotheke  war  mit  den 
wichtigsten  Mitteln   und   Verbandzeug  gut  au.sgestattet. 

Die  wissenschaftliche  Ausrüstung  bestand  aus  folgenden  Instrumenten: 
Zwei  Aneroide  von  Casella  und  Goldschmid,  Kochjiunktthermometer  von 
Casella,  zur  gelegentlichen  Kontrolle  der  Ablesungen  an  den  Aneroiden, 
mehrere  Thermometer,  Maximum-  und  Minimumthermometer,  Kompass 
und  Klinometer.  Die  Aneroide  wurden  vor  und  nach  der  Reise  mit 
dem  Normalbarometer  des  k.  u.  meteorologischen  Instituts  in  Budapest 
und  auch  während  der  Reise  in  Wladikawkas  und  TiHis  verglichen.  Die 
grösste  Aufmerksamkeit  wurde  dem  photographischen  Apparate  gewidmet, 
insbesondere  der  Verpackung  der  Glasplatten,  die  ein  grosses  Gewicht  in 
der  Reiseausrüstung  repräsentierten.  Kartenmaterial,  einige  Bücher,  Schreib- 
und Zeichenrequisiten,  Notiz-  und  Skizzenbücher,  sowohl  für  Notizen  als 
für  Registrierung  der  photographischen  Aufnahmen  und  der  AI)lesungen  der 
Instrumente,  ergänzten  das  Vorstehende.  Dazu  kam  endlich  unsere  persön- 
liche, allerdings  auf  das  Allernötigste  beschränkte  Ausrüstung,  Kleidung  und 
W'äsche,  unter  Berücksichtigung  von  hohen  Biwaks  und  Wanderungen  in 
der  Schneeregion. 

Die  ganze  Ausrüstung  wurde  zum  Teil  in  mitgebrachten  Sattel- 
säcken, zum  Teil  in  kaukasischen  .Säcken  (Sumcha)  und  in  Rucksäcken 
verpackt.  Die  Sattelsäcke  waren  so  eingerichtet,  dass  sie  sowohl  auf 
Tragtiere  geladen,  als  auch,  in  gleiche  Hälften  zerlegt,  mittels  zu  diesem 
Zwecke    angebrachteiu    Riemzeug    von   Trägern    getragen    werden    konnten. 

Manches  habe  ich  in  der  vorstehenden  Liste  nicht  aufgeführt.  Nichts 
aber  wurde  mitgenommen,  was  nicht  entweder  für  uns  persönlich  oder  für 
meine  Arbeiten  unbedingt  nötig  gewesen  wäre.  Trotz  grösster  Umsicht  in 
der  Zusammensetzung  der  Ausrüstung  und  weitgehendster  Beschränkung, 
war  die  Masse  des  Mitzunehmenden  bedeutend  angeschwollen,  und  das 
Sortieren  und  Verpacken  der  meine  Zimmer  in  Wladikawkas  bis  in  allen 
Ecken    füllenden,    auf    Tischen,    Stühlen,    Kästen,    Betten    und    am    Boden 


Der  zentrale  Kalkasls  -—  Kkiseceiuet. 

liegenden  Gegenstäntle  erforderte  eine,  zwei  Tage  Ijis  spiit  in  die  Nacht 
dauernde,   nahezu   ununterbrochene  Arbeit,    die   ich   allein  verrichten   musste. 

Erschcipft  und  ermattet  ging  ich  um  2  Uhr  morgens  des  20.  Juli  zur 
Ruhe,  nachdem  die  letzte  Kiste  geschlossen,  der  letzte  Sack  zugeriemt  war, 
und  einige  Stunden  später,  um  8  Uhr,  verliessen  wir  Wladikawkas.  Im  ersten 
Wagen  fuhren  Herr  Dolbischew  und  ich;  auf  dem  Kutschbock  sass  Burgener. 
Die  Instrumente  und  photographischen  Apparate  hatte  ich  bei  mir  im  Wagen. 
Eine  zweite  Telega  —  ein  Karren,  von  dem  noch  später  die  Rede  sein  wird  — 
war  mit  dem  Gepäck  beladen;  hoch  auf  demselben  thronten  Peter  und  der 
uns  begleitende  Kosak.  So  fuhr  ich  denn  endlich  dem  Gebirge,  dem  heiss 
ersehnten  Ziele  zu,   in  Erwartung  des   kommenden,   kühner  Pläne  voll. 

Die  Reise  sollte  sich  im  zentralen  Kaukasus  bewegen,  in  jenem 
Teile  des  kaukasischen  Gebirgssystems,  in  welchem  dessen  grossartige 
Hochgebirgsnatur  sich  am  mächtigsten  entwickelt,  seine  höchsten  Erhebungen 
liegen  und  die  Schneebedeckung  und  die  Gletschererscheinungen  ihre  grösste 
Ausdehnung  erreichen.  In  grossen  Zügen  hatte  ich  einen  Plan  für  meine 
Reise  in  diesen  Bergen  entworfen.  Zuerst  wollte  ich  in  jene  Hochgebirgs- 
gruppe  dringen,  welche  im  4647  m  hohen  Adai-Choch- Gipfel  kulminiert, 
versuchen,  denselben  zu  ersteigen  und  die  Gletscher  ihrer  Nordabdachung 
begehen.  Auf  einer  Wanderung  über  eine  Reihe  von  Hochpässen  sollten 
dann  möglichst  nahe  \om  Hauptkamme  die  gegen  Westen  einander  folgenden 
nördlichen  Ouertäler  besucht  werden,  insbesondere  die  Gletscher  im  Hinter- 
grunde des  Tscherek-  und  Besingi-Tales,  und  der  Versuch  gemacht  werden, 
den  Koschtan-Tau  genannten,  5000  m  übersteigenden  Hochgipfel  zu  bezwingen. 
Im  Bakssan-Tale,  am  Fusse  des  Elbru.ss  angelangt,  nahm  die  Ersteigung 
dieses  höchsten  kaukasischen  Gipfels  die  erste  Stelle  im  Reiseprogramm  ein. 
Ueber  einen  von  Reisenden  noch  nicht  betretenen  Gletscherpass  sollte  dann 
die  Hauptkette  des  Kaukasus  nach  Süden  überschritten  werden,  um  das 
parallel  mit  dem  Hauptkamm  streichende  swanetische  Hochtal  des  Ingur  zu 
erreichen.  Auch  dort  sollte  die  Ersteigung  eines  Hochgipfels  versucht  werden 
und    dann    die  Rückkehr   über   den   Latpari-Pass    in    das  Rion-Tal    erfolgen. 

Die  Reisezeit  im  Hochgebirge  ist  kurz  bemessen,  nur  die  Sommer- 
monate sind  benutzbar,  ein  früher  Schneefall  kürzt  oft  auch  diese  wenigen 
zur  Verfügung  stehenden  Wochen.  Die  lange  Reise  nach  Kaukasien  hatte 
zehn  Tage  gekostet ;  mit  den  Reisevorbereitungen  war  viel  kostbare  Zeit 
verstrichen,  und  zagend  fragte  ich  mich,  wie  viel  von  diesem  Reiseprogramm 
ein  gütiges   Geschick  mir  wohl  gestatten  werde,   zur  Ausführung  zu  bringen. 

Düchy:  Kaukasus.  2 


Kaukasiiskette    (Kasbek ijruppe")    aus    der   Te rekebene. 


II    KAPITEL. 


Von  Wladikawkas  in  die  Gruppe  des  Adai-Choch. 

Wie  vii^chirden  aiuli  (iic-  Anlorderuiiijeii  sind, 
welche  die  Forschuiiij  an  den  Geographen  stellt, 
überall  tritt  ein  Problem  in  den  Vordergrund, 
das  nur  ihn  aiifjeht;   das  ist  die  Erdoberfläche.': 

AllMecht  Penck:    Die  Physioffrapliie. 

Als  wir  am  Morgen  des  20.  Juli  über  die  gewellte  Tereksteppe 
fuhren,  war  das  Ardontal  und  die  im  Hintergrunde  desselben  aufragende 
Gruppe  des  Adai-Choch '■')  unser  Ziel.  Tertiärablagerungen,  von  machtigen 
(juartären  Sedimenten  bedeckt,  bilden  den  Boden  des  im  Talbecken  von 
Wladikawkas  bis  an  den  Fuss  der  Vorberge  sich  ausdehnenden  Flachlandes. 
Die  weite  Ebene  ist  ohne  Baum  und  Strauch,  von  verdorrtem  Graswuchs 
bedeckt.  Die  vereinzelten  niedrigen  Erdhügel  auf  ihr  sintl  Kurgane,  Grab- 
stätten längst  verschwundener  \'ölkerschaften. 

Im  Dorfe  Archonskaja,  einer  russischen  Ansiedlung,  wechselten  wir 
zum  erstenmale  Pferde  und  Wagen.  Wir  fahren  auf  der  landesüblichen 
Telega,  einem  auf  vier  Rädern  und  denselben  aufgesetzten  Stangen  ruhenden, 
muschelförmigen  Holzkasten.  Der  Wagen  hat  keine  Federn  und  auch 
keinen  Sitz.     Die  Stelle   desselben   vertritt  ein  Bündel  Stroh  oder   Heu.     Oft 


*)    Choch  im   Oäsetischen  gleich  Gipfel. 


UI':i;i:r  dtk  Teri'.kstepi'e. 

wird  in  Sitzeshühe  ein  Strick  in  vielfacher  V^ersclilingung-  angebracht,  unter- 
halb und  oberhalb  dieses  Strickgewebes,  »Pereplioth  genannt,  wird  Heu 
oder  Stroh  gelegt  und  tlarüber  eventuell  eine  bilzdecke  ausgebreitet.  Es 
verhindert  dieser  Pereplioth  durchaus  nicht,  dass  der  Reisende  unbarmherzig 
gerüttelt  und  gestossen  wird,  aber  die  Beständigkeit  des  mit  Stroh  her- 
gestellten Sitzes  wird  ein  wenig  \erlängert.  Man  gerät  eben  nur  später  in 
eine  Lage,  die  kein  Sitzen  mehr  ist.  Die  Telega,  die  zwei  Personen  Raum 
bietet,  ist  unbedeckt,  der  Reisende  daher  den  Unbilden  des  Wetters  voll- 
kommen preisgegeben.  Die  Pferde  werden  nach  russischer  Art  zu  dreien, 
Troika  ,  dem  Wagen  vorgespannt.  Das  mitdere  Pferd  geht  in  einer 
Gabeldeichsel  und  unter  einem  hohen,  mit  Glocken  gezierten  hölzernen  Joch, 
Duga  genannt.  Die  zumeist  guten  Pferde  werden  rasch  getrieben,  oft  die 
ganze   Strecke  im   Galopp. 

Nach  dem  Verlassen  von  Archonskaja  wurde  der  dem  Terek  zu- 
fliessende  Arclon  auf  einer  hölzernen  Brücke  übersetzt.  Die  trüben  Wasser 
schiessen  in  breitem  Bette  dahin,  stellenweise  die  niedrigen  Ufer  überflutend. 
Der  Fluss  verdient  seinen  Namen,  welcher  in  der  Sprache  des  von  Ossen 
bewohnten  Gebietes,  welches  er  durchströmt,  -wütendes  Wasser«  bedeutet. 
In  Ardonskaja,  einer  andern  russischen  Ansiedlung,  machten  wir  Mittags- 
station. Das  uns  hier  in  Aussicht  gestellte  Mittagessen  war  jedoch  nirgends 
aufzutreiben. 

Bald  nachdem  wir  aus  Ardonskaja  gefahren  waren,  wurden  wir  zu 
einem  längeren  Stillstande  gezwungen,  da  die  mit  dem  Gepäck,  Peter  und 
dem  Kosaken  beladene  Telega,  welche  meinem  Wagen  nachfahren  sollte, 
ausser  Sicht  gekommen  war.  Nachdem  wir  längere  Zeit  gewartet  hatten, 
ohne  dass  die  Telega  erschien  wurde  ich  über  den  Verbleib  des  Gepäcks 
um  so  besorgter,  als  ich  wusste,  dass  Peter  bei  einem  Unfälle  sich  nicht 
verständlich  machen  konnte;  ich  schickte  unsern  Kutscher  daher  auf  einem 
der  Wagenpferde  nach  Ardonskaja  zurück.  Es  währte  lange  bis  dieser 
Bote  zurückkehrte  und  folgendes  meldete:  Bald  hinter  Ardonskaja  hatte 
die  Telega  sich  einfach  in  ihre  einzelnen  Bestandteile  aufgelöst,  und  es 
musste  ein  anderer  Wagen  herbeigeholt  werden,  auf  den  das  Gepäck,  das 
glücklicherweise  keinen  Schaden  genommen  hatte,  übergeladen  wurde.  All 
dies  hatte  .selbstverständlich  eine  geraume  Zeit  in  Anspruch  genommen,  und 
wir  waren  glücklich,  als  endlich  die  Telega  anlangte.  So  geringfügig  solche 
Unfälle  erscheinen  mögen,  es  sind  dies  Minuten  unsäglicher  Qual  und  Sorge, 
die  der  Reisende  durchmachen  muss.  Durch  einen  unglücklichen  Sturz  des 
Wagens    können   Instrumente    und   Apparate    zerschmettert   und    mit   einem 


Das  NaciitijlartiI'.u  i\  Ai.agir. 

Schlage  alle  I  loffnungen,  die  der  Reisende  infolge  der  sorgfältigsten  Vor- 
bereitungen für  die  Krfolge  der  Reise  hegte,  vernichtet  werden.  Die  Apparate 
und  Instrumente,  soweit  als  möglich  auch  alle  photographischen  Platten,  ins- 
besondere die  schon  exponierten,  trachtete  ich  immer  in  meiner  unmittel- 
baren  Nähe,   unter  meinen   Augen   zu   haben. 

Von  Ardonskaja  wandten  wir  uns  in  gerader  Richtung,  südlich,  den 
Bergen  zu.  Die  Vegetation,  welche  sich  kräftiger  zu  entwickeln  beginnt, 
belebt  die  Hintörniigkeit  der  Steppe.  Zwischen  den  dichten  Stipa-Büscheln 
und  blühenden  Malven  wiegen  sich  die  lichtgrünen,  hohen  Thyrsagräser  im 
Winde.  Auch  eine  kleine  Waldoase  erfreut  das  Auge.  Das  aus  Laub- 
hölzern bestehende  kleine  Wäldchen  gilt  bei  den  Eingeborenen  als  heiliger 
Hain.  Schon  bei  den  alten  Schriftstellern  finden  wir  Mitteilungen,  welche 
auf  einen  Kultus  der  Wälder  bei  den  im  Altertum  in  Kaukasien  sesshaften 
Völkern  schliessen  lassen.  Insbesondere  bei  den  0.ssen  hat  sich  dieser 
Kult  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten.  In  mehreren  dieser  für  heilig  ge- 
haltenen Haine,  welche  oft  ausserhalb  der  Waldregionen  liegen,  werden 
jährlich  Feste  gefeiert  und  bei  diesen  dann  Opfertiere  geschlachtet  und 
Gaben  dargebracht,  geschmaust  und  auch  von  dem  selbstgebrauten  Ossen- 
bier  tüchtig  getrunken. 

Dort,  wo  Talgehänge  den  Ardon  zu  umschlie.ssen  beginnen,  erreichen 
wir  unsere  Nachtstation,  die  grosse  Ortschaft  Alagir.  Der  Ort  liegt  625  m 
hoch,   inmitten   von   Obstgärten,   und  gewährt   einen   freundlichen   Anblick. 

Alagir  ist  der  Sitz  eines  russischen  Bezirksvorstehers  —  Pristav  — , 
der  jedoch  bei  unserer  Ankunft  abwesend  war.  Wir  mussten  daher  selbst 
für  ein  Unterkommen  sorgen,  das  wir  endlich  in  einem  kleinen  Hause  eines 
russischen  Kolonisten  fanden,  der  uns  zwei  leere  Zimmer  zur  Verfügung 
stellte.  War  schon  durch  das  lange  Suchen  nach  einem  Nachtquartier  viel 
Zeit  verloren  gegangen,  so  war  es  späte  Nacht,  bis  es  mir  gelang,  die 
Materialien  für  ein  Abendessen  zusammenzubringen.  Selbstverständlich  konnte 
und  durfte  ich  um  keinen  Preis  unsere  nur  für  das  Hochgebirge  bestimmten 
Vorräte  und  Konserven  schon  hier,  am  P'usse  des  Gebirges,  in  bewohnter 
Gegend  angreifen.  Jetzt  war  die  Reihe  an  Burgener,  seine  Kochkunst  zu 
zeigen.  ( )h,  der  köstliche  Anblick,  als  ich  Ale.xander  zum  erstenmale  in 
seiner  gestrickten  Wolljacke  und  mit  Lagerkappe,  welch  letztere  die  Form 
einer  spitzen  Zipfelmütze  hatte,  seines  Amtes  walten  sah.  Es  wurden  Hühner 
bereitet.  Peter  assistierte.  Unsere  Küchenbatterie  wurde  hervorgesucht. 
Ich  deckte  den  Tisch,  half  auch  sonst  mit ;  musste  auch  noch  die  Aneroide 
und  Thermometer  ablesen. 

—    20    — 


Die  Geduldfrage  im  Kaukasus. 

Unterdes  war  der  Pristav  angelangt.  Nach  \''orzeigung  meiner  offenen 
Order  erklärte  er,  dass  es  schwierig  sein  dürfte,  zwei  Telegen  für  den 
nächsten  Tag  zu  beschaffen,  da  wohl  zwei  solche  Karren  in  Alagir  vorhanden 
seien,  einer  der  beiden  jedoch  in  total  unbrauchbarem  Zustande  sich  befinde 
und  der  andere  gleichfalls  einer  Reparatur  bedürftig  sei.  Bis  zu  Mittag 
glaubte  jedoch  der  Pristav,  wäre  es  möglich,  einen  Wagen  reisetüchtig  zu 
machen,  das  Gepäck  dagegen  luüsste  auf  Tragtiere  geladen  werden  und 
würde  dann  einen  Tag  später  in  St.  Nicolai,  unserm  nächsten  Nachtquartier, 
eintreffen. 

Diese  Mitteilung  machte  auf  mich  einen  fast  niederschmetternden 
Eindruck.  Nach  mehreren  Tagen  schlechten  Wetters  wiesen  alle  Anzeichen 
auf  eine  Besserung  hin,  und  diese  ersten  schönen  Tage  sollte  ich,  gleich 
am  Beginne  unserer  Reise,  nutzlos  mit  dem  Zuwarten  auf  das  Gepäck  ver- 
bringen !  Nein !  Ich  bestand  mit  grösstem  Nachdruck  darauf,  dass  beide 
Wagen  sofort  instand  gesetzt  würden  und  sollte  auch  die  ganze  Nacht 
daran  gearbeitet  werden.  Ich  ging  selbst  noch,  die  Wagen  zu  besichtigen,  und 
ruhte  nicht  eher,  als  bis  ich  vom  Pristav  die  Versicherung  erhielt,  dass  um 
5  Uhr  morgens  die  beiden  Wagen  und  die  benötigten  sechs  Pferde  bei- 
gestellt sein  würden.  Ich  kann  nicht  sagen,  dass  ich  vollkommen  beruhigt 
war,  mehr  konnte  ich  aber  nicht  tun.  Nur  eins  war  mir  klar:  der  Mann 
schien  mein  Drängen  absolut  nicht  begreifen  zu  können.  Ist  es  nicht  gleich- 
gültig, ob  man  einen  Tag  früher  oder  später  nach  St.  Nicolai  im  Ardontale 
(unserm  nächsten  Nachtquartiere)  kommt"  Das  war  sein  wiederholter,  fragen- 
der Ausruf.  Ich  kannte  noch  nicht  Kaukasien,  ich  hatte  es  noch  nicht  er- 
fahren, dass  nicht  nur  bei  den  Eingeborenen,  sondern  mehr  oder  weniger 
auch  bei  den  Russen  dort  der  Wert  der  Zeit  ein  unbekannter  Begriff  ist, 
ich  wusste  noch  nicht,  dass  auf  einer  Reise  im  Kaukasus  vor  allen  Dingen 
das  nötig  ist,  was  wir    Geduld  ^  nennen,  viel  Geduld  und  Geduld  vor  allem! 

Erst  nachdem  ich  die  Wagenfrage  erledigt  hatte,  kehrte  ich  in  unser 
Nachtquartier  zurück.  Mit  einem  Teile  der  Ausrüstung  hatten  wir  uns  teils 
auf  der  Diele,  teils  auf  einer  Bretterbank  das  Lager  bereitet,  indes  ich 
Herrn  Dolbischew  ein  bettähnliches  Holzgestell  überliess.  Es  war  wieder 
spät  geworden,  nahezu  Mitternacht,  bis  wir  zur  Ruhe  kamen  und  das  harte 
Lager  aufsuchen  konnten. 

Schon  um  4  Uhr  morgens  war  ich  wach.  Es  wurde  ein  Morgentee 
bereitet,  rasch  eingepackt  und  der  Kosak  abgeschickt,  um  nach  den  Telegas 
zu  sehen.  Läng.st  war  5  Uhr  vorüber,  aber  noch  kein  Wagen  war  er- 
schienen.    Nun  Hess  ich  mich  selbst  nach    dem  Standplatz    der  Wagen  ge- 

—    21     — 


VOROEBIRGSLANDSCHAFT. 

leiten.  \^erlasseii  und  einsam  lagen  dort  die  Bestandteile  zweier  Telegen 
auf  dem  Boden.  Es  bedurfte  der  grössten  Energie  von  meiner  Seite,  viel- 
leicht auch  etwas  Rücksichtslosigkeit,  mit  der  ich  den  Pristav  aus  seiner 
Morgenruhe  stören  Hess,  um  flott  zu  werden.  Es  waren  die  Erfahrungen, 
welche  ich  an  diesem  ersten  Tage  unserer  Reise  im  Gebirge  gemacht  hatte, 
keine  ermutigenden.  Um  7  Uhr  rollten  unsere  beiden  Telegen  aus  den 
Mauern  Alagirs.*) 

Es  war  ein  lieblicher  Morgen,  als  wir  in  die  Berge  fuhren,  und  in 
der  ersten  freudigen  Erregung  des  Betrachtens  der  sich  entfaltenden 
Schönheit  der  Landschaft  vergass  ich  für  einige  Zeit  das  unbarmherzige 
Rütteln   des  Teleea   «jenannten   Marterinstrumentes. 


N  a  c  h  a  s  -  Schlucht. 

Es  ist  eine  offene  Landschaft,  dvirch  die  man  in  südlicher  Richtung 
zwischen  einzelnen  Linden-  und  Erlenbeständen  sich  den  in  sanften  Linien 
verlaufenden,  dicht  bewaldeten  Vorbergen  nähert.  Etwa  9  km  von  Alagir 
tritt  der  Ardon  aus  der  engen  Nachas-.Schlucht.  Zur  Linken  bilden  bewaldete 
Hänge  mit  üppig  wuchernder  Vegetation,  zur  Rechten  pittoreske  Felsausläufer 
das  Defile.  Am  rechten  Talgehänge  zieht  die  Strasse.  In  der  Tiefe  tost 
der  Bach.  Blauer  Schattendunst  liegt  in  der  dunkeln  Enge,  nur  das 
schäumende  Wasser   vergolden   schräg  auffallende  Sonnenstrahlen.      Nahezu 


*)  Unmittelbar  hinter  Alagir  befand  sich  damals  ein  ärarisches  Hüttenwerk,  ein  von 
Türmen  flankiertes,  festungähnliches  Gebäude,  in  welchem  die  aus  dem  Ssadoner  Bergwerke  hierher- 
gebrachten silberhaltigen  Bleierze  verschmohen  werden.  In  den  letzten  Jahren  ist  der  Betrieb  des 
Bergbaues  im  Ardontale  einer  belgischen  Gesellschaft  übertragen  worden,  welche  ihn  in  intensivster 
Weise  in  Angriff  nahm,  grosse  Werke  anlegte  und  Strassen  baute.  —  Auch  in  Alagir  müssen  die 
Verhältnisse,   insbesondere  was   Unterkunft  betrifft,   eine  Veränderung    zum  Bessern    erf.ihren   haben. 


22 


Die  Schluchten  der  nörtilichen  Quertäi.er 


Neuer  ossetischer  (irabstcin. 


eine  Stunde  verfolgt  man  die  Win- 
dungen der  sich  später  etwas  erwei- 
ternden Schlucht,  und  bevor  man  sie 
verlässt,  schieben  sich  die  Seiten- 
wände noch  einmal  zusammen,  und 
über  denselben  erscheinen  die  schneei- 
gen Grate  des  dem  Hauptkamme  vor- 
gelagerten latitudinalen  Erhebungs- 
zuges. Diese  schluchtigen  Engen, 
in  welchen  die  vom  Hauptkamme 
niederziehenden  Bergströme  dessen 
nördliche  Vorlagen  durchbrechen,  sind 
charakteristisch  für  die  Ouertäler  des 
zentralen   Kaukasus. 

Man  konnte  auf  dem  Wege  zu- 
erst mächtige  Tuffe  eines  Biotit- 
Andesits  beobachten,  welche  bis  zum 
ersten  aus  SW.  kommenden  Seiten- 
bache des  Ardon  reichten.  Jenseit  desselben  tr'-Tt  man  bereits  die  lichtgelben 
oder  weissen  mergeligen  Kalksteine  der  oberen  Kreide.  Diese  unterteufend 
folgen  die  grünen  Sandsteine  der  mittleren  Kreide,  in  welchen  Kalkbänke 
voll  mit  Bruchstücken  von  Versteinerungen  eingelagert  sind.  Südlich  des  in 
den  Ardon  fallenden  Tamiskbaches 
gelangt  man  abermals  in  das  Ge- 
biet der  dem  Neocom,  der  unteren 
Kreide  angehörenden  Kalksteine. 
Diese  Komplexe  der  mittleren  und 
unteren  Kreide  bilden  im  zentralen 
Kaukasus,  an  dessen  Nordseite, 
einen  orographisch  gut  markierten 
Wall,  welcher  der  Jurakette  und 
dem  Hauptkamme  parallel  läuft 
und  in  allen  Ouertälern  zwischen 
Kreide  und  Jura  eine  sofort  er- 
kennbare  Grenze   bildet. 

Wir  kommen   in  ein  erweiter- 
tes Talbecken.     Der  Waldreichtum 

der     Vorberge       ist      verschwunden.  Alte  ossetische   Grabsteine. 


WaCHTTCRME   l-NO   ALTE   BEFESTIGUNGEN. 

Nur  hier  und  da  stehen  zerstreut  an  den  Hängen  Buche  und  Birke  oder 
nistet  an  felsigen  Klüften  lichtes  Gebüsch,  sonst  fallen  die  reich  geglie- 
derten Grate,  nackt  und  mit  lebhaft  gefärbten  Schiefern  zum  Bachufer. 
Ossetische  Grabsteine  stehen  an  der  Strasse.  Auf  der  Höhe  einer  vor- 
springenden Felswand  kleben  einige  elende  Steinhütten  des  Weilers  Bis. 
Auf  einer  Zacke  der  Felsklippen  stehen  die  Ruinen  einer  verfallenen  Wacht, 
eines  Turmes,  Zeugen  verflossener  Kriegszeiten,  wie  man  solchen  in  den 
Tälern   des   Kaukasus  oft  begegnet. 

Diesem  fast  ebenen  Talbecken  folgt  wieder  eine  enge  Schlucht.  Die 
Kalkwände  treten  so  nahe  aneinander,  dass  kaum  Raum  für  Strasse  und 
Bach  bleibt.  Aus  dieser  Enge  tretend,  machten  wir  bei  einer  einsamen 
Steinhütte  Mittagrast  (965  m  A.  D.).  Wir  waren  nicht  die  einzigen  Reisenden; 
Ossen  zu  Pferde,  in  der  malerischen  Tracht  der  Kaukasier,  lagerten  vor 
dem  Hause;  schwer  beladene,  zweiräderige  Karren,  von  Ochsen  gezogen, 
rollten  vorbei.  Der  Bach  ist  hier  überbrückt,  und  Pfade  führen  im  Zickzack 
an  den  steilen  Berghängen  empor,  auf  welchen  das  Grün  mehrerer  Korn- 
felder  sichtbar  ist. 

Das  Tal,  welches  bis  hierher  streng  südlich  und  als  typisches 
Ouertal  senkrecht  auf  die  Achse  des  Hauptkammes  zog,  schlägt  nun  eine 
westliche  Richtung  ein ;  es  verengt  sich  wieder,  und  wo  die  Felswände  sich 
nähern  und  an  den  Bach  herantreten,  sind  die  Reste  einer  torähnlichen 
Ummauerung  sichtbar,  die  »Batsche  Pforte«,  mit  welcher  in  längstvergangenen 
Zeiten  (angeblich  von  den  Genuesen.^)  der  Zugang  ins  Ardontal  vom  Norden 
geschlossen  wurde.  Auf  einer  etwa  10  km  langen  -Strecke  fliesst  der  Ardon 
durch  das  enge  Tal  in  seinem  zwischen  schwarzen  Schiefern  vertieften  Bett, 
parallel  mit  der  unmittelbar  im  Norden  steil  aufragenden  und  bizarr  geformten 
Jurakalkkette,  indes  vom  Süden  die  Ausläufer  der  granitischen  Hauptkette 
herantreten.  Vor  dem  PZinfallen  des  aus  dem  Westen  kommenden  Ssadon- 
baches  stösst  man  auf  verwitterte  Protogin-Gneise,  welche  das  Liegende 
der  Schieferformation  bilden.  Dieser  Protogin- Gneis  reicht  bis  zur  Ver- 
einigung der  beiden  Gewässer.  Nun  wendet  sich  das  Ardontal  wieder 
gegen  Süden.  Bald  war  die  Gneis -Zone  verquert,  und  man  gelangt 
abermals  in  die  dunkeln  Tonschiefer.  Diese  zweite,  südlichere  Schieferzone 
i.st  kaum  breiter  als  2  km  und  endet  schon  einige  Schritte  südlich  des 
Aul*)  Nusal.  Die  armselige  Hüttengruppe,  welche  dieses  Dorf  bildet,  liegt 
in     1108    m    (B.    D.)    Seehöhe.       An     der     südöstlichen,     nahezu     senkrecht 

*)  Aul  ist  die  einheimische  Bezeichnung   für  Dorf. 
—      24      — 


LÄRM    PER    EiNGEBOREXEX    BEIM    UMLADEN    DES    GEI'ÄCKS. 


abfallenden  Talwand   sind   in   der  Höhe   die   Ummauerungsreste  in    den   Fels 
o-ehöhlter,   uralter,   verlassener  Wohnstätten  zu   erkennen. 

In  Nusal  hörte  der  Fahrweg  auf,  über  den  wir  auch  bis  hierher  nur 
mit  Not,  meist  zu  lüiss  wandernd,  das  Gefährt  gebracht  hatten.  Es  war 
keine  leichte  Arbeit,  das  Gepäck  jetzt  auf  die  durch  vorausgesandte  Boten 
hierher  beorderten  Tragtiere 
zu  laden.  Ich  sollte  zum 
erstenmale  Zeuge  der  lär- 
menden Auftritte  sein,  welche 
sich  bei  solchen  Gelegen- 
heiten im  kaukasischen  Ge- 
birge immer  abspielen,  der 
Streitigkeiten  zwischen  den 
Eingeborenen,  welche  durch 
die  Verteilung  des  Gepäcks 
entstehen,  indem  jeder  für 
sein  Pferd  die  leichteste  und 
am  bequemsten  aufzuladende 
Last  zu  erhalten  wünscht. 
Die  Leute  hatten  nichts  mit- 
gebracht, um  das  Gepäck  auf 
den  Packsätteln  zu  befestigen. 
Zum  Glück  hatte  ich  vorsorg- 
lich einige  Stricke  mitge- 
nommen. Jeder  V'ersuch,  die 
Leute  dazu  zu  bewegen, 
die  Stricke  bei  jenen  Ge- 
päckstücken ,  welche  Ringe 
oder  Oesen  hatten,  durch 
diese  zu  ziehen  und  auf  diese 
Weise  sicherer  und  bequemer 

zu  befestigen,  stiess  auf  Widerstand.  Die  Stricke  liefen  aussen  um  Gepäck 
und  Pferd  und  wurden  so  verschnürt.  Oft  war  es  schwierig,  das  Gewicht 
des  Gepäcks  auf  beide  Seiten  des  Pferdes  gleichmässig  zu  verteilen  und, 
kaum  aufgebrochen,  rutschte  an  der  ersten  steilen  Stelle  das  Gepäck  nach 
der  schwereren  Seite;  es  musste  abgeladen  und  neu  aufgeladen  werden. 
Endlos  waren  oft  die  dadurch  verursachten  Aufenthalte,  die  den  vorwärts 
strebenden   Reisenden   zur  Verzweiflune  bring-en   können. 


Nusal -Schlucht. 


DiK  Taiavkituxg  von  St.  Nicolai. 

Hinter  Nusal  stürmt  der  Ardon  wieder  aus  einer  Enge.  Die  Schiefer- 
formation endigt  hier,  und  jetzt  sind  es  prächtige  Klippen  aus  Gneis  und 
Gneisgranit,  welche  das  brausende  Wasser  durchschneidet.  Die  Schnee- 
felder und  scharfen  Gipfel  der  Kaltber- Kette  erscheinen  im  Vorblick  über 
den  steilen  Talwänden,  welche  stellenweise  mit  Gebüsch  und  Nadelwald 
bekleidet  sind.  Die  .Schlucht  —  die  schönste  und  wildeste  der  bis  jetzt 
passierten  —  ist  kurz  und  mündet  in  die  Talweitung  von  St.  Nicolai.  Man 
ist  hier  auf  einer  zwei  Stufen  bildenden  Terrasse,  von  den  Bergwänden 
kesseiförmig  umschlossen,  in  einer  Höhe  von  1142  m.  Grünende  Matten 
und  Felstrümmer  bedecken  die  kleine,  aus  P'lussschotter  bestehende  Tal- 
fläche. Schöne  Kieferwaldungen  erfreuen  das  Auge.  Aus  einem  -Seitental 
im  Westen  stürmen   die   trüben  Wasser  der  gletschergeboreneii   Zeja. 

St.  Nicolai  besteht  aus  einem  einsamen  Gehöfte,  in  welchem  ein 
grösseres  Haus  und  zwei  kleinere  Nebenbaulichkeiten  liegen.  Die  Gebäude 
gehören  der  Regierung  und  dienten  den  Ingenieuren  und  der  Bedeckungs- 
mannschaft zur  Zeit  des  Baues  der  Strasse  über  den  Mamisson-Pass  zum 
Aufenthalt.')  Das  grössere  Haus  enthält  mehrere  geräumige  Zimmer  nu't 
gedieltem  Boden,  in  welchen  einige  einfache  Möbel  sich  befinden.  Ein  Auf- 
seher besitzt  die  Schlüssel  und  öffnet  das  Haus  den  mit  Regierungspapieren 
versehenen  Reisenden.  Es  ist  hier  im  Ardontale  ein  Standquartier  geboten, 
wie  ein  solches  im  zentralen  Kaukasus  nicht  mehr  zu  finden  ist.  Da  es 
unmöglich  war,  noch  heute  weiter  zu  konunen,  obgleich  ich  es  an  einem 
Versuche  hierzu  nicht  fehlen  Hess,  richteten  wir  uns  häuslich  ein.  Den 
Dorfältesten  von  Nusal,  die  nach  Nicolai  gekommen  waren,  gab  ich  den 
.strengsten  Auftrag,  dass  die  für  den  nächsten  Tag  benötigten  Lastpferde 
sowie  die  Träger  sich  noch  am  Abend  in  St.  Nicolai  einzufinden  hätten,  um 
am  Morgen  eines  frühen   Aufbruchs  sicher  zu   sein. 

Am  22.  Juli,  7  Uhr  morgens,  verliessen  wir  St.  Nicolai.  Den  grössten 
Teil  des  Gepäckes  hatten  wir  zurückgelassen,  was  wir  mitnahmen,  Zelt, 
Decken,  Schlafsäcke,  Küchenbatterie  und  Provisionen  für  einige  Tage,  wurde 
auf  zwei  Pferde  geladen.  Die  histrumente,  der  photographische  Apparat 
und  Glasplatten  wurden  getragen.  Unsere  Gesellschaft  marschierte  zu  P'uss 
und  bestand  ausser  uns  noch  aus  vier  Trägern,  also  zusanunen  eine 
Karawane  \on    acht   Mann   und   zwei    Pferden. 

■••)  Der  Weg  —  die  ossetische  HeersIrasse  — ,  welche  als  Fahrstrasse  projektiert  wurde, 
jedoch  in  ihren  oberen  Teilen,  sowohl  nördlich  als  südlich  des  Ueberganges  über  den  Mamisson- 
Pass,  nur  als  Saumpfad  benutzbar  ist,  führt  aus  dem  Ardontale  nach  dem  Riontale  im  Süden, 
nach  Oni  und  hinaus  nach  Kutais. 

—      26      — 


Adai-Choch  vom    Zeua-Tal 


Durch  das  Tai.  der  Zeja. 

Nur  wenige  Schritte  bringen  vom  Kronshause  zur  Brücke,  welche  über 
den  Ardon  führt,  und  bald  darauf  überschreitet  man  den  Zeja-Bach  und  tritt 
in  das  Tal,  aus  welchem  derselbe  strömt.  Das  Zeja-Tal  beginnt  an  der 
Schnee-  und  firnbedeckten  nördlichen  Abdachung  des  Adai-Choch- Massivs, 
und  dasselbe  verfolgend,  wollten  wir  uns  seiner  eisigen  Hochregion  nähern. 
Nachdem  man  im  engen,  an  seinem  schluchtigen  Ausgange  von  Glazial- 
diluvium erfüllten  Tale  eine  halbe  Stunde  gewandert  ist,  bringt  eine  Brücke 
in  1427  m  (A.  D.)  Höhe  an  die  Talwand.  Durch  schattigen  Buchenwald 
windet  sich  der  scharf  ansteigende  Pfad.  Immer  tiefer  sinken  die  von 
dichtem  Laubwalde  erfüllten  schluchtigen  Talgründe,  durch  die  stellenweise 
der  schäumende  Bach  hervorblinkt.  An  einer  vorspringenden  Ecke  erscheint 
der  eisige  Hintergrund  des  Zejatales,  von  dunkelgrünem  Waldgehänge  und 
dem  Geäste  prächtiger  Laubhölzer  eingerahmt.  Abat-Choch  rufen  die  Ein- 
geborenen und  weisen  auf  das  Schneegebirge:  Ueber  einen  Zug  eis- 
bepanzerter  Steilmauern,  die  ein  zerrissener,  abbrechender  Gletscher  um- 
gürtet, erhebt  sich,  alles  beherrschend,  ein  blendend  weisser  Eirngipfel; 
gegen  Südwesten  stürzt  derselbe  in  schneedurchfurchten  Felswänden  ab;  die 
gegen  Norden  gerichtete  Breitseite  ist  in  makellosen  Firn  gehüllt  und 
scharfe  Eisschneiden  ziehen  zum  Gipfelfirst  empor.  —  Es  ist  Adai-Choch, 
der   4647  m   hohe   Kulminationspunkt  der  gleichnamigen   Berggruppe. 

Bald  darauf  gelangt  man  zu  den  armseligen  Hütten  des  Aul  Zei, 
die  —  in  einer  Höhe  von  1 700  m  —  auf  einer  Längsterrasse  der 
nördlichen  Talwand  liegen,  welche  steil  zu  dem  in  tiefer  Erosions- 
schlucht brausenden  Bach  abfällt.  Der  Blick  auf  den  Talschluss  hat 
sich  geweitet.  Die  vom  Kaltberkamm  ausstrahlenden,  in  der  Höhe  schnee- 
bedeckten Gratzüge  und  die  vom  Norden  niederziehenden  Felshänge 
umschlie.s.sen  die  Talschlucht,  in  welcher  das  Eis  eines  mächtigen  Gletschers 
an  den  Waldessaum  grenzt.  Zwischen  nackten,  schneegefurchten  Stein- 
mauern dringt  ruhig  der  lange  Strom  des  Zeigletschers  nieder.  Lichte 
Wolken  haben  sich  am  Horizonte  gesammelt  und  umwogen  die  den  Gletscher 
überragende  Gipfelkette,  ohne  ihrer  Schönheit  zu  schaden.  Der  eisige 
Hintergrund  des  Tales  mit  dem  mächtigen  Gletscherstrom,  der  bewaldete 
Rahmen  desselben,  die  auf  der  Zei -Terrasse  sich  ausdehnenden  Wiesen 
und  Gerstenfelder  mit  den  zerstreut  liegenden  Hüttengruppen  zaubern  ein 
Hochgebirgsbild   aus   den   Alpen  vor  das  entzückte  Auge  des  W^anderers. 

Bei  un.serer  Ankunft  waren  die  Dorfbewohner  —  Männer,  Frauen 
und  Kinder  —  von  allen  Seiten  herbeigeeilt,  um  das  ungewohnte  Schau- 
.spiel    unseres  Einzuges  anzustaunen.      Die   Leute    waren   nicht  so   lästig  und 

—     27     — 


RlIÜDODEXDROX    CAUCASICUM. 

zudringlich,  wie  wir  es  später  oft  in  andern  Tälern  des  Kaukasus  erdulden 
mussten.  Die  Männer  waren  in  ihrem  Benehmen  eher  zurückhaltend  und 
sahen  ziemlich  gedrückt  untl  elend  aus.  Das  Dorf  muss  sehr  arm  sein,  und 
es  schien  uns,  als  ob  die  Not  sich  in  den  Zügen  der  abgehärmt  aussehenden 
Menschen  abspiegelte.  Wir  hatten  beabsichtigt,  bei  diesen  Hüttengruppen, 
welche  die  einzige  Ortschaft  des  Tales  bilden,  einige  Lebensmittel  zu  kaufen, 
es  war  jedoch  absolut  nichts  erhältlich,  und  auch  die  Schafe  waren  auf  den 
hoher    im    Gebirge    gelegenen    Weideplätzen.      Rasch    war   der    Mandel    um 

zwei  Schafe  abgeschlossen,  ein 
Mann  wurde  abgesandt,  sie  zu 
holen,  und  der  uns  begleitende 
Kosak  wurde  im  Aul  zurück- 
gelassen, um  abends  mit  den 
Schafen  zu  folgen. 

Nach  steilem  Abstiege  an 
zwei  zerfallenden,  viereckigen 
Steintürmen  vorbei,  waren  wir 
wieder  am  Bachufer.  Dichter 
Wald  umsteht  die  Matten, 
welche  einen  duftenden,  farben- 
reichen Blumenflor  von  weissen 
Rhododendron,  blühenden  Aza- 
leen, wilden  Rosen  und  andern 
hohen  Gräsern  und  gross- 
blättrigen  Kräutern  trugen.''') 
Rhododendron  Caucasicum  ist 
die  eigentliche  Alpenrose  des 
Kaukasus.  Oft  bedeckt  weite 
Strecken  des  Gehänges  bis  in 
die  hochalpine  Region  das  derbe,  glatte  Geäste  mit  den  dunkelgrünen,  matt 
glänzenden,  lederdicken  Blättern,  und  den  hochgeschwollenen  Knospen  ent- 
spriesst  eine  Pülle  weisser,  oft  gelblich  angehauchter  herrlicher  Blüten. 
Zwischen  Felsblöcken  gelagert,  von  mächtigen  Buchen  beschattet,  hielten 
wir  unsere  erste  Rast  Bald  flackerte  helles  Feuer,  und  die  erste  Suppe 
im  Gebirge  wurde  gekocht.  Die  würzige  Waldluft  war  \on  belebender 
Frische    und    doch    angenehm   warm,    das    Rasenpofster    weich,    und   .Stunde 

■•'•■)   Anthemis   rigescens  MB.,    Azalea  pontica  L.,  Diaiithus  Carthusianorum  L.,  f.  Caucasicus 
Kupr.,  Echium  rubrum  Jacq.,  Nonnea  rosea  MB.,  Rosa  glutinosa  S.  et  L.  u.  a. 


Die   K.iranane   zieht  durch   Dorf  Zei. 


28 


Ein  ossETi.sciiKs  hkh.iütl m;  du'.  Kai'I.i.i.k  1\i:k(im. 

um  Stunde  verrann  im  seligen  Träumen.  Das  waren  herrliche  Augenblicke, 
voll  der  Poesie   eines   freien  Wanderlebens! 

Beinahe  3  Uhr  war  es  geworden,  als  wir  wieder  weiter  zogen. 
Stetig  erhebt  sich  jetzt  die  Talsohle.  Auf  ebenem  Wiesenplan,  von  Wald 
umgeben,  dessen  reiche  Blätterkronen  geheimnisvoll  rauschen,  steht  ein 
ossetisches  Meiligtum,  tlie  Kaijelle  Rekom,  eine  1  lolzhütte,  mit  vom  Alter 
und  Wetter  gebleichten  Hörnern  und  Schädeln  des  kaukasischen  Steinbocks 
und  der  Gemse  geschmückt.  In  Haufen  liegen  Steinbockhörner  mit  anderm 
Kram,  Metallplätlchen,  Glöckchen,  alten  Pfeilspitzen  vermischt,  vor  der 
Hütte.  Es  ist  ein  Wallfahrtsort  der  Ossen,  und  einmal  im  Jahre  wird  hier 
ein  grosses  Fest  gefeiert,  Gebete  verrichtet.  Opfergaben  gespendet  und 
dabei  reichlich  gegessen   und  getrunken. 

In  mächtigem  Felsabsturze  tritt  die  rechte  Talwand  vor  und  erinnert 
an  den  Abfall  der  Mauern  des  Wellhorns,  von  Rosenlaui  gesehen.  Hinter 
ihr  erscheinen  Gletschermassen,  welche  an  den  zirkustörmigen  Wänden 
niedergleiten  und  hoch  über  der  Talsohle  endigen  (3300  m).  Den  Gletscher 
nannte  ich  nach  der  Kapelle  Rekom-Gletscher.*)  Weit  vorgeschobene  Moränen 
zeigen,  dass  der  Gletscher  einst  viel  tiefer  reichte  und  sich  mit  dem  das 
Tal  erfüllenden  Zeigletscher  vereinigt  hatte. 

Nun  wandert  man  durch  dichten  Fichtenwald,  dessen  prächtige, 
schlank  aufschiessende  Stämme  sich  schon  früher,  von  den  Talhängen 
niederziehend,  zwischen  die  Laubhölzer  gemischt  hatten.  Später  bleibt  der 
Wald  zurück,  mächtiges  Gerolle  bedeckt  den  Boden,  und  etwa  10  km  vom 
Aul  Zei   ist  der  Fuss  des  Zeigletschers   erreicht. 

Die  Wanderung  durch  das  Zejatal  hatte  uns  von  St.  Nicolai  bis  zum 
Aul  Zei  durch  Gneisgranite  geführt,  und  nur  beim  Aul  Zei  findet  man 
dünnschiefrigen  Glimmerschiefer  anstehend ;  talaufwärts  bis  zum  Gletscher 
bilden   Granite  das  vorherrschende   Gestein. 

Der  Zei-Gletscher  erfüllt  die  ganze  Breite  des  Tales,  die  etwa  300  m 
betragen  dürfte,  und  bricht  in  schmutzigen,  hohen  Fiswänden  ab.  Nahezu 
die  ganze,  dem  Gletscher  vorliegende  Fläche  ist  nu't  alten  Fndmoränen  und 
Geröll  bedeckt,  durch  welches  sich  die  einem  niedrigen  Gletschertor  ent- 
strömenden, brausenden  Wasser  winden.  Der  Gletscher  gehört  zu  den 
bedeutendsten  des  zentralen  Kaukasus :  er  bedeckt  mit  seinem  Firn- 
gebiet eine  Fläche  von   etwa  21   qkm    und   besitzt   eine  Länge  von  9,50  km. 


*)   Für  diesen  Gletscher  wurde   in  den  letzten  Jahren  auch  die  Bezeichnung  Kaltber-Gletscher 
oder  auch  Skas-Gletscher  gebraucht. 


Dkr  ZKi-Gi.irisniEK. 

Die  ("jletscherzuiig-e  eiulete  bei  2060  ni.  Alles  weist  auf  einen  Rückgang 
des  Gletschers  hin  ;  Glctscherschliffe  an  den  'lalwänden  in  einem  viel  höheren 
Niveau,  als  der  jetzige  Stand  des  Gletschers,  die  denselben  überragenden, 
stellenweise  durch  Moränen  -  Anhäufungen  jüngeren  Datums  getrennten 
Seitenmoränen   und   die  weit  vorgeschobenen   Endmoränen. 

Nahe  vom  Gletscherende,  wo  sich  zu  unserer  Rechten  am  Fusse  der 
seitlichen  Gehänge  auf  dem  geröllbesäten  Boden  etwas  Vegetation  kümmer- 
lich fortbringt  und  einige  niedrige  und  verkrüppelte  Bäume  sich  vorgewagt 
haben,  schlugen  wir  unser  Lager  auf  Das  erste  Zeldager  in  den  Bergen 
des  Kaukasus ! 


Zunge  des  Z  ei- Gletschers  mit  Gletschertor. 


Da  jetzt  die  Lagerausrüstung  zur  Verwendung  kam,  die  Zelte  auf- 
geschlagen wurden,  musste  ich  diese  Arbeiten  leiten.  Den  Ossen  wurde 
befohlen,  Holz  und  Wasser  zu  bringen,  und  während  ich  Aneroide  und 
Thermometer  ablas,  baute  sich  Burgener  mit  Steinen  einen  Kochherd. 
Früher,  als  ich  erwartet  hatte,  kam  der  Kosak  mit  den  Schafen.  Mit 
überraschender  Geschicklichkeit  und  Schnelligkeit  schlachteten  die  Kaukasier 
eines  derselben  und  weideten  es  aus.  Bald  brodelte  in  einem  Kessel  die 
Suppe.  Auf  langen  Holzspiessen  wurden  dünn  geschnittene  Scheiben  Hammel- 
fleisch und  Leber  aufgereiht  und  am  offenen  P'euer  gebraten  —  das  Schaschlik 
der  Kaukasier.  Man  Hess  es  sich  schmecken.  Zum  Schlüsse  kam  der  in 
Russland  —  und  auch  im  Kaukasus  —  unerlässliche  Tee,  dessen  anregende 
und  wärmende  Wirkung  wir  noch  oft  im  kalten  Biwak  oder  nach  einem 
streneen  Marsche   würdigen  sollten. 


Das  kkstk  Zki.ti.ackr  im  Kaikasis. 

]\s  war  tiell'  Nacht  L;e\v(>rden.  Noch  musstcn  die  photoL^raphisi  lu:n 
C'ilasplatten  gewechselt  werden.  Man  kennt  jetzt,  da  die  Photographie  in  die 
weitesten  Kreise  gedrungen  ist,  diese  Arbeit  und  halt  sie  —  wenn  man  nicht 
nur  mit  auch  im  TagesHcht  auszuwechsehiden  Rollfihiis  (die  neueren  Datums 
sind),  arbeitet  und  beim  schwachen  Lichte  der  roten  Lampe  hantieren 
muss  —  selbst  in  der  Dunkelkammer  oder  abends  am  Tische  des  Hotel- 
zimmers sitzend,  — ■  für  keine  angenehme.  Nun  bedenke  man,  dass  diese 
Arbeit,  zusammengekauert,  zwischen  Schlafsäcken,  Matratzen  und  Decken, 
im  niedrigen  Zelte,  wo  weder  für  Lampe  noch  für  Kassetten  und  Platten  eine 
Tischfläche  zu  haben  war,  und  wo  es  keinen  Sitzplatz  gab,  ausgeführt 
werden  musste.  Ausserdem  war  es  nötig,  die  Glasplatten  vor  und  nach 
der  Exposition  auf  das  sorgfältigste  zu  verpacken,  um  dieselben  vor  Licht 
und  Feuchtigkeit  und  bei  dem  schwierigen  Transport  vor  Bruch  zu  schützen. 
Eine  genaue  Registrierung  der  gemachten  Aufnahmen  war  gleichfalls  uner- 
lässHch.  Man  musste  immer  den  Eintritt  völliger  Dunkelheit  abwarten  und 
Sorge  tragen,  dass  nicht  eventuell  durch  das  Zelt  dringendes  Mondlicht  oder 
die  Helle  des  Lagerfeuers  die  Resultate  gefährde.  Oft  musste  ich  das 
Wechseln  der  Platten  nach  schwerem  Tagewerk,  gegen  Müdigkeit  und  Schlaf 
ankämpfend,  ausführen,  denn  diese  Arbeit  duldete  keinen  Aufschub,  wenn 
man  am  folgenden  Tage  sich  nicht  der  Möglichkeit  berauben  wollte,  Auf- 
nahmen zu   machen,    und    in  diesen    lag    ein    Hauptergebnis    meiner  Reisen. 

Endlich  war  die  Arbeit,  zum  erstenmale  auch  die  schwerste,  be- 
endigt. Ich  trat  vor  das  Zelt.  In  ihre  Burkas  —  aus  kaukasischen,  lang- 
haarigen, filzarticren  Loden  verfertigte  Mäntel  —  oehüllt,  lagen  die  Berg- 
bewohner  und  Herr  Dolbischew  am  glimmenden  Feuer.  In  unklaren  Um- 
rissen erschien  das  Gletschertal.  Der  Himmel  war  klar,  von  Sternen  besät. 
Die  Luft  war  ruhig.  Alles  Hess  für  morgen  einen  schönen  Tag  erwarten. 
Bald  herrschte  tiefe  Stille  rings  herum;  nur  die  Gletscherwasser  rauschten  in 
gleichen   Harmonien   fort  und   fort. 


Hintergrund    des   Zeja-Tales   \on   den    Hütten    des   Dorfes   Zei. 


III.   KAPITEL. 


Die  Ersteigung  des  Adai-Choch. 

l.tur  liopes   like   toweriuo;  falcons   aiiu 
At  objects   in  an  airy  liigLt. 

Der  Morgen  des  23.  Juli  brach  in  strahlender  Klarheit  heran.  Unsere 
Absicht  war  ursprüngHch,  eine  Exkursion  in  das  P'irngebiet  des  Zeigletschers 
auszuführen  und  dann  eine  der  umliegenden  niedrigeren  Höhen  zu  ersteigen, 
um  einen  Einblick  in  die  Konfiguration  der  Gruppe  zu  erhalten  und  die 
Anstiegsrichtung  auf  den  Adai-Choch  zu  rekognoszieren.  Beim  Anblick  des 
klaren  Himmels  jedoch  entschlossen  wir  uns  rasch,  statt  mit  kleineren 
Touren  zu  beginnen,  sofort  die  Ersteigung  des  höchsten  Gipfels  der  Gruppe 
in  Angriff  zu  nehmen.  Das  Wetter  war  schon  seit  einigen  Tagen  prachtvoll 
gewesen  ;  wir  befürchteten  einen  Umschlag  desselben,  und  bei  der  ohnehin 
kurz  bemessenen  Reisezeit  im  Hochgebirge  hätte  uns  lang  andauerndes 
schlechtes  Wetter  vielleicht  gezwungen,  uns  andern  Gebieten  zuzuwenden. 
Gerade  das  Eindringen  aber  in  die  von  keines  Menschen  Fuss  betretenen 
Hochschneeregionen  der  Adai- Choch- Gruppe  und  die  Ersteigung  ihres 
höchsten  Gipfels,  hatte  für  mich  grosses  Interesse.  War  einmal  dieses 
Unternehmen  gelungen,  so  war  für  die  Fortsetzung  unserer  Reise,  die 
Ueberschreitune    der    Pässe    nach    den    weiter    im   Westen    gelegenen   ( )uer- 


—      32      — 


Adai-  Choch 


ArKiiRucii  ZUR  Rrstetcunc  des  AdaiCjkhii. 

tälern,  schönes  Wetter  weniger  von  ausschlaggebender  Hedeutung.  So 
brachten  es  die  Umstände  mit  sich,  dass  wir  den  Versuch  zur  Ersteigung 
des  Adai-Choch  zu  unserer  ersten  Wanderung,  zu  unserer  ersten  Tat  im 
Kaukasus  machten. 

Es  wurde  ein  hohes  Freilager  in  der  l'irnregion  des  Zeigletschers 
beabsichtigt,  um  dann  am  folgenden  Tag  die  Ersteigung  des  Gipfels  in 
Angriff  zu  nehmen.  Das  mitzunehmende  Gepäck  wurde  möglichst  beschränkt. 
Das  Zelt  wurde  zurückgelassen,    nicht   nur  der   Last  wegen,   die  einen  Mann 


\'egetatiuii   (mit   blühendem   Rhododendron   Caucasicum)   am  Zei  -  de tscher. 


erfordert  hätte,  sondern  weil  voraussichtlich  auch  kein  genügend  grosser 
ebener  Platz  zum  Aufschlagen  desselben  gefunden  worden  wäre.  Es  wurden 
daher  nur  die  beiden  Schlafsäcke,  das  Nötigste  an  Proviant  und  eine 
kleine  .Spiritusmaschine  zur  Bereitung  von  Tee  mitgenommen.  Unsere 
persönliche  Ausrüstung  bestand  aus  warmen  Handschuhen,  Biwakmützen, 
seidenen  Halstüchern,  Schneebrillen,  Eispickel  und  Seil.  Ausserdem  wurden 
der  photographische  Apparat  und  die  mit  Glasplatten  gefüllten  Kassetten, 
Aneroid  und  Thermometer  mitgenommen.  Dies  war  so  ziemlich  alles, 
machte  aber  immerhin   eine   genügende  Last  für  die  drei  Eingeborenen  aus, 

V)Lchy:     Kaukasus.  3 

—      33      — 


KKICIlh;    X'KGETATIOX    am    GLETSCIlEKRANnE. 

welche,  solaiiL^c  das  Terrain  leicht  begehbar  blieb,  mit  uns  kommen  sollten, 
um  Alexander   und   I'eter  des  Tragens  zu   entheben. 

Um  7  Uhr  Morgens  verliessen  wir  das  Lager.  Wir  folgten  dem  linken 
(nörtllichen)  Ufer  des  Gletschers.  Stellenweise  tritt  hier  das  Talgehänge  weit 
\(»m  (iletscher  zuriirk,  und  auf  dem  einer  günstigen  Sonnenlage  sich  er- 
freuenden Boden  prangt  eine  reiche  Vegetation,  aus  deren  grünender  Decke 
ich  mit  Entzücken  viele  unserer  geliebten  Alpenpflanzen  erkenne:  Aster 
alpinus,  mit  prächtigen  rosa  Blüten,  die  schönste  Aster  des  Kaukasus,  die 
dunkelviolette  Gentiana  caucasia,  Primeln,  Saxifragen,  Silenen  und  Rosen 
—   blühende   Rosen   am   Gletscherrande.*) 

Die  Oberfläche  des  Zeigletschers  ist  höher  oben  nur  wenig  mit 
Geröll  bedeckt,  und  während  unserer  Wanderung  längs  der  bald  steinigen, 
bald  grasbedeckten  Hänge  seines  Ufers  und  über  Strecken  seiner  Seiten- 
moränen hatten  wir  beständig  Gelegenheit,  die  glänzende  Reinheit  und  die 
oft  prächtig  blaue  Farbe  des  Eises  zu  bewundern.  Die  IN'eigung  des  unteren 
Teiles  des  Gletschers  ist  sehr  gering,  dennoch  ist  seine  Oberfläche  durch 
Ouerspalten  stark  zerklüftet,  und  kein  Gletscher  entspricht  besser  dem 
Bilde  eines  bewegten  Stromes,  der  in  eisigen  Wellen  niederflutet,  als  dieser 
untere  Teil  des  Zeigletschers. 

Nach  einem  etwa  dreistündigen  Marsche  gelangt  man  zu  jener 
Stelle,  wo  die  dunkelfarbigen  Seitenwände  des  Gletschertales  sich  nähern. 
Das  zwischen  dieselben  gepresste  Eis  stürzt  dort  von  der  höheren  Terrasse 
des  Gletschers  über  eine  Steilstufe  nieder,  in  unzählige  Nadeln,  Türme  und 
Zacken   zerrissen   und  zersplittert. 

Hier  verliessen  uns  Herr  Dolbischew  und  die  Eingeborenen.  Ich 
hätte  gern  die  Träger  wenigstens  bis  auf  den  oberen  Gletscherboden  mitge- 
nommen, von  wo  sie  noch  leicht  bis  abends  zum  Lager  hätten  zurückkehren 
können.  Die  Eingeborenen  aber,  insbesondere  die  des  Ardon-Tales,  meiden 
die  sie  schauerlich  dünkende  Eiswildnis.  Um  keinen  Preis  waren  die  Träger 
zu  bewegen,  weiter  mitzugehen.  Ich  bat  noch  Herrn  Dolbischew,  mir  gegen 
Abend  des  folgenden  Tages  die  drei  Träger  mit  Proviant  entgegen- 
zusenden.     Wir   wechselten    zum  Abschiede    einen   warmen   Händedruck    mit 


•*)  Alsine  imbricata  M.  B. :  Alchemilla  serica  Willd.;  Anlhemis  Bicbersteiniana  Boiss.; 
Aster  alpinus  L.  forma  alata;  Astragalus  alpinus  L. :  Azalea  pontica  L. ;  Delphinium  Caucasicum 
C.  A.  M.;  Erigeron  caucasicus  Stev.;  Gentiana  caucasica  M.  B. ;  Geranium  Ibericum  Cavan.;  Myositis 
alpestris  Schm.;  Polygonuni  alpinum  AU.;  Primula  nivalis  Fall.;  Rhododendron  Caucasicum  Fall.; 
Saxifraga  Sibirica  L.;  Scrophularia  Olympica  Boiss.;  Silene  sa.xatilis  Sims,  forma  caucasica;  Veronica 
gentianoides  \'ahl.  u.  a. 


In   dkx  SiiRACs  des  Zei-C'.i,etsciieks. 

Herrn  Dolbischew,   und  die  Träger  schienen  uns  in  unverständlichen  Worten 
ein  ossisches    »Achtgeben«    und    »Glück  auf«   zuzurufen. 

Wir  betraten  nicht  sofort  den  Gletscher,  sondern  umkletterten  zuerst 
das  Felsgehänge  und  gingen  dann  auf  ein  hartgefrorenes  Schneefeld  über, 
welches  zwischen  Seracs  und  Felshängen  steil  niederzieht,  und  an  welchem 
wir  in  gehauenen  Stufen  emporstiegen.  Von  der  gerade  unter  uns  liegenden 
Seitenmoräne     gesehen,     musste     die    Steilheit    dieses     Schneehanges    viel 


In   den   Seracs  des  Zei-Gletschers. 


bedeutender  erscheinen,  als  sie  in  Wirklichkeit  war,  und  wie  mir  Herr 
Dolbischew  später  erzählte,  veranlasste  unser  Anstieg  den  Zurückgebliebenen, 
die   uns  erstaunt  nachblickten,   manch  bedenkliches  Kopfschütteln. 

Nach  dem  hohen  Absatz  des  Eisfalles  folgt  eine  ziemlich  ebene 
Terrasse  des  Gletschers,  beinahe  ohne  Schneelage,  welche  zu  einem  zweiten, 
kleineren  Gletschersturze  brachte,  durch  dessen  Spaltengewirr  wir  uns  den 
Weg  bahnen  musstcn.  Die  Bergkette,  welche  die  Umrandung  des  Gletscher- 
beckens bildet,   türmt  sich  hoch  empor,    in  Formen  wildester  Grösse.     Die 


SciiwiKKKii':  Uki;i:k\vini)1'xg  kinks  Eisfali.s. 

Grate  steigen  in  steilen  W'iuulen  auf,  mit  liis  und  Schnee  beladen,  und 
enge  Schneerinnen  ziehen  zwischen  den  nadeiförmigen  Spitzen  empor.  Wo 
immer  die  Neigung  der  Hänge  einer  grösseren  Ansammlung  von  Schnee 
und  Firn  zu  ruhen  gestattet,  senken  sich  steile,  zerrissene  Hängegletscher 
zum  Zeigletscher.  Der  äussere  Anblick  im  Aufbau  der  das  Firnreservoir 
des  Gletschers  umrandenden  Kette,  in  ihren  Formen  von  F"els  und  Eis, 
erinnert  lebhaft  an  die  Aiguilles  der  Montblanc-Kette.  In  kurzer  Entfernung 
trat  hierauf  ein  dritter  Fisfall  in  Sicht,  welcher,  von  steilen  Felswänden 
flankiert,  in  unbeschreiblicher  Zerrissenheit  niederstürzte.  Während  wir 
unsern  W^eg  durch  dieses  Labyrinth  von  Spalten,  zwischen  Türmen,  Nadeln 
und  Zacken  erkämpften,  wurde  unsere  Bewunderung  immerwährend  heraus- 
gefordert durch  die  wunderbaren  Formen  und  prächtigen  Farbenspiele  der 
eisigen  Umgebung. 

Am  Fusse  einer  Masse  wilil  durcheinander  gestürzter  Seracs  mussten 
wir  uns  durchwinden,  um  an  einen  Eiswall  zu  gelangen,  dessen  Höhe  wir 
erreichen  wollten.  Ueber  uns  hingen  wankende  Eisblöcke;  zu  unsern  Füssen 
öffneten  sich  tiefe  Klüfte.  Peter,  der  voran  war,  konnte  selbst  mit  unserer 
Unterstützung  sich  nicht  an  dem  etwas  überhängenden  Eiswall  emporhissen. 
Es  schien  nach  mehreren  Versuchen  keine  Möglichkeit  zu  geben,  unseren 
Weg  in  einer  andern  Richtung  über  den  Eisfall  zu  erzwingen,  und  Burgener 
erklärte  jedes  weitere  Verweilen  in  diesem  eisigen  Chaos  für  nutzlos  und 
gefährlich.  Der  Tag  war  schon  vorgeschritten,  die  Sonne  lockert  das 
Gefüge  der  eisigen  Massen,  die  dann,  oft  ganze  Eislawinen  bildend,  nieder- 
stürzen. Nun  verliessen  wir  das  Eis,  um  die  Felswände  an  der  Seite  des 
Gletschers,  zu  unserer  Rechten,  anzugreifen.  Durch  ein  Schneecouloir  auf- 
steigend, wollten  wir  dessen  untere,  nahezu  .senkrechte  Abstürze  vermeiden, 
dann  oben  die  Felsen  durchklettern  und  hofften  so  den  Eisfall  zu  umgehen. 
Aber  hier  wurden  wir  zum  zweitenmale  zurückgeschlagen.  Nachdem  wir 
etwa  40  Meter  in  der  Schneerinne  aufgestiegen  waren,  wurde  das  weitere  \"or- 
dringen  durch  einen  riesigen  Block  gehemmt,  welcher  von  oben  herabge- 
stürzt war  und  sich  in  derselben  eingeklemmt  hatte.  Ich  war  der  erste  im 
Anstieg.  Es  war  mir  unmöglich,  diesen  Block  zu  erklimmen  oder  denselben 
zu  umgehen.  Burgener  band  sich  vom  Seile  los  und  machte  einen  Versuch, 
die  Klippen  zur  Linken  zu  erklettern,  die  dort  in  entsetzlicher  Steile  empor- 
ziehen. Bald  kam  er  ausser  Sicht.  Fallende  Steine  zeigten,  dass  er  an 
der  Arbeit  war.  Gespannt  warteten  wir  auf  seine  Rückkehr  oder  einen 
ermunternden  Zuruf  Endlich  erschien  er  mit  der  unwillkommenen  Nachricht, 
dass  auch   über  diese    steilabstürzenden  Klippen   keine   Passage   möglich   sei. 


FREILAGKR    IX    3300    M    Hc')HK. 

Es  blieb  nichts  übrig,  als  zu  den  Seracs  zurückzukehren.  Wir  sahen 
uns  gezwungen,  wieder  den  Eisbruch,  die  über  tiefer  Kluft  aufsteigende  Eis- 
wand anzugreifen,  welche  wir  früher  als  zu  gefährlich  verlassen  hatten. 
Zwang  kennt  kein  Gesetz,  und  was  die  Theorie  vielleicht  verdammt,  recht- 
fertigt oft  die  Praxis.  Jedenfalls  beschlossen  wir,  zu  sehen,  was  mit  An- 
wendung all  jener  Geschicklichkeit  und  Vorsicht,  welche  wir  in  vielen  Jahren 
alpiner  Erfahrung  erlernt  und  ausgeübt  hatten,  ausgerichtet  werden  könne. 
Mit  erneuter  Energie  griff  Burgener  die  Eiswand  an,  hackte  tiefe  Stufen 
und  schwang  sich  dann  auf  die  Kante  derselben.  Der  Erfolg  ward  unser: 
der  Eisfall   besiegt ! 

Der  Gletscher  hat  die  Nord-Süd-Richtung,  welche  sein  unterer  Teil 
einhält,  verlassen  und  wendet  sich  scharf  gegen  Westen.  Vor  uns  zog 
das  weite  Firnbecken  in  die  Höhe.  Es  ist  von  langen,  unter  Schnee  und 
Eis  begrabenen  Graten  unterbrochen,  welche  von  den  umgebenden  Bergen 
niederziehen.  In  der  Ecke  der  Schneelandschaft  erscheint  jetzt  über  vor- 
liegenden Firnwällen  ein  mächtiger  Gipfel.  Es  ist  die  Pyramide  des 
Adai-Choch. 

Wir  lenkten  unsere  Schritte  einem  Bollwerk  von  Feh  und  Schnee  zu, 
welches  weit  in  die  eisige  Fläche  vortrat.  Auf  den  wenigen  P^elslagern 
desselben  wollten  wir  die  Nacht  verbringen.  Als  wir  sie  nach  kurzem  An- 
stiege erreichten,  sahen  wir  bald,  dass  wir  auf  keine  gastliche  Aufnahme 
zu  rechnen  hatten.  Kaum  konnten  wir  so  viel  ebene,  aber  auch  dann  noch 
abschüssige  Fläche  finden,  um  einen  Schlafsack  auszubreiten.  In  einer  Ecke, 
die  ein  wenig  \om  Winde  geschützt  war,  lagerten  wir  uns.  Es  war  5  Uhr 
45  Minuten  nachmittags.  Wir  waren  vom  ersten  Eisfall  sieben  Stunden 
ohne  jede  Rast  angestiegen,  zehn  Stunden  vom  Fuss  des  Gletschers.  Die 
Höhe   unseres  Biwaks  wurde   mit   3300   m   (A.   D.)   bestimmt. 

Die  Szenerie,  welche  unsern  Lagerplatz  umschloss,  war  von  eindrucks- 
voller Grossartigkeit.  Wir  waren  auf  hohem  Belvedere.  Unter  uns  lagen 
die  herrlichen  Seracs  des  Zeigletschers.  Die  Felsmauern  zu  beiden  Seiten 
nähern  sich  einander  immer  mehr  und  schliessen  immer  enger  und  enger 
den  Eisstrom  ein,  wie  er  aus  dem  weiten  Reservoir  der  obersten  Firne  ab- 
wärts dringt.  Mit  kahlen  P'elswänden,  auf  ihren  einzelnen  Höhepunkten 
schneebedeckt,  ziehen  tliese  Ketten  talauswärts.  Ueber  ihren  Ausläufern 
sind  Bergreihen  sichtbar  geworden,  deren  allgemeine  Richtung  im  rechten 
Winkel  zu  diesen  zog.  Nebel  lag  in  den  fernen  Tälern.  Die  erste  uns 
gegenüberliegende  Bergkette,  mit  ihren  gezähnten  Kämmen,  war  schon  in 
dämmeriges  Dunkel  gehüllt,   indes   hinter  derselben  die  höhere  Jurakalkkette 

—     37      — 


Stürmische  Nacht  im  hohen  Biwak. 

noch  im  Abendsonncnschein  ert^länzte  und  das  ^-tjlblich-rote  dolomitische 
Gestein  in  lebhaften  Farben  spielte.  Ihr  nördlicher  Abfall  ist  ein  sanfter, 
indes  die  steilen  Klippen  der  von  hier  sichtbaren  südlichen  Fassade  mit 
den  schneebedeckten  Spitzen,  derselben  ein  pittoreskes  Aussehen  geben, 
welches  an  die  über  Sallanches  der  Montblanc-Gruppe  vorliegende  Kalkkette 
erinnert.  In  entgegengesetzter  Richtung  —  indem  wir  einige  Schritte  um 
unsere  Felsecke  treten  —  wird  im  fahlen  Dämmerlichte  die  eisige  Gestalt 
des   Adai-Choch   sichtbar:   fern   und   alles   überragend. 

Der  Mangel  an  ebener  Fläche  hatte  uns  genötigt,  unser  Lager  zu 
teilen;  Burgener  und  Peter  hatten  ihren  Lagerplatz  einige  Fuss  tiefer  wählen 
müssen.  Zum  Schutze  gegen  den  Wind  hatten  wir  aus  Steinen  eine  kleine 
Mauer  aufgeführt.  Wir  fanden  in  der  Nähe  ein  wenig  Wasser  von 
schmelzendem  Schnee,  mit  welchem  wir  in  der  kleinen  Spiritusmaschine 
etwas  Tee  bereiteten.  Unser  lVo\iant  bestand,  da,  wie  es  sich  zeigte, 
leider  manches  beim  Einpacken  im  Lager  vergessen  worden  war,  nur  aus 
einer  Büchse  Sardinen  und  Hammelfleisch,  und  dieses,  von  Burgener  am 
Abend  vorher  im  Lager  am  Rost  gebraten,  war  bei  diesem  ersten  Versuche 
bis  zu   einem   hohen   Grade   angeraucht  und   fast  ungeniessbar. 

Um  7  Uhr  abends  zeigte  das  Thermometer  6°  C.  Von  allen  Seiten 
waren  feuchte  Nebel  aufgestiegen.  Mit  der  Nacht  zog  der  Sturm  heran. 
Donner  und  Blitz  mischte  sich  mit  dem  Heulen  des  Windes.  Die  Berge 
gaben  den  Aufruhr  mit  mächtigem  Echo  zurück,  und  bald  darauf  hörte 
man,  wie  der  Regen  die  l'elsen  peitschte.  Unsere  Schlafsäcke  boten  nur 
armseligen  Schutz  gegen  die  Angriffe  des  Sturmes  und  Regens.  Welche 
Nacht!  Wie  lange  ich  wohl  schlaflos  dagelegen  habe:  Zuerst  lauschte  ich 
dem  lärmenden  Chaos,  gewaltigen  Stimmen  in  allen  Tonlagen,  in  allen 
Klangfarben.  Nichts  konnte  die  Fremdartigkeit  meiner  Lage  eindrucksvoller 
zur  Geltung  bringen,  als  die  entfesselten  Naturgewalten,  welche  jetzt  die 
eisigen  Höhen  des  fernen  Kaukasus  umtobten.  Die  geistige  Aufregung 
verscheuchte  lange  den  Schlaf.  Weit  weg  von  der  Menschen  Stätte,  hoch 
über  der  letzten  grünenden  Talstufe,  auf  Felsgeklippe  inmitten  der  noch  von 
keines  Menschen  Fuss  betretenen  weiten  Schneewüsten,  lag  ich  da,  sinnend 
und  träumend.  Der  Fels  ist  hart,  die  Kälte  durchdringt  Mark  und  Bein, 
es  ist  ein  elendes  Lager  da  oben  —  und  doch:  in  dem  Aussergewöhnlichen 
der  Situation,  die  uns  herausreisst  aus  dem  Alltag.sgetriebe  der  Welt,  liegt 
ein  Etwas,  das  unser  ganzes  Ich  begeisternd  durchzittert,  das  noch  in  der 
Erinnerung  erhebt,  das  der  Verständnisvolle  vielleicht  mitfühlen  wird,  das 
sich   aber  nicht   beschreiben   lässt. 


EI- Gletscher 


KÄLTE    UND    SPÄTER    AL'l-MKL'Cri. 

Get^fen  Morgen   wurde   es   ruhiger,   aber  zu   gleicher  Zeit  steigerte  sich 
die   Kälte   in   eindringh'chster  Weise.      Das  Wetter    hatte    einen    frühen   Auf- 


Adai-Choch  vom  Osten. 


h)rucli  unmöglich  gemacht;  erst  um  3 '2  Uhr  morgens,  am  24.  Juh',  verliessen 
wir  unser  Biwak.  Es  war  zu  kalt  und  zu  spät,  um  ans  Essen  zu  denken. 
Wir  stieeen  auf  die   Höhe   des  Bollwerks,    in    dessen  Felsen   wir   die   Nacht 


Schwierige  Kletterei  am  Gipeelcrat. 

verbracht  hatten,  folgten  seiner  Schneekante,  drangen  in  ein  Schneecouloir 
und  begannen  dann  an  dem  steilen  Schneewalle  anzusteigen,  welcher  der 
Basis   des  Adai-Choch   vorgelagert  ist. 

Nachdem  die  Höhe  dieses  Schneewalles  gewonnen  war,  lag  der  Berg 
vor  unsern  Augen.  Die  breite  Fassade  baut  sich  mit  Felsflühen  und  ab- 
brechenden Eis-  und  Firnlagern  auf  und  übertrifft  an  Steile,  Zerklüftung 
und  Wildheit  die  Bildungen  der  Alpenwelt.  Scharfe  Schneiden  ziehen  zu 
einem  langgestreckten  Firnkamme,  dessen  entfernter  liegendes  Ende  sich  zu 
einem   höheren   Gipfelpunkt  zuspitzt. 

Wir  entschlossen  uns,  den  zum  Gipfelkamm  emporziehenden  eisigen 
Grat  anzugreifen.  Es  war  eine  steil  geneigte  Schneeschneide,  an  mehreren 
Stellen  von  Felsen  durchbrochen  oder  von  überhängenden  Schneegewächten 
gekrönt.  Wir  waren  des  öfteren  genötigt,  Stufen  zu  hauen,  die  eigentliche 
Schneide  zu  verlassen  und  an  den  abstürzenden  Hängen,  teilweise  mit  Eis 
und  Schnee  überzogene  Felsen  zu  traversieren,  oder  über  Felstürme  zu 
klettern,  welche  aus  dem  Grate  aufragten.  Stunde  um  Stunde  verrann  in 
gleichem,  hartem,  nicht  enden  wollendem  Ringen.  Endlich  um  Mittag  ge- 
wannen wir  die  oberste   Kammhöhe. 

Das  Wetter  hatte  sich  wieder  zum  schlechtem  gewendet,  und  der 
höhere  Gipfel  lag  noch  weit,  durch  gewundene  F'irnschneiden  von  uns  ge- 
trennt. Physisch  waren  wir  erschöpft,  aber  nicht  moralisch!  »Nur  einige 
Minuten  Rast!<  rief  Burgener  aus,  und  wieder  war  er  der  erste,  um  vor- 
wärts  zu   dringen. 

Ein  kalter  Luftzug  wehte  um  die  höchsten  Grate  und  erfrischte  und 
steigerte  unsere  Kräfte.  Grosse  Vorsicht  war  geboten,  um  die  oft  über- 
hängenden Schneewächten  zu  vermeiden.  Die  Firnschneiden  trafen  sich  in 
einem  Punkte,  nach  dessen  Erreichung  der  höchste  Gipfel  noch  entfernter 
denn  je  erschien.  —  Immer  schwieriger  wurde  unser  Fortschritt.  Felszacken, 
die  dem  Grate  entragten,  mussten  überklettert  werden,  oder  von  demselben 
abgedrängt,  mussten  wir  an  den  nordwestlichen  Hängen  auf  glatten  ab- 
stürzenden Platten  traversieren.  hisbesondere  die  Ueberwindung  zweier 
Passagen  bot  aufregende  Augenblicke  und  erforderte  grosse  Geschicklich- 
keit und  Besonnenheit.  Die  eine  stellte  sich  als  Felsenpartie  dar,  welche 
in  glatten  Platten  gegen  die  tiefen  Abgründe  der  rechten  Bergseite  abfiel. 
Mit  dem  Gesichte  zur  P'elswand  gekehrt,  musste  man  traversieren  und  mit 
einer  Schwungbewegung  den  nächsten  Tritt  zu  erfassen  suchen.  Sodann 
war  die  Ueberkletterung  eines  auf  dem  Grate  sich  erhebenden  und  aus 
überhängenden   Blöcken    bestehenden   I""elsturmes   ausserordentlich   schwierig. 

—     40     — 


Alf  der  hüchsten  Spitze  des  Adai-Choch. 

Alles  mahnte  an  den  Grat  des  VYeisshorns,  nur  dass  hier  die  Länge 
desselben  und  tue  einzelnen  Schwierigkeiten  grösser  waren.  Und  dann  kam 
der  letzte,  steile,  aber  breitere  Plrnkamm,  auf  welchem  der  Fuss  wieder 
sicheren  Tritt  fand.  Er  teilt  sich  in  zwei  scharfe  .Schneiden;  noch  einige 
Schritte  auf  der  zur  Linken  emporstrebend,  und  um  i  Uhr  30  Minuten 
nachmittags  des  25.  Juli  18S4  standen  wir  auf  der  höchsten  .Spitze  des 
Adai-Choch! 

Das  Gefühl  lebhafter  Befriedigung,  das  Selbstgefühl  eines  wohl- 
verdienten Triumphes  durchdrang  mich,  als  wir  uns  auf  der  Spitze  die 
Hände   reichten. 

Der  Tag  war  kein  aussichtsgünstiger.  Die  Bergwelt  im  Westen  war 
durch  Nebel  verdeckt.  Nur  im  Osten  waren  die  glitzernden  Firnhäupter 
der  Berge  zwischen  uns  und  Kasbek  klar  geblieben.  Es  ist  eine  Kette  kühn 
geformter,  scharf  geschnittener  Gipfel,  erglänzend  im  blendenden  Weiss  ihrer 
Schneeumhüllung,  aus  welcher  die  hohen  Gipfel  des  Tepli-  und  des  Gimarai- 
Choch  aufragen  und  die  das  edle  Schneehorn  des  Kasbek  schliesst.  Firn- 
felder und  wild  zerrissene  Hängegletscher  drangen  vom  Gipfel,  auf  welchem 
wir  standen,  in  die  Tiefe.  Die  grosse  Landschaft,  vom  Dunkel  des 
kommenden  Sturmes  überschattet,  trug  das  Gepräge  der  wildesten  und 
mächtigsten  Hochalpenszenerie.  Nur  im  Süden,  wo  durch  eine  Lücke  der 
sich  vor  uns  erhebenden,  wild  zerrissenen  Gebirgskämme  in  ferner  Tiefe 
die  grünen  Matten,  Hügel  und  Wälder  der  Radscha,  noch  von  den  Sonnen- 
strahlen vergoldet,  erschienen,  zeigten  sich  mildere  Züge  in  der  wilden 
Grossartigkeit  der  Aussicht.*) 

Wir  verbrachten  nur  eine  kurze  Viertelstunde  aut  der  schmalen 
Schneeleiste  der  Spitze,  welche  kaum  Raum  für  uns  bot.  Einige  Schritte 
nach  rechts  brachen  Felsen  durch  den  Firn.  Wir  schichteten  mehrere 
Gesteinstücke  zu  einem  kleinen  Steinmännchen.  Das  abgeschlagene  Hand- 
stück des  Gesteins,   das   ich   mitnahm,   ist  ein   granitischer  Gneis. 

hii  Abstieg  war  die  Ueberwindung  schlechter  Stellen  schwieriger  als 
im  Aufstieg  und  erforderte  grosse  Vorsicht.  Aber  im  ganzen  kamen  wir 
rasch  vorwärts.  Wir  wurden  hierbei  durch  den  Zustand  des  Schnees  unter- 
stützt, welcher  bis  spät  am  Tage  gut  blieb  und  nur  in  den  letzten  Stunden 
erweicht  war.  Gegen  Abend  waren  wir  wieder  im  Schneecouloir,  in  welchem 
wir  am  Morgen  emporstiegen.  Hier  traf  uns  ein  Lhifall,  der  ernste  Folgen 
hätte  haben  können,   indem   der  vorangehende  Ruppen   ausglitt  und  stürzte; 


*)  Adai-Choch,  der  höchste  Gipfel  der  Gruppe,  liegt,  wie  dies  im  Kaukasus  oft  der  Fall 
ist,  in  einem  vom  Hauptkamm  sich  ablösenden,  gegen  Norden  streichenden  Zuge. 

—      41      — 


IRKI AHRTEN    I\    PER   SciINEEWÜSTE. 

zum  Glück  war  der  Schnee  etwas  erweicht  und  wir  hemmten  Jen  Sturz  so- 
fort durcli  das  stratt  angezogene  Seil,  mit  dem  wir  verbunden  waren.  Am 
Fusse  des  Couloirs  latren  grosse  Massen  Schnee,  welche  dort  den  Berg-- 
schrund  zum  Teil  überdeckten.  Wir  verfolgten  das  Couloir  bis  über  das 
lüiile  hinaus,  überschritten  ohne  Schwierigkeit  den  Bergschrund  imd  schlugen, 
um  zu  unserm  Biwakplatz  zu  gelangen,  tiefer  unten,  links  wendend,  eine 
kürzere  Route  ein  als  die  am  Morgen,  die  uns  erst  auf  die  Höhe  des 
Felswalles  gclührt  hatte,  von  wo  wir  dann  h()her  oben  in  das  Couloir 
einmündeten 

Um  7  Uhr  abends  hatten  wir  unser  Biwak  wieder  erreicht.  Unglück- 
licherweise war  alles,  was  wir  dort  gelassen  hatten,  die  Schlafsäcke,  die 
armseligen  Ueberreste  unseres  Proviants,  durch  das  über  die  Felsen  rieselnde, 
abschmelzende  Schneewasser  durchnässt.  Wir  nahmen  einige  Mundvoll 
warmer  Limonade,  welche  wir  nur  schwer  erwärmen  konnten  und  krochen 
dann  in  die  .Schlafsäcke.  Unser  armer  Peter  war  von  Unwohlsein  befallen 
und  jammerte.  Die  Nacht,  welche  folgte,  war  eine  elende.  Wind  und  Regen, 
Hagel  und  Schnee  lirachen  über  uns  herein.  Nur  schlecht  geschützt  in  den 
stellenweise  ganz  durchnässten  Schlafsäcken,    froren   wir  entsetzlich. 

Mit  Tagesanbruch  —  das  Wetter  war  wieder  besser  geworden  — 
sammelten  wir  unsere  Sachen  und  begannen  den  Abstieg.  \n  der  flucht- 
artigen Eile,  mit  welcher  wir  die  ungasdiche  Stätte  verliessen,  vergass  ich 
Notizen  zu  machen,  und  meine  Erinnerung  sagt  nicht,  wieviel  das  Minimum- 
Thermometer  zeigte,   noch   um   welche   Stunde  wir  aufbrachen. 

hl  der  Absicht,  die  Pa.ssage  durch  den  obersten  Eisfall  zu  vermeiden, 
blieben  wir  auf  der  Höhe  unseres  Bollwerks,  um  nach  einem  Abstieg  zu 
forschen,  welcher  uns  unterhalb  des  Eisfalles  auf  den  Gletscher  landen 
sollte.  Nirgends  jedoch  konnten  wir  eine  möglich  erscheinende  Abstiegslinie 
entdecken :  die  Felsen  und  Rinnen  waren  durch  ein  kontinuierliches  Band 
abstürzender  Klippen  vom  Gletscher  abgeschnitten.  .Stunden  verstrichen  in 
fruchdosen  Versuchen.  Wir  hatten  seit  24  Stunden  nahezu  keine  Nahrung 
zu  uns  genommen,  und  ein  zweites  Nachtlager  in  der  Eisregion  hätte  uns 
in  eine  fatale  -Situation  gebracht.  Das  Wetter  hatte  sich  wieder  verschlimmert, 
und  ängsdich  forschend  standen  wir  jetzt  auf  einer  Höhe,  um  aus  der  schon 
von  wogencien  Nebeln  umhüllten  Schneewüste  einen  Ausweg  zu  finden. 
Endlich  beschlossen  wir,  in  der  Höhe  weitergehend,  das  Becken  eines 
kleinen  Seitengletschers  zu  erreichen  und  über  denselben  zum  tieferen 
Gletscherboden  abzusteigen.  Es  war  ein  grosser  Umweg,  aber  es  war  die 
einzige  Richtung,  welche  praktikabel  erschien  und  sich  auch  als  solche  erwies. 

—      42      — 


Abstieg  zum  Zei-Gletschf.r. 

Wir  überquerten  im  Abstieq^e  den  Firngletscher,  um  zu  einer 
Schneerinne  zu  gchuii^cn,  durcli  die  wir  zum  Zeigletscher  absteigen 
wollten.  Frülier  machten  wir  noch  eine  Rast  und  verzehrten  die  armseligen 
Reste  unseres  Proviants.  Durch  die  steile  Schneerinne  mus.sten  wir  uns  den 
Weg  mit  dem  Eispickel  bahnen.  Der  untere  Teil  des  Zeigletschers  war 
durch  den  Regen  glatt  und  schlüpfrig  geworden.  Weite  Schneeflächen 
waren  rot  gefärbt,  in  einer  Ausdehnung,  in  welcher  ich  dieses  Phänomen 
in  den  Alpen  nie  bemerkt  habe.  Die  rote  P^ärbung  entsteht,  wie  in  den 
Alpen,   durch   eine   kleine  Planzenart:   Protococcus  nivalis. 


Der  Eisstrom   des  Zei-tUetschers   l^taluärts). 

Endlich  erreichten  wir  den  Schneehang  an  der  Seite  des  untersten 
Eisfalles.  Aengstlich  forschten  wir  an  den  Uferhängen  des  Gletschers,  um 
dort  unsere  Leute  zu  erblicken  Wir  hatten  die  Träger  mit  Proviant  und 
Kochapparat  für  den  vorhergehenden  Nachmittag  an  den  P\iss  des  Eisfalles 
bestellt,  in  der  Hoftnung,  dass  es  möglich  sein  würde,  am  Tage  der 
Ersteigung  des  Gipfels  noch  dorthin  zu  gelangen.  Wir  mussten  nun 
befürchten,  dass  die  Leute,  da  wir  nicht  ankamen,  wieder  abgestiegen 
waren  und  gar  nicht  mehr  heraufkommen  würden.  Und  diese  Befürchtung 
wurde  fast  zur  traurigen  Gewissheit.  Keine  Spur  von  Menschen  war  in  der 
Nähe  des  Gletschers  zu  entdecken.    Zu  allen  Unbilden  des  Wetters,   die  wir 


43 


Zusammentreffen  mit  uxsern  Träcerx. 

zu  erdulden  hatten,  schien  es,  als  müssten  nun  die  Oualen  des  Hungers 
sich  gesellen.  Da  —  plötzlich  entdeckten  wir  weit  unten  einige  Männer 
langsam  emporsteigen.  Es  konnte  kein  Zweifel  sein,  es  waren  unsere  Leute, 
und  mit  ihnen  kam  Proviant,  Brennholz  und  unser  Kochapparat.  Wir  konnten 
kräftige  Ausbrüche  der  Freude  nicht  unterdrücken.  Burgener  zog,  um  ein 
Zeichen  zu  geben,  seinen  Revolver  und  feuerte  ihn  in  die  Luft,  ich  glaube, 
das  einzige  Mal,  dass  sein  Schall  im  Kaukasus  gehört  wurde,  obgleich 
Burgener  während  der  ganzen  Reise  darauf  bestand,  ihn  selbst  auf  unsern 
Gletscherexpeditionen  zu  tragen,  zur  Verteidigung  gegen  das  »schlechte 
Volk«,  wie  er  die  Eingeborenen  nannte,  mit  welchen  zusammenzustossen 
sein  beständiger  sorgenvoller  Traum  war.  Unsere  Leute  hatten  die  Signale 
gehört.  Sie  beeilten  sich,  und  bald  trafen  wir  auf  der  Moräne  zusammen. 
Es  war   2   Uhr  nachmittags. 

\^on  Herrn  Dolbischew,  der  in  vorsorglicher  Güte  alles  schickte,  was 
er  eben  schicken  konnte,  brachten  die  Träger  auch  einige  Zeilen.  Ich  kann 
nicht  umhin,  sie  wörtlich  wiederzugeben,  sie  sind  bezeichnend  für  das  Leben, 
das  da  oben  im  fernen  Lande  geführt  wird:  »je  vous  envoie  les  trois 
porteurs!  Gott  gebe,  dass  Sie  alle  drei  wohlbehalten  erscheinen!  Dans 
les  deux  sacs  vous  trouverez  le  saucisson  pour  la  soupe,  Textrait  de  viande 
de  Liebig,  du  sei,  une  lanterne,  une  bougie,  le  reste  de  notre  pain,  la 
casserolle  et  du  bois.  Si  vous  arrivez  de  bonne  heure,  vous  ne  me  trouverez 
plus  —  je  m'en  \ais  a  la  chasse.  Gardez  moi  une  tasse  de  the  et  un 
morceau   de   sucre.     Le   the  sans  sucre  est  bien,   bien  mauvais!  I    Dolbischew.« 

Die  Sonne  schien  jetzt  wieder  warm.  Behaglich  ruhten  wir.  Eine 
köstliche  Suppe  wurde  gekocht.  Nach  einer  Stunde  waren  wir  wieder 
unterwegs.  Aber  noch  hatten  wir  das  Ende  des  Gletschers  nicht  erreicht, 
als  uns  ein  Gewitterregen  zwang,  Schutz  unter  einer  überhängenden  I'els- 
balm   der  Tahvand   zu   suchen. 

Um  6  Uhr  waren  wir  wieder  im  Zejalager.  Herr  Dolbischew  begrüsste 
uns  auf  das  freudigste.  Er  hatte  am  Tage  der  Ersteigung  von  der  Höhe 
der  l'elshänge,  im  Rücken  des  Lagerplatzes,  einen  Teil  unseres  Anstieges 
beobachten  können;  wir  waren  ihm  durch  das  Pernrohr  wie  Miegen 
erschienen,  welche  an  einer  weiss  getünchten  Mauer  krabbeln;  später  ent- 
schwanden  wir  durch   eine  Wendung  nach   rechts  seinen  Blicken. 

Am  folgenden  läge  hingen  schwere  Wolken  an  den  Bergwänden. 
Um  8  Uhr  war  das  Lager  abgebrochen.  Burgener  und  ich  eilten  voraus. 
Bei  der  Brücke  angelangt,  zogen  wir  es  vor,  einem  Pfade  an  der  rechten 
Talseite    zu    folgen,    den    wir    schon    im   Hinwege    bemerkt    hatten,   um   den 


KücKWKi;  NACH  Si.  Nu  ulai. 

steilen  Anstieg  zur  Terrasse,  auf  welcher  das  Dorf  Zei  liet;t,  zu  vermeiden. 
Es  währte  jedoch  nicht  lange,  bis  der  Pfad  immer  unkenntlicher  wurde. 
Walddickicht  umfing  uns,  durch  welches  wir  uns  wanden.  Dann  kreuzten 
tiefe  Erosionsschluchten,  Wasserrisse  den  Weg,  in  welche  wir  absteigen  und 
jenseits  an  steilen  Geröllhalden  emporklettern  mussten.  Erhitzt  und  erschöpft 
trafen  wir  um  i  l'hr  mit  den  andern  zusammen.  Um  2  Uhr  rückte  die 
Karawane  in  St.  Nicolai  ein. 

Die  Ersteicjunor  des  xAdai-Choch  war  vollbracht.') 


*)  Es  wurde  später  schwierig,  die  Lage  des  von  uns  erstiegenen  Gipfels  mit  dem 
unmittelbar  am  Mamissonpass  liegenden  Gipfel,  dem  Adai-Choch  der  älteren  Auffassung  Freshfields, 
der  ich  mich  gleichfalls  angeschlossen  hatte,  in  Einklang  zu  bringen.  Die  neuen  Aufnahmen  des 
russischen  Generalstabes  (die  unpublizierten  Messtischblätter  im  Massstabe  von  1  :  42  000)  haben 
Klarheit  in  der  Topographie  dieser  Gipfel  geschaffen.  Sellas  ausgezeichnete  telephotographische 
Aufnahme  vom  Tepligipfel  und  das  Routencroquis  meines  Anstieges  und  Abstieges,  zusammen- 
gehalten mit  der  neuen  Mappierung,  haben  die  Annahme,  dass  einer  der  Gipfel,  welche  das 
Quellgebiet  des  Tschantschachi-Baches  an  der  westlichen  Abdachung  des  Mamissonpasscs  umstehen, 
erstiegen  worden  wäre,  endgültig  beseitigt  und  erwiesen,  dass  der  erstiegene  Gipfel  identisch  mit 
dem  Kulminationspunkte  der  Adai- Choch- Gruppe   ist. 


Das   Dorf  Kamunta. 


IV.  KAPITEL. 


Aus  dem  Ardontal  zum  Uruch. 


Who   hp:iv<cl   tlic    nuumtiÜD,    wliich   siiblinily  Stands 
j\\\i\   casts   ils   sliailow   inlci    .listant   laiuls? 


Nach  der  Ersteigung-  des  höchsten  Gipfels  der  Adai-Choch-Gruppe 
sollte  uns  die  Fortsetzung  der  Reise  über  eine  Reihe  von  Hochpässen  gegen 
Westen  in  die  oberen  Täler  des  Uruch,  Tscherek  und  Bakssan  führen.  \"on 
St.  Nicolai   gingen  wir  wieder  talabwärts  zum  Vereinigungspunkte  des  Ardon 


welchem  der  letztere  entströmt.  Eine  Steinschlucht  führt  nach  wenigen 
Kilometern  zum  Bergwerke  von  Ssadon,  das  in  einer  Höhe  von  1 308  m 
liegt.  Das  Haupterz  der  Gruben  ist  silberhaltiger  Galenit.  Wir  verbrachten 
den  Nachmittag  in  Ssadon,  wo  das  Fest  eines  Kirchenpatrons  gefeiert  wurde, 
untl  hatten  Gelegenheit,  ein  Stück  ossetischen  Volkslebens  zu  beobachten. 
Die  ( )ssen  sind  ein  arischer  Stamm,  ihre  Sprache  ist  eine  iranische 
und  mit  keiner  andern  kaukasischen  Sprache  verwandt.  Ueber  den  Ur- 
sprung des  Volkes  gibt  es  die  verschiedensten  Hypothesen,  je  nachdem 
man  den  griechischen,  römischen,  arabischen  Quellen  oder  der  georgischen 
Chronik  des  Wachuscht  folgt.  l^ie  neueren  Forschungen  über  Sprache, 
anthropologische  und  ethnographische  Verhältnisse  der  Ossen  unterstützen 
jedenfalls  die  Ansicht,    dass  sie   dem  Volksstanime    der  Alanen  angehörten. 


Das  Volk  der  Osskn. 

Heute  erscheinen  die  Üssen  der  L^rossen  kaukasischen  V'olkerfamiHe,  ins- 
besondere denjenigen  Völkern,  die,  ihnen  benachbart,  die  Herj^'t^rebiete  des 
zentralen  Kaukasus  bewohnen,  eng  angegliedert  zu  sein,  mit  denen  sie  in 
Charakter,  Sitten  und  Gebräuchen,  auch  im  Aeussern  die  gleichen  Züge 
aufweisen.  Allerdings  sind  auch  mir  bei  den  Ossen  vielfach  blondes  Haar, 
insbesondere  blonde,  lange  Vollbarte  und  blaue  Augen  aufgefallen,  und 
zwar  mehr    bei   dem  Teile    des  Volkes,    welcher    dem    christlichen   Glauben 


Ossetisrhe   IlLumaher. 


anhängt,  als  bei  demjenigen  —  etwa  ein  Viertel — ,  welcher  mohammedanisch 
ist.  Ob  aber  dies  und  die  Sitte  des  Abnehmens  der  Kopfbedeckung  beim 
Grüssen,  sowie  eine  gewisse  Aehnlichkeit  in  den  Formen  ihrer  Hauseinrich- 
tungsgegenstände und  der  landwirtschaftlichen  Geräte,  in  einigen  Gebräuchen, 
insbesondere  bei  Hochzeiten,  und  endlich  die  bei  ihnen  entwickelte  Kunst 
des  Bierbrauens  und  ihre  entschiedene  Vorliebe  für  dieses  Getränk,  genügende 
Merkmale  für  die  Annahme  einer  nahen  V'erwandtschaft  mit  europäischen 
Völkern,  besonders  mit  germanischen,  sind,  mag  dahingestellt  bleiben,  wenn 
nicht  eben  die  Vorliebe  der  Ossen  für  Bier  (Lud  in  ihrer  Sprache)  für  eine 
Verwandtschaft   mit   den   Deutschen  ausschlaggebend   sein  soll. 


Von  Ssadon  nach  Kamunta. 

Die  Ossen  teilen  sich,  auch  (hirch  von  einander  abweichende  Mnnd- 
art('n  ihrer  Sprache  imterschieden,  in  melirere  Stämme,  von  welchen  die  am 
Oberlaufe  des  Urach  sesshaften  als  Digorier  bezeichnet  werden.  Wie  bei 
nahezu  allen  kaukasischen  Bergvölkern,  ist  auch  das  Christentum  der  Ossen 
stark  mit  heidnischen  (jebräuchen  vermischt.  Das  (Jssenvolk  zählt  nahe  an 
190000  Seelen.  Ihre  Wohnsitze  liegen  westlich  der  grusinischen  Heerstrasse, 
in  den  Flusstälern   des  Genal-don,   Gysal-don,   Fiag-don,  des  Ardon  und  des 


Uruch,  sowie  in  den  Ouellgebieten  des  Terek  und  längs  seines  Laufes  bis  vor 
Wladikawkas,  aber  auch  jenseits  des  Hauptkammes  im  Süden,  in  den  oberen 
Talgebieten  der  Liachwaflüsse,  des  Ksanki  und  einiger  östlicher  Ouellflüsse 
des  Rion,  wo  sie  weit  hinein  in  die  von  georgischen  Völkerschaften  be- 
wohnten Berglandschaften  reichen. 

Als  wir  am  Morgen  des  28.  Juli  Ssadon  verliessen,  war  die  Land- 
schaft von  Kamunta,  jenseits  der  Wasserscheide  zwischen  Ardon  und  Uruch, 
das  Ziel,  dem  ich  zustrebte.  Wir  konnten  erst  um  8  Uhr  aufbrechen,  da 
die   Lastpferde   nicht  früher   zur  Stelle    waren    und    das  bestellte    Brot    nicht 


ÜnEK  DKx  Kaminta-Sattet,. 

zum  Vorschein  kam.  Da  dieses  auch  bis  zu  unserm  Aufbruche  nicht  fertig 
war,   musste   der  Kosak  zurückbleiben,   um   es   uns   nachzubringen. 

Der  Weg  führt  thu-ch  ein  enges,  steiniges  Tälchen  an  der  Grenze 
der  Gneisgranite  und  der  schwarzen  Tonschiefer  Die  Wände  des  sich 
in  streng  westlicher  Richtung  emporziehenden  Tales  bilden  im  Süden  die 
Gneisgranite  der  Hauptkette,  während  die  nördliche  Umrandung  jener  Ton- 
schieferzone angehört,  welche  wir  bei  Nusal  im  Ardontale  antrafen.  Das 
Wetter  war  trüb  und  erhöhte  den  Pjndruck  der  Oede,  welche  die  farblose 
Landschaft  hervorruft. 

Bei  Ssgid  (1562  m),  wo  mehrere  Steinhütten  mit  Türmen  auf  der 
vorspringenden  Talwand  stehen,  stürzt  der  Bach  aus  einer  engen  Schlucht 
in  Fällen  herab,  und  das  Tal  wendet  sich  gegen  Norden.  Der  Rückblick 
von   der  Höhe   traf  die   Schneeberge   im  Südosten   des   Ardontales. 

Aus  der  Enge  tritt  man  in  ein  grünes  Wiesenhochtal,  das  eine  reiche 
Alpenflora  birgt.  Gentianen,  Campanula,  Geranium,  Centaurien,  Vaccinium, 
Senecio  standen  mit  zahllosen  andern  Alpenpflanzen  zum  Teil  noch  in 
voller  Blüte.  Eine  durch  ihre  teils  graue,  teils  rödich-gelbe  Färbung  ciolomit- 
ähnliche,  gezackte  Mauer  steigt  zur  Rechten  über  demselben  auf.  Es  ist 
dies  jene  Kette  von  Jurakalken,  welche  im  Norden  des  Hauptkammes  parallel 
mit  diesem  zieht  und  den  Ardon  bei  Aul  Bis  erreicht.  Zwischen  derselben, 
kaum  3  bis  4  Kilometer  von  ihrem  höchsten  Gi[>fel,  dem  Kion  -  Choch 
(3423  m),  und  einem  nördlichen  Ausläufer  des  Adai- Choch  -  Massivs, 
liegt  im  Scheiderücken  zwischen  den  Flusssystemen  des  Ardon  und  des 
Uruch  die  zum  Teil  mit  grünenden  Matten  bedeckte  .Sattelhöhe,  welche  uns 
als  Uebergang  diente.  Um  Mittag  sind  wir  auf  der  Höhe  angelangt  (2439  m). 
Ich  nannte  den  Pass  Kamunta-Sattel.*)  Die  Granite  der  Hauptkette  sind 
hier  vom  Jurakalke  durch  ein  breites  Band  von  Schiefern  (Sandsteine  und 
Tonschiefer)  getrennt.  An  der  Basis  der  mit  nahezu  horizontalen  Schichten 
aufstrebenden  Kalkmaucrn  liegen  mächtige  Schuttkegel,  welche  ihr  Material 
von  in  denselben  hoch  hinaufziehenden  Runsen  erhalten.  Diese  Schutthalden 
verdecken  die  den  Sattel  bildenden  Sandsteine  und  Tonschiefer.  Der  Aus- 
blick i.st  beschränkt ;  die  im  Süden  liegenden  Berge  der  Adai-Choch-Gruppe 
sind   leider  von   Wolken   und   Nebel   bedeckt. 

Auf  der  Höhe  eines  weit  in  das  Tal  streichenden  Bergrückens  zieht 
der  Pfad,  wenig  sinkend,  in  das  sich  weitende  Talgelände  und  gewährt  einen 
freien   Ueberblick   über  die   Gegend.      Zu    unserer  Rechten    begleitet    unsern 


*)  Jetzt  auch  mit   Ssadonpass  bezeichnet. 

Dechy:   Kaukasus. 

—     49     — 


I^AIAKT    KArKASISCIlEK    DOKKKR. 

Weg  die  |urakalkkettc,  wahrend  zu  unserer  Linken,  im  Südwesten,  die 
kristallinische  Adai-Choch-Cirupije  sich  auftürmt.  Wir  wanderten  über  einen 
aus  grossen,  ebenflächigen  Platten  feinkörnigen  Sandsteins  bestehenden 
Rücken,  der  uns  zu  den  auf  seinem  hügelförmigen  Endpunkte  amphitheatralisch 
aufsteigenden  Hütten  des  Dorfes  Kamunta  (187g  m)  brachte.  Der  Ort  ist 
durch  die  in  seiner  l'mgebung  aufgedeckten  Nekropolen  und  die  denselben 
entstammenden,  prähistorischen  und  byzantinischen  Funde  berühmt  geworden. 

Die  aus  kaum  behauencn  Steinen  und  Blöcken  zusammengefügten 
Häuser  des  Dorfes  lehnen  meist  mit  der  Rückseite  am  Berghang.  Die 
Dächer  sind  flach,  mit  Erde  bedeckt  und  grasbewachsen  Rohe  Ruten- 
geflechte, welchen  der  Rauch  der  Feuerstellen  im  Innern  der  Hütten  ent- 
steigt, sind  ihnen  aufgesetzt.  Die  Häuser  folgen  einander  etagenförmig 
und  erscheinen  wie  in  den  Berg  hineingebaut.  Es  ist  dies  der  Typus  der 
Bauart  der  meisten  Dörfer  in  den  Nordtälern  des  Kaukasus,  der  im 
wesentlichen  auch  für  den  östlichen  Kaukasus  vorbildlich  ist.  Einige 
Häuser  haben  längs  ihrer  Vorderseite  laufende  Holzbalkone,  nur  wenige 
stehen  ganz  frei.  Der  Anblick  eines  solchen  Dorfes  ist  ein  fremdartiger  und 
erinnert  an  die  Wohnstätten  der  Eingeborenen  in  den  Bergen  des  Libanons. 
Auch  der  Charakter  der  Landschaft  legt  solche  Erinnerungen  nahe.  Grüne 
Wiesen,  ohne  jeden  Baum  und  Strauch,  nur  selten  durch  ärmliche  Kulturen 
unterbrochen,  dehnen  sich  im  wellioen  Hügelgelände  der  Umeebunor  aus. 
In  der  Tiefe  haben  sich  die  Bäche  steinige  Rinnsale  eingeschnitten.  Die 
Tallandschaft  zeigt  w^enig  Aehnlichkeit  mit  den  Hochtälern  der  Alpen,  ins- 
besondere unter  dem  trüben  Wetter  des  heutigen  Tages,  das  die  gletscher- 
erfüllten .Schluchten  in  der  im  Süden  von  Kamunta  liegenden  Bergkette 
mit     neidischen    Wolken    unsern   Blicken   entzog. 

Wir  kamen  am  Nachmittag  in  Kamunta  an  und  wurden  vom 
Starschina')  empfangen,  der  uns  die  Gemeindestube  des  Dorfes  als  Nacht- 
quartier einräumte.  W^ir  erstanden  ein  Schaf,  und  bis  zum  Abend  kam  auch 
unser  Kosak,  der  in  Ssadon  zurückgeblieben  war  und  das  dort  gebackene 
Brot  brachte. 

29.  Juli  Wir  sind  früh  wach.  Die  im  Süden  sich  erhebende  Schnee- 
kette liegt  am  Morgen  ziemlich  klar  vor  uns.  Dem  östlichen,  gletscher- 
erfüllten Hochtale  entströmt  der  Dargon-Kom  ;  dem  gegen  Westen  folgenden, 
in  dessen  Höhe,  durch  einen  gewundenen  Felskamm  getrennt,  die  beiden, 
einem   gemeinsamen  Pirneebiet  entstammenden  Ssonouta-Gletscher  sich   aus- 


■'')  Starschina,   ein   russisches   Wort,   bedeutet  Alter,   es  wird   mit  demselben  der  Dorfälteste, 
das  Oberhaupt  des  Dorfes,  bezeichnet. 


L'liER    KINKN    HKKCKÜCKKN    IX    DAS    SKA-1  TIKi  iM-TaL. 

breiten,  der  Ssoiiguta-Bach.*)  Das  P'irngebiet  der  Sson^-uta-Ciletscher  zieht 
hinauf  zu  den  Nordabstürzen  des  Ssonguta-Choch,  und  in  der  Ecke,  an 
diesen  sich  lehnend,  erkennt  Burgener  die  mit  eisdurchfurcliten  Wänden  sich 
erhebende   Pyramide   des  Adai-Choch. 

Trotzdem  die  drei  Lastpferde  und  Leute  für  5  Llhr  morgens 
bestellt  waren,  kostete  es  einen  Kampf,  lils  wir  um  g'/a  Uhr  vor- 
mittags aufbrechen  konnten.  Wir  begannen  die  Erfahrung  zu  machen, 
welche  im  weiteren  V'erlaufe  der  Reise  noch  öfter  traurige  Bestätigung 
erhalten  sollte,  dass  es  eines  der  am  schwierigsten  zu  losenden  Probleme 
ist,  im  Kaukasus  von  bewohnten  Orten  mit  Pferden  einen  frühen  Aufbruch 
zu  erzwingen.  Unsere  Karawane  bestand  aus  drei  Lastpferden,  einem 
Pferdetreiber  in  der  Person  des  Gemeindeschreibers  von  Ssadon,  einem 
Träger,   dem   Kosaken   und   uns   vieren,   im  ganzen   sieben  Mann. 

Es  war  nicht  leicht  gewesen,  den  Eingeborenen  die  Richtung  klar 
zu  machen,  in  welcher  wir  die  Reise  fortsetzen  wollten.  Um  in  das  Uruch- 
tal,  unser  Ziel,  zu  gelangen,  führt  von  Kamunta  der  Weg  dem  nach 
Nordwesten  ziehenden  Talbache  entlang,  welcher  als  Aigamugidon  in  den 
Uruch  fällt.  Dieser  Weg  hätte  uns  jedoch  vom  Hochgebirge  entfernt,  in  dessen 
Nähe  wir  die  gegen  Norden  ziehenden  Ausläufer  jener  Gratzüge  überschreiten 
wollten,  welche  die  Talschluchten  einschliessen,  die  dort  gletschererfüllt  in 
die  Hohe  ziehen.  Die  Eingeborenen  konnten  es  nun  absolut  nicht  begreifen, 
warum  ich,  statt  des  bequemen  und  bekannten  Weges  in  das  Uruchtal,  nahezu 
pfadlos  durch  das  schwer  begehbare  Hochgebirge  ziehen  wollte.  Es  währte 
lange,  bis  es  mir  gelang,  insbesondere  bei  der  Unzulänglichkeit  der  zur  Ver- 
fügung stehenden  Karte,  die  Richtung  der  einzuschlagenden  Route  festzustellen. 

Zuerst  stiegen  wir  zu  einer  tiefer  liegenden  Hüttengruppe  ab,  über- 
schritten den  Ssongutabach  und  mussten  dann  unter  den  sengenden  Strahlen 
einer  kaukasischen  Sonne  einen  langen  und  steilen  Anstieg  in  Angriff 
nehmen.  Nach  zwei  Stunden  kamen  wir  auf  die  Höhe  (ca.  2100  m  A.  D.) 
des  nach  Norden  ziehenden  Grates,  welcher  die  Talschluchten  des  Ssonguta- 
und  des  Skattikom-don  trennt.  Wir  erblickten  nur  wenig  unter  uns  ein  vom 
Bache  durchströmtes  Wiesenhochtal  und  im  Hintergrunde  desselben  eine  in 
sanften  Linien  sich  aufbauende  Gletschergruppe,  in  dessen  Mitte  der  Skattikom- 
Choch  (4513  m)  thront —  ein  hübsches  abgeschlossenes  Bild.  Der  Skattikom- 
Gletscher  zeigt  eine  wenig  zerklüftete  Eläche,  und  mächtige  Pelsgrate  teilen 
das  Firnreservoir  in   zwei   Hälften.     Eine  halbe  Stunde  später  rasteten  wir  auf 


*"')  Ich  folge  hier  der  von  den  Eingeborenen  erkundeten   Nomenklatur,  die  nicht  nur   den 
Bach   Ssonguta-Bach   nennen,    sondern   auch   die    eisigen  Höhen  im   Hintergrunde  Ssonguta-Choch. 


Sc'ii\viKkT(;K  Üi;ERsciiRi;i'rL\(;  der  kaukasischen  Berguäciie. 


weichem   Rasen,    am   Ufer   der  eisigen   Wasser  des   Skattikom- Baches,   nach 
dem   heissen   Anstieg  doppelt  willkommen. 

Als  wir  aufbrachen,  musste  zuerst  der  Skattikom  -  Bach  übersetzt 
werden.  Da  keine  Brücke  vorhanden  war,  konnte  man  über  die  das  Bach- 
bett erfüllenden,  stürmisch  dahinschiessenden  Fluten  nur  zu  Pferde  an  das 
andere  l'fer  gelangen.  Die  kaukasischen  Bergwasser  sind  in  ihren  oberen 
Teilen,    im   unwirtlichen   Hochgebirge,    nicht  überbrückt,    schwellen  während 

des  Tages  oft  mächtig  an  und 
sind  dann  für  l*"ussgänger  gar 
nicht  und  auch  zu  Pferde  oft 
schwer  zu  überschreiten.  Da  wir, 
Reisende  und  Pührer,  zu  PTiss 
marschierten,  so  wurde  das  Pferd 
des  Kosaken,  nachdem  Träger 
und  Pferdetreiber  sich  auf  die 
beladenen  Pferde  geschwungen 
hatten,  vom  jenseitigen  Ufer 
immer  wieder  über  den  Bach 
getrieben,  um  jedesmal  ein  Mit- 
glied unserer  Gesellschaft  zu 
holen.  Zuerst  ritt  ich  über  den 
Bach,  dann  folgten  Merr  Dolbi- 
schew,  die  beiden  Schweizer,  und 
endlich  kam,  wie  es  hiess,  »die 
Photographie  geritten« ,  der  Ruck- 
sack mit  den  photographischen 
Apparaten,  welchen  der  Kosak  trug.  Der  photographische  Apparat  wurde 
in  solchen  Fällen  immer  den  Bergbewohnern,  meist  dem  Kosaken,  anvertraut, 
welche  ausgezeichnete  Reiter  und  gewöhnt  sind,  die  Pferde  durch  die 
stürmischen  Wasser  zu  führen. 

Jenseits  des  Baches  begann  ein  langer  und  steiler  Anstieg,  durch  ein 
im  Anfange  begrüntes  Hochtal  und  später  längs  steiniger  Bergrücken.  Die 
letzten  Grashänge  sind  verschwunden.  Zwei  Stunden  lang  wandern  wir  durch 
eine  geröllbedeckte  Einöde,  über  wild  zerklüftetes  Steingehänge,  bis  in  immer 
steilerem  Ansteigen  die  Höhe  des  Ueberganges  erreicht  ist.  Nach  dem 
jenseits  liegenden  Dorfe  nannte  ich  ihn  Gularpass.  Es  liegt  .Schnee  auf  der 
Passhöhe,  und  ein  kalter  Wind  bläst  da  oben.  Das  Thermometer  zeigte 
lo"  C.,  die  Höhenmessung  ergab   2929  m  (A.  D.)     Düstere  Wolken  waren 


Fiinhöhen   im   Skatti  kom  -  Tale. 


Vom  Gui.ar-Pass  zu  den  HCttkx  von  Gui.ak. 


von  allen  Seiten  auti^estiegen  luul  verschlossen  jeden  weiteren  lilick.  Nur 
eine  \'iertelstuncle  verweilten  wir,  um  die  Instrumente  abzulesen,  untl  stiegen 
dann   über  die   noch   mit  Schnee  bedeckten   Hänge  abwärts. 

Die  Landschaft  nimmt  rasch  einen  freundlichen  Charakter  an.  Die 
Hänge  bekleiden  sich  mit  Matten,  auf  welchen  eine  reiche  Alpenflora  prangt. 
Die  reizende  Gentiana  caucasica,  Alchemilla,  Saxifragen  und  Campanulen  er- 
freuen das  Auge.*)  Ueber  die  P'elsabsätze  der  linken  Talwand  stürzt  ein  Bach, 
in  mehrere  Kaskaden  geteilt.  jenseits  sind  jetzt  an  den  Bergen  Gletscher 
sichtbar,  die,  scheinbar  am  Horizont  schwebend,  als  lange  Strome  in  die 
Tiefe  ziehen,  dahin,  wo  in  der  Ferne  das  silberne  Band  des  Uruch  glitzert. 
Die  Höhen  sind  von  dichten  Nebelwolken  umlagert.  Tiefer  unten  treten 
bewaldete  Vorberge  in  die  P^lucht  des  Tales,  und  aus  allen  Schluchten  blinken 
Gletscher.  Nach  steilem  Abstiege  erblickt  man  die  vom  Bache  durchzogene 
Talsohle.  Noch  über  derselben,  bei  den  am  Berghange  übereinander 
liegenden  Hütten  des  Aul  Cnilar,  in  einer  Höhe  von  1950  m  (A.  D.)  schlagen 
wir  das  Zelt  auf. 

Die    Szenerien,     durch    welche    wir    am    nächsten    Tage    wanderten, 

wirken  durch  die 
Grösse  und  den 
Reichtum       ihrer 

Formen,   die 
Mächtio-keit  ihrer 


*)  Alchemilla  vulgaris 
L.,  Campanula  tiiden- 
tata  Schreb.,  Gentiana 
caucasica  MB.  und 
septemfida  Fall.,  Saxi- 
fraga  muscoides  Vulf. 


Karagomtal  bei  Dsiiiago 


Von  Dsixaco,  im  Karagomtale,  nach  Stvr-Dig(ir. 

Eisbedeckung.  Schon  von  Gular  hatte  sich  ein  schöner  AnbHck  des  Bartui- 
Gletschers  geboten,  dessen  Eisstrom  zwischen  steilen  Eelsbastionen,  che 
über  waldbestandenen  Talhängen  aufragen,  sich  in  die  Tiefe  windet.  Bei 
dem  Digorierdorfe  Dsinago  (1434  m)  erreicht  man  das  wildschäumende  Wasser 
des  Karagom-Baches,  das  durch  eine  breite  Wiesenfläche  stürmt.  Bald  ge- 
winnt man  den  ersten  Blick  in  das  Eirnreservoir  des  grossen  Karagom- 
gletschers,  der  sich  erweitert,  wenn  die  Hohe  eines  bewaldeten  Riegels 
erreicht  ist,  den  man  übersteigen  muss,  um  aus  dem  Karagomtälchen  nach 
dem  Uruch-Tale  zu  gelangen.  Ein  mächtiger  Eisstrom  dringt,  die  ganze 
obere  Talflucht  erfüllend,  hinab,  an  seinem  Fusse  von  grünen  Waldhängen 
umschlossen  und  in  der  Höhe  von  einer  herrlichen  Gipfelreihe  gekrönt,  die 
in  blendend  weissen  Firn  gehüllt  ist.  Gerne  hätte  ich  den  Karagom- 
Gletscher  besucht,  aber  bei  dem  unbeständigen  Wetter  dieses  Sommers 
musste  ich  westwärts  eilen,  um  in  das  Hochtal  von  Besingi  und  in  das 
Gebiet  des   Elbruss  zu   gelangen. 

Im  Uruchtale  wandten  wir  uns  talaufwärts,  um  Styr-Digor,  die  grösste 
und  letzte  Ortschaft  des  Tales,  zu  erreichen.  Man  wandert  in  einem 
breiten,  mit  Kulturen  bedeckten  Tale,  das  von  dem  der  Hauptkette 
angehörenden  Bergmassiv  des  Lalioda  geschlossen  wird.  Das  Tal  ist 
von  der  Vereinigung  des  Karagombaches  mit  dem  Uruch  eine  Strecke  tal- 
aufwärts in  schwarze  Tonschiefer  geschnitten,  welche  die  westliche  Fort- 
setzung der  Zone  von  Ssadon  und  Kamunta  bilden,  während  die  Talsohle 
stark  mit  diluvialem  Gesteinschutt  aufgeschüttet  ist,  in  welchem  Granite  und 
Gneisgranite  vorwalten.  An  der  orographisch  linken  Talseite  ist  Terrassen- 
bildung  ein  auffallender  Zug  im  Relief  des  Tales.  In  der  Talsohle  erkannte 
ich  in  einer  Hügelwelle  eine  alte  Endmoräne,  welche  mit  den  Talterrassen 
korrespondiert. 

Es  herrschte  eine  drückende  Hitze,  und  nach  einem  ermüdenden  Marsche 
von  etwa  drei  Stunden  kamen  wir  am  \'ormittag  des  30.  Juli  nach  der  an  der 
rechten  Tallehne  aufsteigenden  Hüttengruppe  von  Styr-Digor  (1528  m).  Das 
Dorf  ist  der  Hauptort  der  Stammgenossen  der  Ossen,  der  Digorier,  und 
besteht  aus  etwa  50  Höfen.  Ein  Teil  der  Einwohner  sind  Christen,  der 
andere,   der  angesehenere   und   wohlhabendere,   Mohammedaner. 

Hier  in  der  letzten  Ortschaft  des  L^ruchtales  sollten  andere  Pferde  für  den 
Uebergang  nach  Baikar  (ösd.  Tscherek-Tal)  beschaffet  werden,  und  an  die  Stelle 
unseres  Kosaken,  eines  Ossen,  ein  mohammedanischer  Digorier  treten,  der 
zugleich  der  Sprache  der  Bergbewohner  in  den  Talgebieten  von  Baikar,  der 
mohammedanischen   Tartaren,    seiner   Glaubensgenossen,    mächtig   war.      All 

—      54     — 


ElX    KAUKASISCHKS    DiNER. 


dies  war  nicht  leicht  durchzuführen,  wenit^stens  nicht  in  kurzer  Zeit;  ich 
aber  wölke  unbedingt  am  Xachmittaoe  noch  einige  Stunden  talaufwärts 
ziehen  und   im  obersten   Quelltale  des   Uruch  das   Lager  aufschlagen. 

Der  Starschina  von  Styr-Digor  hatte  uns  empfangen  und  gab  sofort 
Auftrag,  Pferde  und  Leute  herbeizuholen.  Der  statt  des  ossischen  Kosaken 
als  unser  Begleiter  ausersehene  Mann  war  ein  mohammedanischer  Digorier, 
Namens  Chagasch  Karagubajew, 
der  früher  in  der  Suite  des  Kai- 
sers, dem  aus  Söhnen  der  ver- 
schiedenen kaukasischen  Berg- 
stämme gebildeten  Konvoi,  in 
Petersburg  gedient  hatte.  Kara- 
gubajew lebte,  wie  es  schien,  in 
guten  Verhältnissen  und  bezog 
eine  kleine  Pension  von  der  Re- 
gierung. Er  lud  uns  und  den 
Starschina  zum  Pissen,  und  trotz 
meiner  Befürchtung,  dass  das- 
selbe zu  lange  währen  könnte, 
war  es  unmöglich,  abzulehnen, 
um  so  mehr  als  wir  in  der  'Pat 
zu  Mittag  essen  mussten  und  seit 
dem  \'erlassen  Ssadons  keine  zu 
reichlichenMahle  geno.ssen  hatten. 
Sowohl  hier,  als  auch  in  den 
von  mohammedanischen  Tataren 
bewohnten  Dörfern,  welche  wir 
später  berührten,  wurde  bald 
nach  der  Ankunft  der  bis  in 
die  entlegensten  Regionen  ge- 
drungene    russische     Teekessel, 

Samowar,  vorgesetzt,  und  oft  dazu  ein  in  Butter  bereitetes  Gebäck. 
Nach  längerer  Zeit,  meist  nach  einer  für  ausgehungerte  Wanderer  viel  zu 
langen  Pause,  wurde  das  Essen  aufgetragen.  Dieses  wird  auf  niedrigen, 
runden,  dreifüssigen  Tischen  serviert.  Eine  mit  Kissen  belegte  Bank  oder 
kleine  Schemel  bilden  die  Sitzplätze  für  die  Gäste.  Das  erste  Gericht  be- 
stand meistens  aus  gekochtem  Schaffleisch,  dazu  eine  Tasse  mit  einer  aus 
Sahne  gerührten  Tunke.     Man   isst  mit  den  Fingrern  und  taucht  in  rührendem 


Der  Digorier  Karagubaje\ 


Bi'XÄsTiGExnE  Nel'(;ierdf,  der  kaukasischen  Bercbewohner. 

Koniiminisimis  die  Meischstücke  in  die  oemeinsame  Saucenschale.  Allerdings 
bringt  vor  und  nach  dem  Essen  ein  Diener  eine  Waschschüssel  aus  Messing 
und  einen  Krug  Wasser,  Seife  und  Handtuch  zum  Waschen  der  Hände 
herbei,  womit  er  die  Runde  bei  den  am  Mahle  Teilnehmenden  macht  und 
das  Wasser  über  die  Hände  der  sich  Waschenden  giesst.  Das  erste 
Tischchen  wird  weggetragen  und  ein  anderes  an  dessen  Stelle  gesetzt,  auf 
welchem  Schaschlik,  am  Spiess  gebratenes  Schaffleisch,  vorgelegt  wird,  dem 
dann  in  Holzschüsseln  Fleischbrühe  folgt.  Als  Getränk  dient  bei  den 
Mohammedanern  eine  Mischung  von  saurer  Milch  mit  Wasser;  Wein  ist  in  den 
Bergen  des  zentralen  Kaukasus  bei  den  Mohammedanern  nicht  zu  bekommen, 
übrigens  auch  nicht  bei  den  christlichen  Bergbewohnern.  Dagegen  ist  bei 
diesen  ein  schlechter  Fuselbranntwein,  insbesondere  bei  den  Swanen  an  der 
Südseite,  erhältHch,  und  die  Ossen  —  zuweilen  auch  andere  Bergbewohner  — 
brauen  für  ihre  Festgelage  ein  süssliches,  dunkles,  bierähnliches  Getränk. 
Der  Hausherr,  den  eigentlich  der  Gast  zu  Tische  bitten  soll,  nimmt  am 
Essen  teilt.  W^enn  wir  von  einem  Gerichte  nicht  mehr  nahmen,  wurde 
das.selbe  Tischchen  meinen  Führern  vorgesetzt  und  nach  ihnen  dem 
Kosaken,  den  Pferdetreibern,  den  Dienern  des  Hauses  und  endlich  nach 
diesen  allen  Leuten,  die  sich  eben  in  der  Stube  befanden  oder  vor 
der  Tür  dem  .Schmause  zusahen.  Der  Fremde  ist  nämlich  in  diesen 
Tälern  ein  Gegenstand  der  ausserordentlichen  Neugierde  der  Ein- 
geborenen, die  in  unausstehlicher,  oft  ungestümer  Weise  herandrängen  und 
Zeugen  jeder  seiner  Handlungen  sein  wollen.  Selbst  die  Dorfältesten  und 
die  Vornehmeren  unter  den  Bergbewohnern,  bei  denen  man  zu  Gaste  ist 
und  die  schon  etwas  von  der  Welt  ausserhalb  der  kaukasischen  Berge 
gesehen  haben,  scheinen  diese  oft  in  höchstem  Grade  belästigende  Neu- 
gierde mehr  oder  weniger  natürlich  zu  finden  und  pflegen  sich  der- 
selben nicht  entgegenzusetzen.  Dafür  fanden  wir  auch  in  allen  (^rten, 
wo  wir  nächtieten,  in.sbesondere,  wenn  wir  als  Gäste  bei  den  sogenannten 
bürsten,  den  Feudalfamilien  jedes  Dorfes  weilten,  einen  Tross  von  Dienern, 
die  sich  ganz  einfach  aus  den  voll  Neugierde  herbeigeeilten  Dorfbewohnern 
rekrutierten  und  die  dann  allerlei  Dienstleistungen  zumeist  unaufgefordert 
verrichteten. 

Auch  das  Festmahl  in  Styr-Digor  —  denn  ein  solches  war  es  — , 
verlief  in  der  soeben  beschriebenen  Weise.  Es  begann  spät,  lange  nachdem 
der  Tee  gereicht  wurde,  und  dauerte  lange.  Ich  vergass  unterdessen  nicht, 
den  Dorfältesten  nach  dem  Verbleib  der  Pferde  und  Leute  zu  befragen, 
worauf  sich   derselbe  jedesmal   entfernte  —  während   des   Essens   nur  in  den 

—     56     — 


Si'Ä'iKR  AUKiiRucii  V()\  Stvr-1)k;ok. 

Zwischenpausen  und  auf  kürzere  Zeit  —  und  dann  mit  den  \erschiedenstcu 
Antworten  uml  Ausiliichten  zurückkehrte.  So  viel  konnte  ich  denselben 
entnehmen,  dass  es  im  üorfe  selbst  keine  Pferde  gebe,  dass  er  aber  Leute 
auf  die  höheren  Weideplätze  geschickt  habe  —  die  Zahl  der  Boten  und  die 
Entfernung  der  Weideplätze  wechselte  inmier  —  und  dass  sie,  in  gleichfalls 
verschieden  angegebenen  Zeiträumen,  unbedingt  eintreflen  würden.  Unter 
solchen  Umständen  erschien  es  mir  als  das  beste,  mit  dem  Pferdetreiber 
von  Kamunta  ein  neues  Uebereinkommen  zu  treffen,  nach  welchem  er  mit 
den   Pferden   bis   nach  dem   Aul  Kunnym  im  Tscherektale   kommen   sollte. 


So  war  es  4',-  Uhr  geworden,  als  wir  aus  .Styr-Digor  auszogen.  An 
der  Spitze  unserer  Karawane  ritt  jetzt  Karagubajew  —  hoch  zu  Ross  und 
von  seinem  Diener  begleitet,  für  einen  Kaukasier,  insbesondere  lür  einen 
Mohammedaner  und  noch  dazu  für  einen  Mann  von  Rang,  etwas  Selbstverständ- 
liches — ,  dann  kamen  die  drei  Lastpferde  mit  dem  Pferdetreiber  und  Träger 
aus  Kamunta,  und  zum  Schlüsse  folgten  wir  vier  bescheidenen  Wanderer  zu 
Fuss.  Bald  nach  unserm  Aufbruche  gab  es  einen  kleinen  Aufenthalt.  Ein 
Mann  kam  Karagubajew  nachgerannt,  wechselte  einige  Worte  mit  ihm,  und 
ich  erfuhr,  dass  diese  die  Mitteilung  einer  Preissteigerung  für  die  Miete  des 
von  Karagubajew  gerittenen  Pferdes  enthielten.  Die  Pferde  unseres  Mentors, 
so  wurde  zu   meiner  Aufklärung-  hinzuoefüo't,    seien   auf  dem   Felde   bei   der 


—     57    — 


GlETSCIIKR-ZIRKUS    ( )I!ERHALB    S'r\R-DlG(  >R. 

Arbeit  beschäftigt  und  er  gezwungen  gewesen,  ein  Pferd  für  sich  zu  mieten, 
eine  Ausgabe,  die,  ebenso  wie  der  Lohn  für  i^lrn  I  )iener,  als  selbstverständHch 
mir  zur  Last  fallen  müsse.  Tch  konnte  nicht  umhin,  dies  um  so  mehr  recht  und 
billig  zu  finden,  als  ich  unmittelbar  vorher  bei  dem  Manne  zu  Gaste  ge- 
wesen  war. 

Bei  einer  unter  hohen  Bäumen  und  zwischen  grünenden  Feldern 
gelegenen  Hüttengrupjje  hat  sich  der  schneeige  Berghintergrund,  der  eine 
Zeitlang  durch  eine  vorliegende  Terrainwelle  verdeckt  war,  wieder  eröffnet. 
Ihm   entragen  die  glänzend  weissen,   schönen  Firnspitzen  des  Ziteli  (4277  m) 


Gletscher-Zirkus  oberhalb  Styr-  Digor. 

und  der  Laboda  (4320  m),  von  Gletschern  umflutet,  in  die  ein  bewaldeter, 
in  ebenmässiger  konischer  Form  sich  erhebender  Hügel  empordringt.  Etwa 
nach  einer  Stunde  tritt  auch  die  linke,  früher  weit  vorspringende  Talwand 
zurück,  und  wir  stehen  vor  einem  neuen,  ebenso  schönen,  als  eigenartigen 
Gletscherbilde.  Ein  Bergrund  erhebt  sich  unmittelbar  aus  einer  kleinen, 
ebenen,  begrünten  Talfläche,  zu  beiden  Seiten  kulissenförmig  von  bis  hoch 
hinauf  bewaldeten   Hängen  eineerahmt.     Den  kaum  vom  Fels  durchbrochenen 


Das  oiiERK  l  rl'cii-Tai,. 

Eiswall  krönen  sclion  (,reformte  Firngipfel  (Taimasivcek  3822  ni).  Von  den 
schneebedeckten  Wänden  gleiten  zwei  Gletscher  herab.  Diese  Eismassen 
haben  früher  nur  einen  Gletscher  gebildet,  welcher  über  die  steilen  Felsen 
an  ihrer  Basis  niederzog.  Die  F"elsen  haben  sofort  in  die  Augen  springende 
abgerundete  Formen.  Die  Eismassen  zur  rechten  Seite  brechen  jetzt  hoch 
oben  über  den  Felswänden  ab,  von  einer  hohen  Seitenmoräne  begrenzt.  Der 
zur  Linken  vom  Beschauer  liegende  Gletscher  reicht  tiefer  herab  und  hat  eine 
gut  ausgebildete,  langgestreckte,  zerklüftete  Zunge,  welche  trümmerbedeckt 
an  den  Schutthalden  endigt.  Ueber  die  ausgehöhlten  Felswände  rieseln, 
flüssigem  Silber  gleich,  die  Gletscherwasser  nieder,  schlängeln  sich  durch 
den  grünen,  buschbedeckten  Zirkusboden  und  eilen  dann,  mit  dem  links- 
seitigen Gletscherbache  vereint,  dem  Uruch  zu.  An  einen  Felsblock  gelehnt, 
stand  ich  lange,  den  Zeichenstift  in  der  Hand,  wie  gebannt  von  dem  einzig 
schönen   Bilde. 

Schon  vor  Styr-Digor  hat  das  Uruchtal  eine  westliche  Richtung  ein- 
geschlagen und  verläuft  in  seinem  oberen  Teile,  von  dem  Charwess  ge- 
nannten Ouellflusse  durchströmt,  als  Längental  parallel  zu  der  im  Süden 
desselben  sich  erhebenden  wasserscheidenden  Hauptkette.  Der  Pfad  steigt 
scharf  an,  das  Tal  verengt  sich,  und  der  Bach  tost  durch  tiefe  Klüfte,  über 
welchen  Wasserstaub  lagert.  Stellenweis  ist  das  Gestein  —  Gnei.sgranite  — 
auch  dort,  wo  der  Bach  jetzt  nicht  mehr  fliesst,  durch  die  Erosion  früherer 
VVasserläufe  ausgehöhlt.  Die  uns  gegenüber  liegende  Talwand  ist  mit  dichtem 
Birken-  und  Fichtenwakl  bestanden,  und  bis  zur  Kammhöhe  steigen  die 
kerzengeraden  Stämme  der  Fichten.  Vom  Gehänge,  an  welchem  wir  wandern, 
stürzen  zahlreiche  Bäche,  und  kleine  Wasserfälle  flattern  über  die  Felsen.  Es 
wird  dunkel,  und  noch  inuner  findet  sich  im  engen,  von  Steilwänden  ein- 
geschlossenen Tale  kein  zum  Nachtlager  eeeieneter,  genügend  ebener  Platz. 
Endlich  kommen  wir  zu  Heuschlägen,  und  auf  einer  Wiese  wird  um  7 '/^  Uhr 
abends  das   Latrer  aufeeschlaoen. 


Ssugan- Kette   vom   Plateau   unterhalb  des  Schtul  i  vce  k-Passes. 


V.   KAPITEL. 


Aus  dem  Uruchtal  nach  Baikar. 

....    Wo  vk-lLCC'cjiiifi'lt,   wiliUcikliiltet 
Der  Kaukasus   zum   Himmel  steigt: 
Das  Ilaupt   erstarrt  uml  schiiecgebleicht   — 

Büilenstcilt:   Mirza-Seliaffy. 

Trotz  früher  Tagesreveille  währt  es  im  Kaiikasu.s  doch  lange,  bis  ab- 
gekocht, der  Tee  getrunken,  die  Zelte  abgebrochen,  alles  eingepackt,  auf  die 
Sättel  der  Tragtiere  geladen  und  festgeschnürt  wird  und  die  Karawane 
endlich  marschbereit  ist.  So  war  es  auch  an  diesem  Morgen.  Mit  Burgener 
bin  ich  vorausgeeilt,  doch  schon  nach  20  Minuten  kreuzt  ein  vom  rechten 
Talgehänge  in  mächtigem  Sturze  herabkommender,  wasserreicher  Bach  den 
Weg.  Es  ist  unmöglich,  ihn  zu  b'uss  zu  übersetzen,  und  wir  müssen  das 
Pferd  unseres  Digoriers  abwarten,  um  der  Reihe  nach  durch  das  schäumende 
Bergwasser  zu   reiten. 

Man  wandert  der  Tallehne  entlang,  übersteigt  einen  Felsriegel  imd 
tritt  in  ein  langgestrecktes,  liaumloses  Hochtal.  Die  Formation  des  Tal- 
bodens und  der  Gehänge  weist  auf  ein  entleertes  Seebecken.  Der  Fluss 
hat  die  sich  folgenden  Talstufen  durchsägt  und  die  Seebecken  entleert.  Die 
Talgletscher  haben   jedenfalls    auch    an    der    morphologischen   Ausgestaltung 


60 


Ssugan  4490  m 


Doppach 
Westl.  Q.  4447  m  Oestl.  G.  4396  m 


Von  einer  Ka/a/ahöhe  (ca.  3000  Aeter)  unterhalb  des  Schul 


N;icli.isclibit,i-Cli.  4393  m 


iJVCEK-PaSSES  gegen   die  DIGORISCHE  KETTE  I/A   NORDEN. 


DiK  TiaiKAssKXSTri'KN  IM  Ciiakwkss-Tai.k. 

mito-ewirkt  und  die  Schuttal)lat;erungen,  die  ich  am  Rande  der  Terrassen- 
stufen bemerken  konnte,  enthalten  fluvio-Ljlaziales  Materiak  Im  Süden  er- 
öHnet  sich  eine  prächtioe  Gletscherlandschaft,  wo  dem  Mossota-Gletscher 
der  Hauptqnellbach  des   Uruch,   der  Charwess,   entströmt. 

Wir  wenden  uns  hier  auf  kaum  kenntlichem  Pfade  einem  nörd- 
lich weit  ins  Tal  vorspringenden,  langgestreckten  Bergrücken  (Gewon) 
zu  und  beginnen  an  seinen  steilen  Abhängen  emporzuklimmen.  Nur  mit 
grösster  Schwierigkeit  können  die  Lastpferde  folgen.  Ich  marschierte  an 
der  Spitze  der  Karawane  und  war  etwas  vorausgeeilt,  als  ich  durch  einen 
wüsten  Lärm  plötzlich  aufgeschreckt  wurde.  Entsetzen  erfasste  mich,  als  ich 
zurückblickte.  Eines  der  Pferde  war  gestürzt  und  ein  -Stück  weit  über  den 
Abhang  herabgekollert.  Die  ganze  Last  hatte  sich  vom  Sattel  losgelöst,  und 
nach  allen  Seiten  hin  waren  die  einzelnen  Gegenstände  geschleudert  worden. 
Das  Pferd  war  bald  auf  den  Beinen  und  schien  ausser  einigen  Hautabschürfungen 
keinen  Schaden  genommen  zu  haben.  Doch  das  Gepäck."  —  Langsam  wurde 
alles  aufgelesen.  Zum  Glück  waren  diesem  Tiere  weniger  zerbrechliche  Gegen- 
stände aufgeladen.  Ausser  verschiedenen  belanglosen  Kontusionen  kam  nur 
ein  Bruch  vor.  Derselbe  betraf  die  einzige  Flasche  Sherryweines,  die  ich 
mit  hatte  —  zu  Medizinalzwecken  und  zur  Hälfte  für  die  Ersteigung  des 
Elbruss  bestimmt  — ,  trotzdem  die  Flasche  sorgfältig  in  einer  starken  Blech- 
büchse und  mit  entsprechender  Umhüllung  fest  verpackt  war.  Ich  kam  bei 
dem  Umfalle  verhältnismässig  leichten  Kaufs  davon,  Hess  aber  nunmehr  das 
Gepäck  keinen  Augenblick  mehr  aus  den  Augen.  Bald  gelangten  wir  zu 
einem  Schneefelde,  das  überschritten  werden  sollte.  Hier  musste  das  Gepäck 
abgeladen  werden  und  wurde  von  uns  allen  die  kurze  Strecke  auf  die  Höhe 
des  Bergrückens  getragen.  Aber  auch  für  die  unbeladenen  Pferde  war  es 
unmöglich,  das  Schneefeld  zu  passieren,  und  es  musste  für  sie  ein  Plad  mit 
unsern   Pickeln  ausgeschaufelt  werden. 

Um  1  Uhr  nachmittags,  eine  und  eine  halbe  Stunde  nach  Verlassen 
des  Talbodens,  sind  wir  auf  der  Höhe  des  Bergrückens  angelangt.  Ein 
wellenförmiges,  allseitig  von  Bergen  umfangenes  Hochplateau  breitet  sich  vor 
uns  aus.  Im  Westen,  nicht  viel  höher  und  in  anscheinend  geringer  Entfernung, 
sieht  man  in  der  Bergumwallung  den  Einschnitt  des  Schtulivcek-Passes, 
den  wir  zu  überschreiten  gedachten,  um  in  das  Tscherek-Tal,  nach  I3alkar 
zu  gelangen.  Im  Norden  überblickt  man  die  Front  der  mit  dem  Haupt- 
kamm parallel  laufenden  Kette,  welche  zwischen  dem  Uruch  im  Osten  und 
dem  Tscherek  im  We.sten  sich  erhebt  und  im  Ssugan-Tau  eine  Höhe  von 
4490   m   erreicht.      Die   Kette   bildet    mit  ihren    steilen,    schneedurchlurchten 

—    61     — 


RrMuu.icK  \iiM  l'i.A'rEAi    INI  i;riiai.i;  iii:s  Sciitl'LIvcek-Passks. 

W'äiulcii,  tlic  in  ihren  l-allun^iMi  alibrechcndc  Gletscher  trafen,  den  Grat- 
sclincicli-n  uiul  den  S|)itzen,  die  bald  als  Ciranithörner,  bald  als  auf  felsiyen 
Pfeilern  ruhende  Eiskupijen  aufragen,  einen  fesselnden  Anblick.  Im  Süden 
erhebt  sich  der  Hauptkamni  des  Kaukasus,  vom  Labodaoipfel  beherrscht, 
der  den  eisigen  Hintergrund  von  Styr-Digor  aufbaut.  Von  hier  bietet  der 
Berg  einen  ganz  verschiedenen  Anblick.  Es  ist  ein  langgestrecktes  Massiv, 
dessen  T^irstlinie  mehrere  feingeschnittene  Firnsjjitzen  krönen  und  an  dessen 
prächtiger  Fassade  felsdurchbrochene  steile  I'irnhange  niederziehen.  Die 
llaui)tkette    ist    hier   weniger    hoch,     ihr    Aufbau    ist    weniger    wild     als     die 


Laboda.     Vom  Plateau  unterhalb  des  Schtulivcek. 

Architektur  der  nördlich  vorgelagerten  Ssugankette,  eine  Eigentümlichkeit 
in  der  Tektonik  des  Kaukasus,  der  wir  auch  weiter  im  Westen  begegnen 
werden.  Zur  Linken  der  Laboda,  gegen  Osten,  Biegt  der  Blick  in  die  Ferne, 
wo  Bergreihen  über  Bergreihen  am  Horizont  dahinziehen.  Adel-Choch 
—  wie  er  Adai-Choch  immer  genannt  —  ruft  Burgener  aus  und  weist 
triumphierend  auf  eine  Pyramide,  die  dort,  alles  überragend,  sich  stolz  in  die 
Lüfte   schwingt. 

Nach  kurzer  Rast  sollte  aufgebrochen  werden  tmd  ich  forderte  die 
Leute  —  die  im  schönen  Sonnenschein  ein  Nachmittagsschläfchen  hielten  — 
auf,  die  Pferde  zu  beladen.  Aber  die  Pferdetreiber  bestanden  darauf,  heute 
nicht  mehr  weiter  zu  gehen.  Sie  behaupteten,  der  Schnee,  der  noch  über- 
schritten werden   müsse,   sei   zu   so  später  Stunde   für  die  Plerde  zu   sehr  er- 


62 


Nacii'ii.ackk  am  l'i.ATKAr.    Fiu'CAi.K  Kost. 

weicht.  Alles  Zureden  war  umsonst;  auch  der  Dit^orier  stimmte  den  von 
den  Pferdetreil)crn  geäusserten  Bedenken  bei,  und  so  blieb  nichts  anderes 
übrig,   als  das   Lager  aufzuschlagen. 

\'orerst  photographierte  ich,  dann  wurde  botanisiert  untl  der  Rest 
des  Nachmittags  zur  Instandsetzung  unserer  Ausrüstung  benutzt,  die  denn 
doch  durch  den  Sturz  des  Pferdes  etwas  Schaden  gelitten  hatte,  und  zum 
Schlüsse  gab  es  noch  grosse  Wäsche,  wozu  ein  gerade  neben  unserm 
Lager  vorbeifliessendes  Bächlein  einlud.  Gegen  Abend  wurde  das  Essen 
gekocht.  Dasselbe  war  ziemlich  frugal.  Auf  dem  Plateau,  wo  wir  lagerten,  stand 
eine  halb  zerfallene  Steinhütte,  die  gewöhnlich  Schafhirten  zum  Unterstand 
diente  Aber  sie  war  unbewohnt,  die  kargen  Weideplätze  rings  herum  sind 
noch  nicht  bezogen,  und  all  das,  was  die  Schafhirten  uns  hätten  bieten  sollen 
und  was  uns  in  Aussicht  gestellt  wurde,  konnte  natürlich  nicht  zum  Vorschein 
kommen.  Die  wenigen  Konserven,  die  wir  mithatten,  mussten  wir  für  Hoch- 
touren sparen,  so  blieb  die  Erbswurstsuppe  das  Hauptgericht.  Am  unan- 
genehmsten aber  empfanden  wir  den  Mangel  an  gutem  Brot;  der  Rest  des  mit- 
gebrachten, noch  aus  Ssadon  stammenden,  russischen  Brotes  war  schimmlig  und 
nahezu  ungeniessbar  geworden.  Seit  Ssadon  kamen  wir  durch  keinen  Ort,  wo 
geniessbares  Brot  erhältlich  gewesen  wäre,  noch  hielten  wir  uns  genügend 
lange  auf,  um  Ersatz  dafür  schaffen  zu  können.  Die  Digorier  sind  arm, 
sehr  arm  ;  ihr  Brot,  wie  das  der  meisten  kaukasischen  Bergbewohner,  wird 
aus  einem  Gemenge  von  Mais,  Gerste  oder  Hafer  ohne  Hefe  und  einem 
Stoffe,    der  schwarze  Erde   zu   sein   scheint,   hergestellt. 

Die  schon  früher  wahrnehmbare  Unzufriedenheit  meiner  Begleiter 
über  den  fraglichen  Komfort  auf  kaukasischen  Bergreisen  kam  jetzt  zum 
Ausbruch.  Ich  hielt  es  für  nötig,  solche  Proteste  nicht  nur  für  den  Augen- 
blick, sondern  auch  für  die  Zukunft  niederzuhalten.  Soweit  als  möglich 
war  ich  bestrebt,  für  unser  leibliches  Wohlergehen  zu  sorgen  und  die  nötigen 
Vorkehrungen,  wo  und  wann  sich  die  Gelegenheit  dazu  bot,  zu  treffen. 
Aber  wenn  dies  das  eine  oder  das  andere  Mal  nicht  gelang,  dann  sollten 
die  Widerwärtigkeiten  einer  Reise  in  diesen  wilden  Berglandschaften,  die, 
wie  wir  vor  Antritt  derselben  wussten,  zu  gewärtigen  waren,  auch  ohne 
unnützes  Murren  ertragen  werden.  Der  Armeebefehl  verfehlte  seine  Wirkung 
nicht.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Reise  wurden  über  solche  Kleinigkeiten 
kaum  mehr  Worte  verloren.  Allerdings  ging  es  uns  später,  nachdem  wir 
Baikar  erreicht  hatten,  unter  den  mohammedanischen  Bergtataren,  ja  selbst 
in  Swanetien  besser,  und  eine  Reihe  von  fetten  Tagen  half  bei  meinen 
Schweizern   immer  wieder  über   einige   magere   hinwetr-      An    diesem  Abend 


DiK  Aussicht  vom  Schtüi,ivcek-Pass. 

aber  suchte  alles  in  etwas  oedrückter  Stimmung-,  —  nian  wusste  ja  nicht,  ob 
es   nicht   noch   ärger  kommen   würde,    —   das  kalte   Lager  auf. 

hl  strahlender  Reine  brach  der  i.  August  heran.  Um  6  Uhr  morgens 
waren  wir  marschbereit.  Massig  steigend,  wanderten  wir  längs  des  Ge- 
hänges über  Schutt  und  .Schnee.  Ich  und  Burgener  waren  vorausgeeilt, 
und  zweieinhalb  Stuncien  später,  um  halb  neun  Uhr,  hatten  wir  den  3348  m 
hohen   SchtuHvcek-Pas.s'')   erreicht. 

Wie  mit  einem  Zauberschlage  hat  sich  vor  uns  im  Westen  die  Aus- 
sicht auf  eine  neue  Welt  grosser  Berge  erschlossen.  Der  Anblick  wirkte 
mit  packender  Gewalt.  Ich  wusste,  dass  es  die  höchsten  Granitgipfel  des 
kaukasischen  Hochgebirges  sind,  nur  dem  einzigen  Elbruss  sich  beugend, 
welche  da  in  die  W^olken  ragten.  Im  herrlichen  Bogen  der  Berge,  welche 
der  kaukasische  Hauptkamm  und  die  von  demselben  gegen  Norden  aus- 
strahlende Kette  bildet,  steht  dort  die  Riesenpyramide  der  Schchara,  5184  m 
hoch,  der  dritthöchste  Berg  des  Kaukasus.  Sie  erinnert  an  die  Dent  Blanche 
der  Alpen  und  ihr  müssen  wir  den  Preis  im  Aussichtsbilde  zuerkennen. 
Ueber  die  eisbepanzerte,  herrliche  Fassade  des  Berges  ziehen  die  Riesen- 
schneiden, alles  blendendes  Firneis,  zur  Spitze  empor.  Die  Kammlinie  sinkt 
zu  einer  tiefen  Einschartung  (Dychssu-Pa.ss)**)  und  erhebt  sich  wieder  zu  einem 
vereisten  Absatz,  von  dem  sich  die  abstürzenden  Felsklippen  aufschwingen, 
aufweichen  das  Firnhorn  des  Dych-Tau***')  fusst,  mit  51 98  m  der  zweithöchste 
Berg  des  Kaukasus.  Weiter  gegen  Norden  steigt  über  den,  abbrechende 
Pelsstafteln  und  zerrissene  Eisfelder  tragenden,  lireitseiten  des  mächtigen 
Gebirges  eine  herrliche  Gipfelgestalt  auf,  an  der  die  scharfen  P'irnschneiden 
sich  in  einer  eisigen  Spitze  treffen.  Es  i.st  der  Koschtan-Tau,  5145  m  hoch, 
der  vierthöchste  Gipfel  des  Kaukasus.  Links  von  Schchara  macht  sich  die  dem 
Hauptkamme  angehörende  Kette,  die  im  Ailama-Tau  4525  m  erreicht, 
durch  die  Schönheit  ihrer  Formen  und  ihre  mächtige  Ei.sbedeckung  geltend. 
Von  Süd  und  Nord  ziehen  die  sich  senkenden  Bergrücken  kulissenförmig 
in  die  Tiefe,  wo  F^urchen  zwischen  denselben  die  von  den  Ouellbächen 
des  Tscherek  durchströmten  Talschluchten  andeuten.  Das  graue  Gestein 
ihrer  Abhänge  wird  von  dunkelgrünen  Rasenflächen  unterbrochen,  und  die 
weiter    zurückliegenden    Gratzüge    umschliessen,    von   hier    gesehen,    gerade 


*)  Eigentlich  ist  die  Bezeichnung  tautologisch,  denn  »vcek«  bedeutet  im  Ossetischen  Pass; 
CS  wäre  daher  richtiger,  Schtuli-Pass  zu  sagen.  In  der  kaukasischen  Nomenklatur  sind  jedoch  ähn- 
liche tautologische  Bezeichnungen  schwer  zu  vermeiden.  Die  Ossen  pflegen  übrigens  das  Wörtchen 
auch  Gipfelnamen  anzuhängen. 

**)  Ueber  dem  Dychssu-l'ass  ist  in  der  Ferne  eine  Schncekuppe  sichtbar,  die  Elbruss  sein  dürfte. 
■■•'**)  Tau  bedeutet  im  Tatarischen  Berg. 

—      64     — 


Die  Granitriesen  des  Kaukasus  v/»\ 


nych-Tall  5198  ni 


Kiisclitan-Taii  5145 


^  SCHTULIVCEK-PaSS  (3M8  /AETER). 


DiK  Granttriesex  des  Kaukasus. 

unterhalb  Schcliara,  das  lüsbassin  des  Fytnargin-Gletschers.  Der  Blick  haftet 
an  den  Gletschern  und  Mmfeldern,  die  sich  an  den  Bergwänden  ausbreiten, 
und   ermisst  der  Bewunderung  voll,   die   Grösse  und   Höhe   der  Gipfel. 

I3en  \\"orten,  mit  welchen  ich  einige  Züge  der  Aussicht  vom  Schtuli\-cek 
zu  schildern  versuchte,  mag  das  BiUl  zu  Hilfe  konunen.  Die  Namen,  welche 
für  die  Hauptpunkte  festgestellt  wurden,  sind  Hilfsmittel,  um  unter  diesen 
Bergen  zu  individualisieren.  Als  ich  sie  zum  erstenmal  sah,  waren  nur 
zwei  derselben  bekannt  —  Koschtan-Tau  und  Dych-Tau  — ,  und  es  war 
zweifelhaft,   welchen   Gipfeln    diese   Namen   gebührten.      l'Veshfield    und   ich. 


Fytnargin  -  Gletscher. 


die  einzigen,  welche  vom  Schtulivcek  diese  Bergwelt  erblickt  hatten,  hielten 
damals  Schchara  für  Koschtan-Tau,  Dych-Tau,  der  weniger  zur  Geltung  kommt, 
war  uns  ein  Pic  sans  nom  und  Koschtan-Tau  nannten  wir  Dych-Tau.  Der 
mächtige  Eindruck  jedoch,  den  der  Anblick  der  Granitriesen  des  Kaukasus 
auf  mich  machte,  wurde  durch  topographische  Zweifel  und  Unklarheiten 
nicht  beeinträchtigt.  Im  Erhebungszentrum  des  Kaukasus,  welchem  diese 
Berge  angehörten,  müssen  die  Kräfte,  welche  das  kaukasische  Gebirgssysteni 
aufrichteten,  ihre  grösste  Macht  entwickelt  haben:  eine  urgewaltige  Architektur 
hat  hier  die  Talfurchen  am  tiefsten  eingeschnitten,  das  formenreiche  Ge- 
hänge bietet  Raum  für  die  au.sgedehnten  Firnreservoire,  welchen  die  grössten 
Gletscher  des  Kaukasus  entströmen;  die  Granitpfeiler,  die  eisbepanzerten 
Fassaden  dieser  Berge  erheben  sich  in  entsetzlicher  Steile,  und  ihre  Gipfel 
erreichen  nach   dem   einen   Elbruss   die  grössten   Höhen  des  Kaukasus. 

Deehy;  Kaukasus,  5 

—      65      — 


Sc'IITULU-    VN\)    FVTNAkC.IN-Gl.ETSCHKR. 


Der  Abstieg-  vom  Pass  nach  Westen  führt  steil  über  die  von  Geröll 
bedeckten  Hänge  und  durch  tiefe  Gräben,  l'm  Mittag  wird  an  einer  eisen- 
haltigen Quelle  Rast  gemacht.  Weit  herum  ist  die  Erde  rötlich  gefärbt. 
Der  Eisensäuerling  schmeckt   vortrefllich. 

Tiefer  unten  kommt  man  an  die  Mündung  eines  südlichen  Gletscher- 
tales. Vor  dem  mit  Schutt  bedeckten  Ende  des  Schtulu-Gletschers  Hegt, 
von  demselben  abgetrennt,  eine  grosse,  schmutzige  Eismasse,  nahezu  ganz 
unter  Schuttgeröll  begraben,  die  der  Gletscher  bei  seinem  letzten  Rückzuge 
wahrscheinlich    zurückgelassen    hat.      Vom    Nährgebiet    des    Gletschers    ab- 


Dychssu  -  Schlucht. 

geschnitten,  scheint  sich  die  Eismasse  durch  Schneefälle,  vielleicht  auch  durch 
Lawinen,  weiter  zu  erhalten  und  bildet  so  eine  Art  regenerierten  Gletschers. 
Nur  zu  Pferde  können  wir  die  jetzt  hoch  angeschwollenen,  tosenden 
Wasser  des   Gletscherbaches   überschreiten. 

Um  eine  .scharfe  Felsecke  biegend,  blicken  wir  durch  ein  lang- 
gedehntes, grünendes  Becken,  das  Bett  eines  verschwundenen  Sees. 
Im  Süden  bricht  über  nackten,  glatt  geschliffenen  Felsen  der  P'yt- 
nargin  -  Gletscher  ab,  in  der  Höhe  ein  Meer  eisiger  Seracs.  An  den 
-Seiten  und  unterhalb  der  Felsen  liegen  Schutthänge,  über  welche  die  Gletscher- 
wasser rieseln.  Alles  zeugt  von  früherer  Grö.sse.  Die  gewaltige  Ausdeh- 
nung des  I-'y-tnargin-Gletschers  lässt  sich  von  hier,  aus  dem  Tale,  kaum  er- 
messen. Er  besitzt  ein  weit  verzweigtes  Plrngebiet,  mit  welchem  er  eine 
Fläche    von    nahezu    25   qm    bedeckt   und,    weit   gegen  Westen    ausbiegend, 


Karaii.  iNii  DvciissL-Sriii.rciiT. 

erreicht  seine  Länge  nahezu  12  km.  Ringsherum  oftnen  sich  Talschhichten 
—  Buro-ener  sagt:  »So  viel  Täler  als  Finger  an  der  Hand!«  —  Gletscher 
funkeln  im  Hintergrunde  derselben  und  Firnspitzen  ragen  in  den  tiefblauen 
Abendhimmel.  Auf  dem  weiten,  von  Bächen  durchzogenen,  fast  ebenen 
Talboden  weiden  zahlreiche  Herden,  und  die  reizvolle,  belebte  Szenerie 
dieser  Berglandschaft  wirkt  in  dem  sonst  so  stillen,  ernsten  Kaukasus 
doppelt  anziehend. 

Dort,  wo  der  .Schtulu-Bach,  nachdem  er  sein  unterhalb  des  Schtulivcek- 
Passes  beginnendes  Längental  durchströmt  hat,  sich  nördlich  wendend,  den 
Dych-Ssu*)  aufnimmt,  um  dann  als  Tscherek  seinen  Lauf  fortzusetzen,  liegt 
der  Karaul  genannte  Platz.  ''*)  Die  Balkarier,  die  weiter  draussen  im  Tscherek- 
Tale  ihre  Wohnsitze  haben,  hatten  von  jeher  hier  einen  Wachtposten,  um 
ihre  Herden  gegen  die  Raubzüge  der  jenseits  der  Hauptkette  ansässigen 
Swanen  zu  schützen. 

Raubt'  und  trieb  die  Herden  hinweg,   der  gehörnten  Rinder 
Und  weissvvoliigen  Schaf,  und  erschlug  die  begleitenden  Hirten.« 

Ilias  xviu. 

Eine  halb  zerfallene  Steinhütte,  die  nur  einen  niedrigen,  kleinen  Raum 
enthält,  jetzt  aber  niemanden  beherbergt,  steht  hier,  und  nahe  derselben 
wird  das  Lager  aufgeschlagen.  Die  Höhe  von  Karaul  beträgt  1594  m. 
Wir  sind   in   Balkarien. 

Unser  Zelt  stand  auf  grüner,  von  Felstrümmern  bedeckten  Wiese, 
nahe  der  Brücke  über  den  Dych-Ssu,  der  seine  grauen,  schäumenden 
Gletscherwasser  aus  einer  von  steilen  Felswänden  umschlossenen  Schlucht 
rollt.  Rechts  sind  es  nackte,  graue  Granitmauern,  unten  von  Schutthalden 
umlagert,  die  senkrecht  aufragen,  links  bekleiden  die  Steilwände  stellenweise 
dunkelgrüne  Birkensprösslinge  und  Azalea-Sträucher.  Unten  liegt  düsteres 
Dunkel  über  der  Schlucht,  indes  oben,  wo  die  Wände  auseinandertreten, 
ein   Hintergrund  von   schneebedeckten   P'elsgipfeln  erscheint. 

Trotz  des  unsicheren  Wetters  war  ich  mit  Burgener  und  Ruppen 
schon  am  frühen  Morgen  aufgebrochen,  um  durch  die  Dychssu-Schlucht  auf- 
zusteigen und  einen  orientierenden  Blick  über  die  Gletscher  und  die  Lage 
der  Gipfel  dieser  Bergwelt  zu  gewinnen.  Unglück  verfolgte  mich  in  diesen 
Tagen.  Es  begann  damit,  dass  wir  einen  Pfad  an  der  orographisch  linken 
Seite    der  Schlucht   verfolgten,    der   jedoch   bald   aufliörte.      Ich   war    gegen 


*)  Ssu  im  Tatarischen  gleich  Wasser,   Bach. 
** )  Karaul  bedeutet  einen  Wachtposten  (im  Russischen  Kapay.nKa  =  Schilderhaus,  Kapayjit^ 
Wache,  Schildwachej. 

5* 
—     67     — 


Wkc  dl  Kl  11   Uli'.  i)\cii.ssr-SciiiA'ciiT. 

die  ForLsct/.uiig-  des  Wey;cs  in  dieser  Richtunt^-  und  lür  die  Rückkehr  an 
die  entgegengesetzte  Seite  der  Schlucht.  lUirgener  dagegen  woIUe  von 
einer  Umkehr  nichts  wissen  und  glaubte  auch  auf  dieser  Seite  sich  einen 
Weg  durch  die  Enge  bahnen  zu  können.  IJald  kamen  wir  zu  steil  ab- 
fallenden Felsflühen  und  waren  in  ernste  Schwierigkeiten  verwickelt.  Wir 
mussten  das  Seil  nehmen,  über  glatte  Felsen  in  tiefe,  ausgewaschene 
Wasserrinn.sale  hinab  und  jenseits  wieder  emporklettern.  Es  schien  Burgener 
im  Anfang  eine  Freude  zu  machen,  Klettereien  in  tler  Tiefe  —  wie  ich  es 
nannte  —  auszuführen.  Dann  ging  es  wieder  durch  ein  nahezu  undurch- 
dringliches Dickicht  von  Gesträuchen  und  Niederwald,  der  die  steil  ab- 
fallenden Hänge  bedeckte.  Es  war  in  der  Schlucht  drückend  heiss  und 
dieses  Herumklettern  höchst  erschöpfend,  während  jetzt  an  der  entgegen- 
gesetzten Seite  längs  des  Baches  der  Pfad  sichtbar  wurde.  Dreieinhalb 
Stunden  mühten  wir  uns  so  an  diesen  Steilwänden,  bis  wir  bei  einer 
Wendung  derselben  uns  überzeugten,  dass  unser  Schicksal  besiegelt  sei.  Auf 
eine  grosse  Läng.sausdehnung  hin  stürzen  die  Hänge  nahezu  senkrecht  in 
die  erosse  Tiefe,  an  den  weniger  oeneioten  Absätzen  mit  undurchdringlichem 
Rhododendrongebüsch  besetzt.  Noch  kletterte  Burgener  einige  Schritte 
weiter  und  kehrte  dann  mit  dem  Bescheide  zurück:  es  geht  nicht«.  — 
Es  hätte  vielleicht  stundenlangen,  mühsamen  und  gefährlichen  Kletterns  be- 
durft, um  an  diesen  Abstürzen  einen  Abstieg  in  die  Tiefe  zu  erzwingen.  — 
Durch  das  Geäste  der  niedrigen  Bäume,  die  sich  bis  zu  unserm  Stand- 
punkte vorgewagt  hatten,  blinkte  es  silbern  vom  eiserfüllten  Hintergrunde 
des  Dychssu -Tales  —  ein  Land  der  Verheissung,  das  wir  nicht  erreichen 
sollten!  Es  gelang  uns,  noch  etwas  höher  zu  klettern,  und  auf  einem  etwas 
begrünten  Absätze  der  riesigen  Felswand  ruhend,  konnten  wir  unsere 
staunenden  Blicke  frei  über  die  eisige  Bergwelt  streifen  lassen. 

In  langem  gewundenen  Strome  dringt  der  Dychssugletscher  aus 
seiner  Firnregion  mit  den  schwarzen  Bändern  von  Mittelmoränen  herab,  und 
über  demselben  baut  sich  die  mächtige  Schchara  auf.  Vom  dunkeln  l'c\s- 
gerüste  des  Berges  fiiessen  die  zerschrundeten  Eismassen  zahlreicher  Hänge- 
gletscher; hoch  über  den  Wolken,  die  sich  dräuend  um  die  breite  Berg- 
gestalt legen,  ragt  die  silberreine,  scharf  geschnittene  b'irnspitze  in  den 
Himmel,   ein   Anblick,   den   man   nie  vergi.sst. 

Der  Dychssu-Gletscher,  der  bei  ca.  2too  m  mit  einer  von  Gesteins- 
trümmern bedeckten  Zunge  endigt,  gehört  zu  den  grössten  kaukasischen 
Gletschern.  Mit  einer  Länge  von  12  km  steht  er  an  fünfter  Stelle  unter 
ihnen   und   übertrifft  den  Morteratsch-   und  den  Zmutt-Glctscher  in  den  Alpen. 


Der  Dvciissu-Gletsciier. 

Die  Grösse  der  vom  lilctscher  und  seinem  l'"im^ebiete  Ijedeckten  Mäche, 
die  mit  56  qkm  berechnet  wird,  weist  dem  Dychssugletscher  che  vierte 
Stelle  unter  den  kaukasischen  Gletschern  an,  und  damit  übertrifft  er  die 
grossen  Eisströme  des  Mer-de  glace,  des  Morteratschgletschers,  des  Fiescher- 


Dychssu-Gletscher    und    Schchara. 


gletschers,  des  Unteraargletschers  und  die  Pasterze  in  den  Alpen.  Eine 
Reihe  von  Gletscherzuflüssen  sinkt  in  das  Bassin  des  D^chssugletschers, 
von  welchen  der  zerschrundete  Ailama-Gletscher,  der  vom  Süden,  vom  Haupt- 
kamme aus  dem  weiten  l'irnreservoir  zwischen  Ailama-Tau  und  Fjtnargin- 
Tau  (41 84  m)  kommt,  und  der  aus  dem  Norden  mit  einem  wilden  Eisfall 
niederziehende    Baschcha-auss  Gletscher    die    o-rössten   sind.      In   der  Südwest- 


ScIIWIEKKiKEITEX    MIT    KAUKASISCHEN    PFERDETREIBERN. 

liehen  Ecke,  unter  dem  langgestreckten  Eiskamm  des  Niiamquan  (4281  m), 
dehnen  sich  weite  Firnreservoire  aus,  die  gleichfalls  den  grossen  Gletscher- 
strom nähren.  Der  Aufbau  des  Gebirges  in  seinen  höheren  Teilen,  in 
welchen  hier  der  Hauptkamm  mit  dem  weit  nach  Norden  ausgreifenden 
granitischen  Zuge  tief  eingesenkte  Kessel  bildet,  ist  der  Ansammlung  grosser 
Firnmassen   und   der  Bildung  ausgedehnter  Gletscher  ausserordentlich  günstig. 

Es  währte  leider  nicht  lange,  bis  die  von  allen  .Seiten  aufsteigenden 
Wolken  das  ganze  Gletschertal  erfüllt  und  verdunkelt  hatten,  aus  deren 
Getriebe  immer  wieder  einzelne  Teile  der  herrlichen  Schchara  aufleuchteten. 
Noch   bevor  wir  den   Abstieg  beendet  hatten,   traf  uns  der  Regen. 

Bei  unserm  Zelte  angelangt,  befahl  ich  den  sofortigen  Aufbruch.  Aber 
ich  hatte  die  Rechnung  ohne  meine  Ossen  gemacht.  —  Zuerst  hiess  es,  dass 
die  Pferde  sich  verlaufen  hätten  und  dass  sie  nach  dem  anstrengenden 
Marsche  des  vorhergehenden  Tages  eines  Rasttages  bedürften.  Dies  wurde 
aber  nur  nebenhin  gesagt,  und  es  schien  mir,  dass  die  Leute  noch  anderes 
im  Schilde  führten.  In  der  Tat  trat  plötzlich  der  Pferdetreiber  aus  Kamunta 
mit  der  Forderung  hervor,  ich  solle  ihm  den  Mietspreis  für  die  Pferde  bis 
zur  Stunde  bezahlen.  Ich  erwiderte,  dass  ich  auf  der  Strasse  nicht  zu  be- 
zahlen pflege,  und  dass  dies  am  Schlüsse  der  bedungenen  und  geleisteten 
Arbeit  zu  geschehen  habe.  Bald  kamen  noch  andere  Forderungen.  Eines 
der  Pferde  sei  ge.stürzt,  hiess  es,  der  Sattel  gebrochen  und  das  Riemzeug 
beschädigt  worden.  Dies  müsse  ich  bezahlen,  und  zugleich  wurde  ein 
lächerlich  hoher  Preis  hierfür  gefordert.  Ich  sagte  diese  Bezahlung  zu,  da 
ich  die  Befürchtung  nicht  erwecken  wollte,  dass  ich  den  durch  den  Sturz 
des  Pferdes  erlittenen  Schaclen  überhaupt  nicht  gutmachen  wolle.  Ein  Blick 
auf  Karagubajew,  den  zu  unserm  Schutze  ausgesandten  edeln  Digorier,  ge- 
nügte, um  mich  zu  überzeugen,  dass  ich  von  dieser  Seite  nichts  zu  erwarten 
hätte.  Herr  Dolbischew  flüsterte  mir  zu,  ich  möge  mich  vor  den  Leuten 
in  acht  nehmen,  da  die  Gefahr,  das  Kindschal*)  in  die  Brust  gestossen  zu 
bekommen,  eine  eminente  sei.  Meine  zwei  -Schweizer  blieben  treu  an  meiner 
Seite  und  hielten,  wie  sie  mir  später  sagten,  den  Augenblick  nahe,  in 
welchem  sie  gezwungen  sein  würden,  von  ihren  Eispickeln  auch  anderweitigen 
Gebrauch  machen  zu  müssen,  als  wofür  sie  bestimmt  waren.  Mit  der  An- 
nahme der  betreffs  des  Sattels  und  Riemzeugs  gestellten  Porderung  waren 
wir  aber  nicht  am  PLnde,  denn  sofort  trat  der  Kamuntamann  mit  einer 
andern    Forderung    hervor.      Wir    hätten,    sagte    er,    im    Charwesstale    auf 


*)    Kindschal   wird   das  Dolchmesser  genannt,   das  die  Kaulcasier  in  verschiedenen  Grössen, 
bei   den  Reicheren   mit  Griff  und  Scheide  in  l;oätbarer  Silberarbeit,  nahezu   immer  im  Gürtel  tragen. 

—      70      — 


Das  Tsciikrkk-Tal. 

einer  Wiese  unser  Lager  aufoeschlag'en  und  ein  Stück  derselben  zertreten. 
Hierfür  nun  forderte  er  einen  Schadenersatz,  dessen  Betrag  das  Erträgnis 
eines  Joches  Ackerfeld  gedeckt  hätte.  Die  VoHmacht  zur  Einkassierung  des 
Betrages  für  den  angeblichen  Schaden  hatten  die  Leute  sich  selbst  aus- 
gestellt, denn  wir  waren  auf  unserm  Wege  keinem  sterblichen  Wesen 
begegnet. 

Nun  brach  ich  mit  Entrüstung  alle  Verhandlungen  al^  und  erklärte, 
einen  meiner  Schweizer  beim  Gepäck  zurückzulassen,  selbst  aber  mit  dem 
andern  nach  Kunnym,  dem  ersten  Dorfe  in  Baikar,  zu  gehen,  wo  ein  Miliz- 
Kosak  und  Hamsat  l^russbiew  mich  erwarten  sollten,  nötigenfalls  aber  selbst 
bis  nach  Naltschik,  einem  kleinem  russischen  Städtchen  am  F"usse  der  Vor- 
berge und  Sitz  des  Bezirkschefs,  zu  reiten,  um  Hilfe  und  Beistand  zu  suchen. 
\^iel  Zeit  war  während  dieses  erregten  Wortwechsels  verloren  gegangen,  und 
unterdes  hatten  meine  Schweizer  das  Zelt  abgebrochen  und  alles  gepackt. 
Ich  traf  die  Vorbereitungen  zur  Ausführung  meines  Planes,  ersuchte  Herrn 
Dolbischew,  mit  Ruppen  beim  Gepäck  zu  bleiben,  und  gab  ihnen  Ver- 
haltungsmassregeln.  Jetzt  erst  begann  Karagubajew  eine  Vermittlerrolle  zu 
spielen.  Ich  musste  fest  dabei  bleiben,  dass  ich  für  die  Pferde  erst  am 
Ende  der  Reise,  in  Kunnym,  den  bedungenen  Lohn  ausbezahle,  war  aber 
bereit,  eine  Konzession  zu  machen,  die  darin  bestand,  dass  ich  Karagubajew 
das  Geld  für  Sattel  und  Riemzeug  übergab,  welches  den  Leuten  aber 
gleichfalls  erst  am  tlnde  der  Reise  zu  behändigen  war.  Nun  erst  wurden 
die  Pferde  beladen,  und  um  5  ^/-i  LHir  abends,  zu  spät,  um  noch  bis  zur 
ersten   Ortschaft  im  Tscherektale  zu  gelangen,   zogen  wir  talabwärts. 

In  der  Tiefe  des  schluchtartig  eingeengten  Tales  rauscht  das  wilde 
Wasser  des  Tscherek,  über  welchem  am  linken  Talgehänge  der  W^eg  dahin- 
zieht. Die  Wände  bekleiden  sich  mit  dichtem  Buschwerk  und  aufstrebendem 
Walde.  Die  schneedurchfurchten  Felsberge,  welche  von  Karaul  über  der 
Dychssuschlucht  im  Süden  sichtbar  sind,  erscheinen  im  Rückblicke;  an  die- 
selben hat  sich  jetzt  die  Firnkuppe  des  Fytnargin-Tau  gelehnt.  Nach  etwa 
zwei  Stunden  finden  wir  eine  kleine  grüne  Matte,  einen  prächtigen  Lager- 
platz, geschützt  durch  die  von  beiden  Seiten  etwas  vorstehende  Talwand, 
und   in  der  Nähe   klares   Wasser. 

Sonntag,  3.  August.  Wir  sind  spät  erwacht.  Ich  höre  lautes  Schreien. 
Aus  dem  Zelte  tretend,  bemerke  ich  eine  grosse  Bewegung  unter  den  Leuten. 
Es  heisst,  die  Pferde  wären  in  der  Nacht  gestohlen  worden.  Ich  mache  dem 
Lärmen  ein  Ende,  indem  ich  Karagubajew  befehle,  die  Leute  doch  auf  die 
Suche  nach   den   Pferden  zu  senden,   statt  dass  sie  hier  nutzlos  streiten.    Nach 


Legende  von  PFERnEDiEHSTÄiiLEN  im  Kaukasus. 


Tscherek-Tal 


anderthalb  Stunden  waren  tue  Pferde  zur  Stelle,  und  um  8  Uhr  zogen  wir 
weiter.  Ich  konnte  nie  erfahren,  ob  wirklich  eine  begründete  Besorgnis 
vorlag,  da.ss  die  Pferde  gestohlen  seien,  oder  ob  die  Szene  nur  eine  Ver- 
zögerung des  Aufbruches  bezweckte.  Solch  blinder  Lärm  über  gestohlene 
Pferde  gehört  zu  den  sich  öfter  wiederholenden  Episoden  auf  einer  Reise 
im  kaukasischen  Hochgebirge,  und  die  ständige  Angst  und  Sorge  der 
Eingeborenen  vor  Pferdediebstählen  spielt  ebenso  oft  eine  grosse  Rolle  vor 
und  während  der  Reise.  Li  Wirklichkeit  aber  kam  meiner  Begleitmannschaft 
auf  meinen   wiederholten   Reisen   auch   nicht  der  elendeste  Klepper  abhanden. 

Die  Landschaft  trägt  den  Charakter  eines  Hochtales  in  den  Alpen, 
vielleicht  ernster,  einsamer.  Klippige,  bestrauchte  Uferhänge  fallen  steil  zum 
tief  unten  schäumenden  Talbache.  Aus  schluchtigen  Seitentälern  stürzen  mit 
wildem  Getöse  über  ein  Chaos  von  P^elsblöcken  die  Bäche,  und  darüber 
werden  schneebedeckte  Gipfel,  oft  nur  ihre  abfallenden  Grate,  sichtbar.  Im 
Rückblick  steht  noch  immer  die  schön  geformte  Berggruppe  bei  Karaul, 
luid  noch  aus  der  Ferne  markiert  die  .Steilwand  zur  Rechten  die  Oeffnung 
der  Dychssuschlucht.  I Joch  bald  wird  die  Szenerie  einförmig,  und  der  Weg- 
zieht   stundenlang    durch   ein    enges,    von   Grashängen   eingeschlossenes  Tal, 


Der  Aul  Kuxxvm  in  Halkar. 

bis  sich  dasselbe  zu  einer  ausgedehnten,  mit  Kulturen  bedeckten  l'"läche 
weitet.  Eine  drückende  Hitze  herrschte,  als  wir  um  Mittag,  vom  beinahe 
fünfstündigen  Marsche  erschöpft,  die  ersten  Hütten  der  Dörfergruppe  in 
Balkarien  erreichten.  Hier  wartete  unser  der  tatarische  Milizko.sak,  der  den 
Digorier  ablösen  sollte.  Hamsat  Urussbiew  war,  wie  uns  mitgeteilt  wurde, 
zu  unserer  Begegnung  hierher  gekommen,  aber  Tags  vorher  wieder  nach 
Besingi  zurückgekehrt,  wo  er  uns  erwartete.  Wir  wurden  vom  Starschina 
empfangen  und  eingeladen,  in  seinem  Hause  abzusteigen.  Wir  mussten 
aber  noch  eine  Stunde  im  Tale  wandern  und  an  den  Hängen  am  linken 
Ufer  des  Tscherek  ansteigen,  bis  wir  die  Hüttengruppe  von  Kunnym  und 
das   Haus  unseres   Gastfreundes   erreichten. 

Die  Lage  des  von  einem  hohen  Turm  flankierten  Dorfes,  hoch  über 
der  Talsohle  (115S  m)  ist  hübsch.  Man  überblickt  das  Tal,  in  welchem 
zerstreut  noch  mehrere  Hüttengruppen  sichtbar  sind.  Die  Bergwände  sind 
am  Fusse  schwach  bewaldet;  im  Norden  tragen  sie  eine  dolomitähnliche  Zacken- 
krone, nähern  sich  mit  scharf  geschnittenen  rötlichen  Felsausläufern  und 
schliessen  das  Talbecken.  Bei  unserm  Einzüge  in  das  Dorf  eilten  Männer, 
Weiber  und  Kinder  auf  die  flachen  Dächer  der  Häuser,  um  von  dort  dem 
Ereignisse  zuzuschauen.  Das  uns  zur  Wohnung  angewiesene  Haus  ist,  wie 
diejenigen,  welche  wir  noch  in  den  nächsten  Wochen  sehen  .sollten,  aus 
Stein  erbaut,  mit  der  Rückseite  an  die  aufsteigende  Bergwand  gelehnt,  so 
dass  man  von  derselben  eben  auf  das  flache,  mit  Erde  beschüttete  Dach 
gelangen  kann.  Längs  der  W)rderseite  des  Hauses  läuft  ein  offener,  über- 
dachter Vorraum,  ein  Atrium,  von  Holzpfeilern  gestützt.  Eine  niedrige  Tür 
führt  in  das  Innere,  das,  ohne  Fenster,  ziemlich  dunkel  ist  und  einen  offenen 
Feuerherd  enthält.  Der  Boden  ist  aus  Lehm  gestamjjft.  Die  Luft  ist  in 
diesen  fensterlosen,  kaum  ventilierten  Räumen  meist  dumpf  und  feucht.  In 
denselben  befindet  sich  hie  und  da  ein  niedriges,  bettartiges  Gestell  oder 
eine  lange  Sitzbank. 

Bei  unserer  Ankunft  wurde  uns  Tee  vorgesetzt,  mit  kleinen,  in  Butter 
gebackenen  Kuchen,  und  dann  kam  zum  erstenmal  der  Eiram  der  tatarischen 
Bergbewohner  des  Kaukasus.  Es  ist  dies  saure  Milch,  mit  Pilzen  in  Gärung 
gebracht,  mehr  oder  weniger  sauer,  dicker  oder  dünner,  ein  ebenso  erfrischendes, 
wie  auch  nährendes  Getränk.  Mir  und  meinen  Schweizern  mundete  der 
Eiram  immer  und  in  allen  Formen  sehr  gut  und  bekam  uns  auch  vor- 
trefflich. Andere  sind  gegenteiliger  Meinung  und  haben  hierin  abweichende 
Erfahrungen  gemacht.  Im  kaukasischen  Hochgebirge,  wo  alkoholische  Getränke 
nicht  zu   haben   sind,   wo   in   den   Kosch  —  den   Sennhütten  des  Kaukasus  — 


Nachtlager  in  Kuwvm. 

nur  in  den  allersekensten  Fallen  Butter  oder  süsse  Milch  zu  bekommen  ist, 
spielt  der  lüram  eine  grosse  Rolle,  und  für  diejenigen,  welche  sich  damit 
nicht  befreunden  können,  gestaltet  sich  die  ohnehin  schon  knapp  bemessene 
kaukasische   Diät  zu   einer  noch  strengeren. 

Gegen  Abend  wurde  in  der  schon  gelegentlich  des  Symposions  bei 
Karagubajew  geschilderten  Weise  ein  aus  gekochtem  Schaffleisch  und  Suppe 
bestehendes  Essen  aufgetragen,  und  in  der  gleichen  Reihenfolge  der  Konviven, 
im  vollsten  Sinne  des  Wortes,  coram  publico,  verzehrt,  in  Gegenwart  zahl- 
reicher Zuschauer,  die  sich  in  das  Zimmer  drängten,  bei  der  Türe  stauten 
und  oft  wechselten,  um,  wie  es  schien,  das  ganze  Dorf  des  seltenen  und 
erhebenden  Genusses  dieses  Anblickes  teilhaftig  werden  zu  lassen.  Dann 
wurden  auf  dem  lehmigen  Fussboden  Ochsenhäute  au.sgebreitet,  Unterbetten, 
Kissen  und  Decken  in  grosser  Menge  von  einer  Unzahl  von  Dienstbeflissenen 
herbeigeschleppt,  die  sich  augenscheinlich  aus  der  Zuschauerschaft  rekrutierten. 
Es  war  eine  ziemlich  zahlreiche,  etwas  gemischte  Gesellschaft,  die  da  wirr, 
in  rührendem  Kommunismus  nebeneinander  auf  der  Erde  ruhen  sollte:  Der 
kais.  russ.  Staatsrat  und  Archäologe,  Herr  Dolbischew,  meine  Schweizer,  der 
Digorier  Chagasch  Karagubajew,  früher  im  Konvoi  in  St.  Petersburg,  der  Pferde- 
treiber, zugleich  Dorfnotar  aus  Kamunta,  und  ich.  Für  so  viel  schien  Raum  und 
Bettzeug  vorhanden  zu  sein.  Aber  auch  der  Träger  und  der  neu  angelangte  Kosak 
wussten  sich  noch  ein  jeder  in  einer  Ecke  ein  Plätzchen  zu  erspähen.  Nur 
die  bittere  Armut  dürfte  den  Menschen  mit  so  \erschiedenen  und  sonder- 
baren Schlafgenossen  zusammenführen,  wie  dies  auf  Reisen  in  fern  der 
europäischen  Kultur  gelegenen  Ländern  und  inmitten  wilder  Völkerschaften 
vorkommen  kann.  \m  Schlafraume  wurde  nicht  nur  meine  Reiseausrüstung 
aufgestapelt,  sondern  auch  die  Sättel  und  das  Riemzeug  der  Pferde  unter- 
gebracht, und  der  gewiss  abwechslungsreiche  Anblick  dieses  Nachtlagers 
wurde  noch  erhöht  durch  die  schöne  kaukasische  Rüstung  Karagubajews, 
Säbel,  Kindschal  und  Patronentaschen,  welche  an  der  Wand  über  seiner 
Lagerstätte  hingen,  und  durch  die  Instrumente  und  photographischen 
Apparate,  welche  ich  in  meiner  Nähe  placierte.  Ich  hatte  zwar  vorgezogen, 
meine  Zeltmatratze  und  mein  kleines  Reisekissen  zu  benutzen  und  das 
für  mich  bestimmte  Bettzeug  den  Gefährten  zu  überlassen,  aber  ich  glaube 
trotzdem,  dass  man  es  nach  der  vorhergehenden  Schilderung  des  Schlaf- 
zimmers und  bei  der  Nähe  meiner  .Schlafgenossen  dennoch  erklärlich  finden 
wird,  wenn  selbst  das  vorsorglich  mitgenommene  und  hier  zur  Anwen- 
dung gebrachte  Pulver,  trotz  ausgezeichneter  Qualität,  ohne  jede  Wir- 
kung blieb. 


Bkk(;ta'1'ark.n  i.m  Norden  des  zkntkalen  Kaikasus. 

Bis  tief  heralj  hingen  am  nächsten  Tage  die  Wolken  an  den  Berg- 
wänden. Am  Vormittage  wurden  unser  Hausherr  und  seine  Brüder,  echte 
Balkartypen,  photographiert.  Natürlich  war  wieder  die  ganze  Einwohner- 
schaft des  Dorfes  versammelt,  ja  ich  glaube,  dass  auch  die  Bewohner  der 
umliegenden  Dörfer  auf  die  Nachricht  unseres  Eintreffens  herbei- 
geeilt waren. 

Das  Volk,  welches  das  Tscherektal,  sowie  die  gegen  Westen  fol- 
genden   Täler    des    Urwan    (eines   westlichen    Zweiges    des  Tscherek),    des 


Balkaren. 


Tschegem  und  des  Bakssan  bewohnt,  ist  ein  tatarischer  .Stamm  mohamme- 
danischen Glaubens,  gehört  also  der  uraltaischen  Familie  an.  Wie  bei 
vielen  der  kaukasischen  Bergvölker,  ist  ihre  Herkunft  ungewiss.  Sie 
werden  oft  als  Bergkabardaer  bezeichnet,  obgleich  sie  mit  den  Bewohnern  der 
Karbada,  des  Landstriches  in  den  kaukasischen  Vorbergen,  welche  im  Westen, 
Norden  und  Osten  die  Flussläufe  der  Malka  und  des  Tscherek  begrenzen,  in 
früheren  Jahrhunderten  in  keiner  Blutsverwandtschaft  standen  und  sich  erst 
später  als  Nachbarn  diesem  Zweige  des  Tscherkessenvolkes  in  ihren  Ge- 
bräuchen, ihrem  Glauben  und  endlich  politisch  angegliedert  haben  dürften. 
Ihre   Sprache,    die    vieles    von    ihrer    Ursprünglichkeit    verloren    haben    soll, 


Die  Schluchten  des  Tsciierek. 

ist  nahe  mit  dcrjrniof'n  dc;r  Noo-aii-r  und  'rnichmenen  verwandt.  Diese 
lataren  werden  auch  nach  den  Tälern  oder  den  Hauptorten  derselben, 
in  welchen  sie  ihre  Wohnsitze  haben,  benannt:  Balkaren  (auch  Mal- 
karen) im  Tscherektale,  Besingier  (auch  Chulamer)  im  Urwantale, 
Tschegcmer  im  Tale  des  Tschegem   und   die  am  Bakssan  Wohnenden,   nach 

dem  Hauptorte  des  Tales,  LIrussbier. 
Ihre  Gesamtzahl  beträgt  13000, 
von  welchen  etwa  5000  Balkaren 
sein  sollen.  W'ir  werden  in  den 
nächsten  W^ochen  und  auf  späteren 
Reisen  noch  oft  Gelegenheit  haben, 
Bergtataren   zu   beobachten. 

Am  Nachmittag  machte  ich 
einen  Ausflug  in  die  im  Norden 
sich  ötfnende  Schlucht  des  Tsciie- 
rek, in  welche  der  Bergstrom  aus 
der  Talweitung,  in  welcher  die 
Dorfgrupjjen  von  Baikar  liegen,  tritt. 
Die  kristallinischen  Schiefer  des 
1  lauptgebirges  stossen  hier  auf  die 
Formationen  des  Jura,  deren  Kette 
der  Tscherek  durchbricht.  Schon 
vom  l)reiten  Talbeken  des  Tscherek 
lallen  die  scharfen  Grate,  die 
Zacken,  welche  die  Höhen  der 
Jurakalkkette  krönen,  auf,  uml  die 
rödich-gelbe  Farbe  lässt  schon  von 
ferne  das  Gestein  erkennen,  aus 
welchem  sie  besteht.  Beim  lün- 
gang  in  die  Durchbruchsschlucht 
sieht  man  zur  Linken  hoch  oben  Ueberreste  alter  Befestigungen,  mit 
welchen,  an  gunstigen  Orten  angelegt,  die  Balkaren  den  Eintritt  in 
ihr  Tal  leicht  sperren  konnten.  In  der  schluchtartigen  Enge  starren 
die  Wände  steil  und  nackt,  in  Absätzen  brüchigen  Gesteins,  auf 
welchen  sich  nur  selten  niedriges  Gestrüpp  zu  halten  vermag,  in  die  Höhe. 
Der  Tscherek  schäumt  und  tobt  in  dem  noch  immer  Widerstand  bietenden 
Kluftgestein,  und  mächtige  Felstrümmer  ragen  hoch  in  seinem  Bette  auf.  An 
einieen   Stellen  hat   der   Bach   1  lohluneen   am   Fusse   der  Schluchtwände   aus- 


%_ 

^^^7^ 


Tscherek  -  Schi  Li  cht. 


—      76      — 


W'aI.DKKK'IIK    VoKGEI'JKGS  LANDSCIiAFI'. 

^»■ewascheii  uml  unter  weit  vorspringenden  Felskarniesen  scliiesst  das  Wasser 
dahin,  lüne  [irimitive,  aus  einigen  Baumstämmen  angelegte,  schwankende 
Hrücke  führt  hoch  über  den  brausenden  Bach  an  das  rechte  Ufer,  wo  kaum 
Raum  für  den  schmalen  Steg  ist.  Am  Ende  des  Defile  bietet  sich  von  einem 
vorspringenilen  Hügel,  zu  dem  sich  der  Pfad  emporgewunden  hat,  ein  Blick 
durch  die  wilde  Engschlucht  und  zugleich  die  Aussicht  gegen  Norden,  auf 
eine  offene,  waldreiche,  freundliche  Landschaft,  mit  ihrem  Kontraste  ein 
effektvoller  Abschluss  der  Schluchtszenerien. 


Kaukasische    Waffen. 


Aus  der  Eisregion  des  Midschirgi-Gletschcrs. 
(Hochgebirge   von  Besinjji. 


VI.  KAPITEL. 


Von  Baikar  in  das  Hochgebirge  von  Besingi. 

The  iJal.ifcs   of  Ntitui  e,   whose   vast   walls 
Have  pinnacleil  in  clouds  their  suowy  scalps 
And  throwed  Eternity  in  icy  halls 
Of  colli   sublimity.    where  forms  and  falls 
The   avalancho   —   thc   thimdeibolt   of  snow! 
Byron. 

Aus  dem  obersten  Tscherek-Tale  sollte  unsere  Marschroute  weiter 
gegen  Westen,  nach  dem  Urwan-Tale,  einem  Zweige  des  Tscherek,  lühren. 
Schon  am  frühen  Morgen  des  5.  August  waren  die  Pferde  und  Träger  be- 
reit lind  wir  konnten  schon  um  7  Uhr  von  Kunnyni  aufbrechen.  Ich  nahm 
rührenden  Abschied  von  unserm  Gastfreunde  und  übergab  ihm  einen  kleinen 
RevoKer  zum   Andenken. 

Das  Wetter  war  trübe  und  blieb  den  ganzen  Tag  umwölkt.  lün 
langwieriger  Anstieg  von  mehreren  Stunden  —  mit  den  allerdings  längeren 
Kasten  hatten  wir  nahezu  sieben  Stunden  gebraucht  —  brachte  uns  auf  die 
Hohe  des  die  Täler  von  Baikar  und  Besingi  scheidenden  Bergzuges.  Der 
Weg   schneidet   die   I-'onuationen    der    jurakalke    und    der  Tonschiefer.      Der 


—      78 


llKCKl-SSlM;    IM    All.   Tl  IIKNKI.   (HK.siNcr). 

Uebergang  ist  ungefähr  3100  m  (A.  D.)  hoch.  Unter  der  Passhühe  befinden 
sich  ausgedelinte  Bergweiden,  auf  welchen  Herden  von  zahh'eichem  Horn- 
vieh und  Pferden  sich  herumtummelten.  Mächtige  I  luncle  hieken  Wacht 
und  stürzten  sich  heulend  auf  uns,  so  dass,  trotz  der  Rufe  und  des  Herbei- 
eilens  der  Hirten,  wir  uns  mit  Eispickehi  kaum  der  wütenden  Tiere  erwehren 
konnten.  Wir  wurden  mit  köstlichem  Eiram  gelabt.  Der  Abstieg  wurde 
rascher  —  in  drei  Stunden  —  ausgeführt,  trotzdem  wir  eine  Zeitlang  im 
Nebel  die  Richtung  verloren  hatten,  bis  wir  wieder  einen  etwas  ausgetretenen 
Pfad  erreichten,  der  in  grosser  Steile  in  das  Besingi-Tal  hinabführt,  dessen 
Dörfergruppen   wir  tief  unter  uns  im   baumlosen    Hochtal   erblickten. 

Ueber  den  Besingizweig  des  Tscherek,  auch  Urwan  genannt,  führt 
eine  Brücke  zu  dem  jenseits  liegenden  Aul  Tubenel  (1457   m). 

Schon  früher  hatten  wir  drei  Reiter  bemerkt,  die  dahersprengten, 
bei  der  Brücke  von  den  Pferden  stiegen  und,  wie  es  schien,  uns  erwarteten. 
Eine  Hünengestalt  trat  vor  und  begrüsste  uns ;  es  war  der  Purst  und 
Starschina  von  Besingi.  Nach  ihm  reichte  uns  sein  Begleiter  die  Hand,  ein 
Verwandter  des  P'ürsten,  der  die  Uniform  eines  kaukasischen  Milizofhziers 
trug,  das  Kleid  der  Bergbewohner  mit  den  Achselklappen  des  russischen 
Militärs  versehen.  Der  dritte  Mann,  der  Diener  des  P"ürsten,  hielt  die 
Pferde.  Vor  dem  Hause  des  Besingifürsten  wartete  unser  Hamsat  Urussbiew, 
ein  jüngerer  Bruder  des  Fürsten  Ismael,  des  Chefs  der  Familie,  die  in  dem 
zum  Elbruss  hinziehenden  Bakssantale,  im  Dorfe  Urussbieh,  ansässig  ist. 
Fürst  Hamsat,  der  mich  während  der  Reise  unter  seinen  Stammesgenossen 
begleiten  sollte,  war  ein  Mann  von  hoher  Gestalt,  mit  ausdrucksvollen  Zügen, 
blauen  Augen,  weissem  Bart  und  Kopfhaar,  welches,  wie  es  scheint,  vor 
der  Zeit  erbleichte.  In  vollendeter  Form  fand  die  V^orstellung  statt.  Mehr 
oder  weniger  trugen  alle  diese  Bauernfürsten,  mit  welchen  ich  unter  den 
Bergtataren  zusammentraf,  ein  vornehmes  Benehmen  zur  Schau,  dabei  fast 
immer  ungezwungen,  wie  angeboren.  Jedenfalls  hat  hierauf  die  Nachbar- 
schaft und  der  enge  Verkehr  mit  den  Karbadaern  eingewirkt,  dem  vornehm- 
sten und  gebildetsten  Zweige  der  Tscherkessen.  Während  der  folgenden 
Wochen  war  Hamsat  nach  besten  Kräften  bestrebt,  für  unser  leibliches 
Wohlergehen  und  für  die  Erreichung  meiner  Reiseziele  zu  sorgen.  Er 
suchte  immer  die  Gastfreundschaft  der  Tataren,  seiner  .Stammesbrüder,  als 
eine  nationale  Sitte  derselben,  mir  eindringlich  vor  Augen  zu  führen.  Für 
meine  Schweizer  begann  jetzt  ein  wahres  Schlaraffenleben,  fette  Tage  nach 
mageren  Wochen,  die  wir  verlebt  hatten.  Die  Hütte,  welche  der  Fürst  und 
Starschina  von  Besingi  für  seine  Gäste  bereit  hält,  ist  allerdings  ein  elender 


TAI.LANDSCHAFI-    (iliKRIIALI!    TUBENEL. 

liundestall.  l'instcr  und  feucht,  dürfte  sie  bei  keinem,  den  je  sein  Geschick 
chu-ch  Hesingi  geführt  hat,  angenehme  Erinnerungen  zurückgelassen  haben. 
Ein  enges,  schmales  Bettgestell  stand  in  dem  Räume ;  eine  hölzerne  Bank, 
auf  welche  man  kleine,  buntfarbige  Kissen  legte,  wurde  herbeigebracht. 
Bald  dampfte  der  Samowar,  und  das  anregende  Nass  wurde  mit  in  Butter 
gebackenem  Kuchen  gereicht.  Und  dann  kam  das  ganze  Menü  eines  Schafes 
mit   obligatem   Schaschlik.      Der  Eiram   floss   in   Strcimen. 

Am  folgenden  Tage  nahm  ich  von  Herrn  Dolbischew,  der  von  hier 
nach  \\  ladikawkas  zurückkehrte,  Abschied.  Ich  war  ihm  vielen  Dank 
schuldig,  nicht  nur  für  seine  Dienste,  die  er  mir  als  Dolmetscher  geleistet  hatte, 
nicht  nur  für  seine  angenehme  Gesellschaft,  sondern  auch  für  die  Bereit- 
willigkeit, mit  der  er  die  Mühen  und  P2ntbehrungen  während  der  nahezu 
dreiwöchigen  Reise,  die  im  Gebirge  zu  Fuss  zurückgelegt  wurde,  ertrug. 
Ich  hoffe,  dass  ihn  die  Erinnerung  an  die  herrlichen  Gletscherlandschaften, 
die  wir  durchzogen.   Mühen  und   Entbehrungen   später  vergessen  Hess. 

Gegen  Mittag  verliessen  auch  wir  Tubenel.  Der  gletschererfüllte 
Hintergrund  des  Tales  war  unser  Ziel.  An  den  Fuss  jener  Bergriesen  wollte 
ich  gelangen,  die  wir  im  Panorama  des  Schtulivcek  bewundert  hatten, 
und  versuchen,  einen  derselben  zu  erklimmen.  Unsere  Kavalkade  —  wir 
waren  auf  die  Bitte  Hamsats  alle  zu  Pierde  —  bestand  ausser  mir  und 
den  Schweizern  aus  Hamsat,  seinem  Diener,  einem  Tataren  aus  Tschegem, 
der,  wie  es  schien,  seiner  Person  während  der  Reise  in  diesen  Tälern  als 
Ehrenkavalier  attachiert  war,  und  dem  Kosaken.  Zwei  Lastpferde  mit  einem 
Treiber  beförderten   die   Lagerausrüstung. 

Der  Aul  Tubenel  liegt  an  der  Grenze  des  kristallinischen  Schiefers 
und  der  oberen  Juraformation.  Die  mehrere  Stunden  lange  Talflucht,  welche 
sich  bis  an  den  Fuss  des  Gletschers  hinzieht,  ist  eine  baumlose,  steinige 
Einöde.  Die  Talwäncle  bestehen  aus  bräunlich  gefärbtem  Glimmerschiefer, 
dem  später  Gneise  und  Gneisgranite  folgen.  Zum  mächtigsten  Erhebungs- 
zentrum des  Kaukasus  führend,  befremden  die  landschaftlich  reizlose  Kon- 
figuration, die  unbedeutenden  Formen.  Nur  wenn  der  mächtige  Eisstrom, 
der  oben  die  ganze  Talbreite  erfüllt,  sichtbar  wird,  überrascht  der  in  grosser 
Steile  und  Wildheit  über  demselben  sich  erhebende  Eiswall,  ein  Teilstück 
des  kaukasischen  Hauptkammes.  Aber  an  diesem  umwölkten  Nachmittage 
fehlten  im  öden,  farbenarmen  Hochtale  auch  diesem  Anblicke  Licht  und  Leben. 

Nahe  beim  Gletscher  schlugen  wir  das  Lager  auf.  Das  Wetter 
besserte  sich  gegen  Abend.  Ein  Schaf  wurde  geschlachtet,  und  lustiges 
Leben  herrschte  im  Lao-er.     Das   lukullische  Mal   hatte   auch  die  .Schweizer  in 


Laüerlkijen  im  Besingi-Tal. 


gute  Laune  versetzt.  Sie  sangen  Lieder  aus  den  Alpen.  Ilanisat  rezitierte 
in  melancholisch  klingender  Melodie  turko-tatarische  Balladen,  deren  Refrain 
die  Eingeborenen  mitsangen  und  in  welchen  auch  wir  später  einfielen.  Die 
Fröhlichkeit  erreichte  jedoch  den  Höhepunkt,  als  Burgener  seine  Mund- 
harmonika hervorsuchte  und  ein  buntes  Potpourri  zum  bestem  gab.  Ich 
glaube,  es  war  der  Garibaldimarsch,  der  auch  schon  damals  nicht  mehr  zu 
den  musikalischen  Novitäten  der  Leierkastenmänner  gehörte,  mit  dem  er 
seinen  grössten  Erfolg  bei  den 
Tataren   erzielte. 

7.  Augu.st.  ■ —  In  strahlender 
Reine  war  der  Morgen  hereinge- 
brochen. Trotz  unseres  Taten- 
durstes war  es  nötig,  vorerst 
sich  in  dem  uns  fremden  Gebiete 
zu  orientieren  und  den  Tag  zur 
Rekognoszierung  zu  verwenden. 
Der  ganze  Talgrund  ist,  je  mehr 
man  sich  dem  Gletscher  nähert, 
von  Moränenschutt,  Blöcken  und 
Geröll  bedeckt,  und  Anhäufun- 
gen derselben  sind  deudich  als 
alte  Endmoränen  zu  erkennen. 
Auch  die  Endzunge  des  Glet- 
schers ist  von  Schutt  und  Ge- 
röll bedeckt,  das  ihm  ein  schmutzi- 
ges Aussehen  verleiht.  Alles  deu- 
tet auf  einen  stetigen  Rückgang 
des  Gletschers  hin,  und  derselbe 

ist  so  bedeutend,  dass  auch  die  Bergbewohner  dies  bestätigen  und 
die  älteren  Leute  sein  früheres,  tieferes  Herabreichen  erwähnen.  Die 
Zunge  des  Besingi-Gletschers  endet  bei  1993  m;  er  ist  also  nach  dem 
Karagomgletscher  der  an  der  Nordseite  des  Kaukasus  am  tiefsten  herab- 
reichende Gletscher.  Aus  einem  weiten  Gletschertor  strömt  der  ungestüme 
Bach,  dessen  Wasser  so  mächtig  anschwellen,  dass  er  fast  nie  zu  Fuss,  oft 
auch  nicht  zu  Pferde  übersetzt  werden  kann.  Die  Endmoräne  besteht  aus 
kristallinischen  Gesteinen,  in  welchem  Gneisgranite  vorherrschen.  Seiten- 
moränen begleiten  das  in  geringem  Falle  niederziehende  Eisfeld,  das  im 
unteren  Teile    der    Mitte    zu    sich    aufwölbt    und    nur    von    wenigen   Spalten 

Dechy;  Kaukasus.  6 

—        81        — 


Urwan-Tal  oberhalb  Tubenel. 


Der  I5ksi\gi-Gletsci ikr. 

diirchzüs^en  ist.  Der  Besingigletschcr  ist  der  yrösste  Gletscher  des  Kaukasus; 
er  bedeckt  mit  seinem  iMrngebiet  eine  Mäciie  von  nahezu  64  qkni;  seine 
Länge  beträgt  ungefähr  18  km,  seine  Breite  durchschnitdich  etwa  i  km.  In 
den  Alpen  übertritTt  nur  der  eine  Aletschgletscher  durch  die  Vereinigung 
eines  weit  ausgedehnten  Mrngebietes  mit  einer  lang  gestreckten,  schwach  ge- 
neigten Abflussrinne  an  Grösse  den  Besingigletscher;  alle  andern  Alpen- 
gletscher finden  in  den  kaukasischen  Gletschern  würdige  Rivalen,  sowohl 
was  die  von  Mrn  und  Eis  bedeckte  Fläche,  als  auch  die  Länge  der  Eis- 
ströme betrifft.  Mit  dem  Besingigletscher  kann  sich  unter  den  Alpen- 
gletschern —  abgesehen  vom  Aletschgletscher  —  vielleicht  (die  Resultate 
der  Messungen  schwanken)  nur  der  Gornergletscher  messen.  Diese  Tat- 
sachen waren  jedoch  damals  unbekannt,  und  es  bedurfte  fortgesetzter 
Forschungen,  des  Eindringens  in  die  eisigen  Hochregionen  des  Kaukasus, 
des  Begehens  der  grossen  Gletscherströme  und  ihrer  Firnbecken,  um  die 
Wahrheit  derselben   zu   erweisen. 

Wir  wanderten  zuerst  längs  der  Moränenrücken  des  linken  Gletscher- 
ufers und  betraten  dann  das  Eis.  Auf  den  Seitenmoränen  und  auf  dem 
trümmerbedeckten  Gletscher  wurcien  zwischen  den  vorherrschenden  Gneis- 
graniten, Syenite,  Ouarz  mit  eingeschlossenem  Glimmerschiefer,  Pegmatite 
und  Diorite  gesammelt.  Je  weiter  wir  auf  dem  Gletscher  vordrangen,  desto 
mehr  entwickelten  sich  die  Grössenverhältnisse  seiner  Umrandung  und  die 
eisige  Mauer,  die  in  einem  ununterbrochenen  Steilabsturze  vor  mir  sich 
erhob,  übertraf  an  Grösse  und  Wildheit  die  gleichen  Bildungen  der  Alpen. 
Die  Firstlinie  dieses  Bergwalles  schneidet  silberweiss  in  das  blaue  b'irmament 
und  bildet  zur  Rechten  das  sattelförmige  Haupt  des  Katuin-Tau  (496S  m) 
und  nach  einer  sanften  Einsenkung  zur  Linken  die  beiden  Gipfel  der 
Dschanga  (5051  m).  Hinter  den  zum  Gletscher  ziehenden  felsigen  Seiten- 
wänden liegen  im  Westen  und  Osten  die  Zuflü.sse  des  Besingigletschers, 
und   der  mächtige   Eiswall   der   Hauptkette   findet  dort  seine   Fortsetzung. 

Am  Gletscher  machten  wir  Halt  und  versuchten,  uns  mit  Hilfe 
Hamsats  und  der  Leute  aus  Besingi  in  der  uns  umgebenden  Bergwelt  zu 
orientieren.  Der  eisbedeckte  Hauptkamm,  von  welchem  der  Besingigletscher 
niederzieht,  wurde  uns  mit  Tetnuld  bezeichnet.*)  Die  Bergkette,  die  in 
einem  ösdich  gewandten  Bogen  nach  Norden  zieht,  wurde  Kaschten  genannt. 
Die    Bezeichnung    wurde    als   Kollektivname    für   einen   ganzen    Bergzug,    für 


*)  Der  4853  m  hohe  Gipfel  des  Tetnuld  liegt  aber  tatsächlich  in  einem  sich  vom  Haupt- 
kamme gegen  Süden  abzweigenden  Bergzuge.  Der  früher  im  .\nblickc  des  Hauptkammes  von 
Norden    für    den  Tetnuld  gehaltene  Gipfel  ist  die  4880  m  hohe  Gestola,  nördlich  vom  Katuin-Tau. 


Topographie  dks  eiskif.x  IIixtkkoki  xdks. 

ein  Berggebiet,  nicht  t'iir  einen  bestinnnten  Berg  oder  Gipfel,  angewandt. 
Nach  den  damals  7Air  Verfügung  stehenden  kartographischen  Angaben 
mussten  Koschtan-Tau  und  DNch-Tavi  in  dem  Bergzuge  liegen,  der  vom 
Hauptkamme  oberhalb  des  Besingigletschers  sich  loslöst  und  gegen  Norden 
streicht.  Es  waren  die  Berge,  welche  wir  vom  Schtulivcek-Pass  erblickt 
hatten,  die  aber  sowohl  Freshfield  als  ich  auf  unsern  ersten  Reisen  unrichtig 
identifiziert  hatten.  Die  Topographie  des  eisigen  Hintergrundes  des  Besingi- 
tales,  seiner  Gletscher  und  der  einzelnen  Gipfel  lag  damals  noch  im  Un- 
klaren. Es  ist  eine  eigentümliche  Erscheinung  im  kaukasischen  Hochgebirge, 
dass  die  meisten  seiner  höchsten  Gipfel  sich  hinter  vorstehende  Ouerjoche 
verbergen  oder  —  vom  Hauptkamme  losgelöst  —  in  von  hohen  Bergen 
umgebenen  versteckten  Ecken  des  Gebirges  aufragen.  Wir  suchten  damals 
Koschtan-Tau,  der  als  der  höchste  gemessene  Gipfel  nach  Elbruss  galt,*) 
und  beschlossen  daher,  uns  den  Bergen  in  der  östlichen  Begrenzung  des 
Besingigletschers  zuzuwenden. 

Wir  überquerten  den  Gletscher,  um  an  sein  linkes  Ufer  zu  gelangen. 
Als  wir  uns  demselben  näherten,  öffneten  sich  die  Bergwände  an  dieser 
Talseite,  und  wir  blickten  in  ein  weit  und  hoch  in  dieselben  einschneidendes 
Tal,  aus  dem  ein  mächtiger  Gletscherstrom  herabdringt,  der  sich  an  seinem 
Ende  fächerförmig  ausbreitet,  bn  Halbkreise  baut  sich  über  demselben 
steilklippiges,  von  Eis  starrendes  Gebirge  auf.  Das  Felsgemäuer  der  hohen 
Seitenwände  wirft  graue  Schatten  auf  die  im  engen  Tale  liegenden  Eis- 
massen, welche  in  der  Höhe,  dort  wo  die  Sonnenstrahlen  darauf  fallen, 
um  so  weisser,  blendender  aufleuchten.  In  dieses  unbekannte,  unbenannte 
Gletschertal  wollte  ich  dringen,  dort  glaubte  ich  Koschtan-Tau  suchen 
zu   müssen. 

Zwischen  dem  Besingigletscher  und  dem  Beginne  dieses  Seitentales 
dehnen  sich  grüne  Halden  aus,  welche  eine  reizende  Alpenflora  schmückt. 
Ein  Schafhirte  hat  sich  hier  mit  .Steinblöcken,  Stangen  und  Filzdecken  einen 
Unterstand  gebaut  —  ein  kaukasischer  Kosch.  Die  Herde  kletterte  auf 
den  begrünten  Felsflühen   der  Umgebung  herum. 

Die  Eingeborenen  nannten  den  Ort  Midschirgi.  Hier  blieben  unsere 
Tataren  zurück,  da  sie  behaupteten,  es  sei  unmöglich,  über  den  Gletscher, 
den  ich  nach  den  an  seinem  Fusse  befindlichen  Weidegründen  Midschirgi- 
Gletscher  nannte,  höher  hinauf  zu  gelangen.  Jedenfalls  schien  ihnen  die 
Rast  beim  Kosch   ano-enehmer,   als   ein   für  sie  zweckloser  Marsch  über  Geröll 


*)    Diese  Stelle  blieb  ihm  schliesslich  unter  dem  Namen  Dych-Tau  gewahrt,  nachdem  Jahre 
hindurch  Schchara  ihm  den  Rang  streitig  zu  machen  gesucht  hatte. 


I)i:k  MiDsciiiRi;!  Gi.K'rstiiKR. 

iiml  l'.is,  uiul  ihi  ich  sie  nicht  Ijcnötiyte,  Hess  ich  sie  auch  gewahren.  Mine 
Strecke  hing,  bis  auf  den  Gletscher,  gab  uns  noch  Ilamsat  das  Geleite. 
Im  Tale,  zwischen  Besingi  und  Midschirgi  ist  das  Terrain  zuerst 
begrünt,  dann  mehrt  sich  das  Geröll  und  es  erscheinen  die  stark  entwickelten 
Moränen  des  Midschirgigletschers.  Die  Form  der  Gletscherzunge  macht  den 
Eindruck,  als  wäre  der  Gletscher  wieder  im  Vorwärtsschreiten  begriffen;  sie 
liegt  in  2240  m  Höhe.  Ohne  Zweifel  vereinigten  sich  einst  beide  Eisströme, 
die   des  Midschirgi-    und   des   Besingi-Ciletschers. 


Midschirgi-Gletscher. 


Wir  wanderten  an  der  linken  geröllbedeckten  Talseite.  Dann  steigt 
man  an  steilen  Hängen,  dem  Laufe  des  Gletschers  folgend,  empor,  bis  man 
auf  eine  hohe  Seitenmoräne  gelangt.  Die  Moräne  wird  schmalkantig,  scharfe 
Schneiden  bildend,  ihre  aus  .Sand  und  Geröll  zusammengebackenen  Hänge 
fallen  zu  beiden  Seiten  sehr  steil  ab.  Auch  in  den  Alpen  haben  Seiten- 
moränen —  insbesondere  diejenigen  der  Daui)hinegletscher  —  oft  diese  Be- 
schaffenheit, aber  dort  haben  entweder  schon  früher  Jäger  und  Hirten,  oder 
in  den  letzten  Dezennien  Touristen  und  ihre  Führer  einen  Pfad  durch  öftere 
Begehung  getreten,   oft  geebnet,   wenn   nicht  längs  derselben  zu  einer  Alpen- 


Moränen  i.m  Kaukasus. 

klubhütte  eine  Weganlage  erstellt  wurde.  Nicht  so  im  Kaukasus;  hier  ent- 
faltet sich  die  Natur  noch  in  ihrer  ganzen  Ursprünglichkeit,  unberührt  von 
Eingriffen  des  Menschen.  Lange  kletterten  wir  über  den  scharfen  Rücken 
und  die  Blöcke  tler 
Moräne.  Je  höher  wir 
steigen,  desto  höher 
wächst  die  wilde  Um- 
gebung ;  die  Fels- 
wände zur  Rechten, 
die  mit  zackigen  Gra- 
ten sich  erheben,  tre- 
ten zurück,  und  der 
Blick  dringt  in  die 
Firnregion  des  Mid- 
schirgigletschers,  über 
welcher  jetzt  eisige 
Höhen  in  ungeahnter 
Herrlichkeit  erschienen 
sind. 

Im  Westen  sinken 
zwischen  scharfkanti- 
gen, gebrochenen  Fels- 
bollwerken Gletscher- 
zuflüsse herab ;  im 
Süden    liegt   das     sich 

weit  hinaufziehende 
Firnbecken  des  Mid- 
schirgigletschers,  und 
darüber  ragt  der  aus 
eisbepanzerten  Klip- 
pen, mit  Feldern  ab- 
stürzenden, zerschrun- 
deten     Firneises     sich 

aufbauende  Wall,  von  der  zackengekrönten  Eiswand  des  UUuauss- baschi 
(4679  m)  bis  zu  den  felsdurchbrochenen  Firnwänden  des  vielgipfligen  Midschirgi- 
Tau  (4926  m)  und  der  mächtigen  Firnkuppe  des  Dych-Tau  (5198  m).  Der 
Granit  des  Kaukasus  hat  hier  Bergformen  von  ausserordendicher  Steilheit,  von 
unsäglicher  Wildheit  geschaffen.   Im  Banne  dieser  hehren  Naturschöpfung  blieb 


Eiswall    mit   Dych-Tau    vom   M  idschirg  i-Glctscher. 


85 


üiE  Firnregion  des  Midschirgi-Gletsciiers. 

ich,  überwältigt,  einige  Augenblicke  in  Bewunderung  versunken.  Dann  aber 
wurde  rasch  der  photographische  Apparat  aufgestellt,  denn  schon  zogen  in 
verräterischer  Ruhe,  langsam  vom  Süden  über  eine  Einsenkung  der  eisigen 
Kämme,   kleine,   weisse  Wolken. 

Weiter  wanderten  wir  über  Hänge  alten  Lawinenschnees,  dann  wieder 
auf  dem  mit  Schnee  bedeckten,  massig  ansteigenden  Eise  des  Gletschers, 
die  rechte  Felsecke  umgehend,  immer  höher  hinauf,  in  die  von  keines 
Menschen  F"uss  betretene  Firnregion  des  Midschirgi.  Mit  uns  zogen  die 
Wolken,  die  sich  immer  mehr  verdichteten,  und  von  allen  Seiten  stiegen 
Nebel  auf.  Wir  waren  in  einer  kleinen  Firnbucht  und,  in  einer  steilen 
Rinne  Stufen  schlagend,  gelangten  wir  auf  die  Höhe  eines  Felsabsatzes. 
Es  war  2  Uhr  nachmittags,  als  wir  unsern  höchsten  Punkt  im  Firnkessel 
des  Midschirgigletschers,  zu  dem  wir  emporgedrungen  waren,  erreicht  hatten. 
Zur  Linken  blickte  man  jetzt  weit  in  das  gegen  Osten  emporziehende  Firn- 
becken, in  welches  die  Grate  des  Dych-Tau  niederziehen.  Die  wogenden 
Nebel  erhöhten  die  Wildheit  der  Szenerie,  welche  die  grossartigsten  Er- 
scheinungen des  firn-  und  eistragenden  Hochgebirges  bietet.  Der  Riesen- 
wall, der  dort  im  Firnbassin  des  Midschirgi  steht,  übertrifft  durch  die  Höhe, 
zu  welcher  er  sich  aufschwingt,  durch  die  Steilheit  seiner  Fassaden,  durch 
die  Zerrissenheit,  das  Abstürzende  seiner  Eisbedeckung  und  die  Riesengrate, 
welche  bald  als  scharfe  Firnschneiden,  bald  als  gebrochene  Felskanten  zu 
den  Gipfeln  emporziehen,  alles,  was  die  Gebirgswelt  der  Alpen  in  ihrer 
schneebedeckten   Hochregion   entrollt. 

Wie  .soll  es  möglich  sein,  mit  Worten  solche  Pracht,  solche  Grösse 
zu  schildern?  Liegt  nicht  die  Gefahr  nahe,  in  den  Mitteln  der  Darstellung, 
die  dem  Schilderer  der  Natur  zur  Verfügung  .stehen,  unter  dem  starken 
Eindruck  des  Erschauten,  zu  den  Superlativen  der  Sprache  die  Zuflucht  zu 
nehmen,  im  Glauben,  damit  den  Massstab  zu  erreichen,  mit  dem  Grosses 
zu  zeichnen  wäre?  Wie  soll  es  dem  Reisenden  im  fremden,  in  eisumgürteter 
Weltabgeschiedenheit  starrenden  Lande  möglich  sein,  seiner  Schilderung 
die  überzeugende  Kraft  zu  leihen?  Und  ist  es  nicht  möglich,  dass  das  Auge 
des  Reisenden  .sich  trübt'  Durch  die  Neuheit  der  sich  ihm  als  ersten 
erschliessenden  Welt  angeregt,  blickt  er  trunkenen  Sinnes  auf  dieselbe,  die 
Erinnerung  an  das  Altbekannte  schwindet  vielleicht  vor  dem  überwältigenden 
Eindruck,  mit  dem  der  neue,  unerwartete  Anblick  ihn  gefangen  nimmt,  die 
Vergleiche,  welche  die  Worte  anstreben,  fälschen  sich  unbewusst,  und  die 
Hand,  welche  den  Stift  führt,  zittert  und  folgt  vielleicht  zu  willig  dem 
Enthusiasmus   des   Forschers.      Wie    oft  ist  dies   in   der  Geschichte  der  Ent- 


Photograi'iiischk  Dakstkli.ung  der  Hociiregiox. 

deckungsreisen  der  Fall  gewesen  1  Allein  das  Bild,  welches  sich  dort  in  i\i;n 
Firnregionen  des  Midschirgigletschers  mir  entrollte,  es  zeichnete  sich  mit 
gleichen  Linien,  in  gleichen  Abstufungen  wie  auf  tler  Netzhaut  meines 
Auges,  in  der  Linse  des  photographischen  Apparates.  Mit  überzeugender 
Kraft  bestätigten  die 
von  meiner  ersten 
kaukasischen  Reise 
heimgebrachten 
photographischen 
Aufnahmen,  die  ers- 
ten aus  den  eisbe- 
deckten Hochregio- 
nen des  zentralen 
Kaukasus,  die  Schil- 
derungen seiner  ers- 
ten Pioniere.  Und 
dass  diese  photo- 
graphischen Bilder, 
mehr  als  alle  Worte 
und  Schilderungen, 
die  bis  dahin  fast 
ungehört  verhallten, 
das  Interesse  für  die 
kaum  geahnteGrösse 
und  Pracht  der  kau- 
kasischen Hochge- 
birgslandschaft an- 
gefacht haben,  und 
dass  sie  Dokumente 
der  Wahrheit  und 
des  Beweises  für 
Behauptungen  wur- 
den, die  gegen  die 
damals  herrschende  Auffassung  über  eine  Reihe  von  Erscheinungen  der 
physischen  Natur  des  Kaukasus  von  P'reshheld  und  mir  geäussert  wurden, 
ist    und   bleibt   mein  schönster  Erfolg. 

Der    orographische   Aufbau    des    Gebirges,    die    mächtigen  Ansamm- 
lungen von  Schnee   und   Firn,   die  gewaltige  Ausdehnung  der  Gletscher,   wie 


M  i  d  s  c  h  i  r  g  i  -  T  a  u    vom  M  i  d  s  c  h  i  r  g  i  -  G 1  e  t  s  c  h  e  r. 


87     — 


Topographische  Rätsel. 

sie  der  Hintergrund  des  Dychssu -Tales  mit  seinen  Gletscliern,  der  Eisstrom 
des  Besingi  mit  seiner  Umgebung  untl  die  Firnregion  des  Midschirgigletschers 
mir  vor  Augen  führten,  widerlegten  in  entscliiedener  Weise  die  irrigen 
Angaben  der  geographisclien  Lehrbücher,  der  Mitteikmgen  und  Karten,  von 
der  für  die  l'Lntwickhmg  von  Gletschern  ungünstigen  Struktur  des  Kaukasus, 
vom  Mangel  weiter  Firnbecken,  von  der  geringen  Ausdehnung  seiner 
Gletscher  im  Vergleiche  zu  den  Alpengletschern,  und  dass  nur  im  Massiv 
des  Elbruss  und  am  Kasbek  die  relativ  grössten  Ansammlungen  von  Firn 
und   Gletscher  zu   finden   sind. 

So  begeistert  ich  aber  auch  von  dem  sich  mir  bietenden  Anblicke 
in  der  Firnregion  des  Midschirgi  war,  F"els  und  Schnee  in  ihren  gross- 
artigsten Bildungen,  sie  blieben  für  mich  namenlos.  Im  Notizbuche,  das 
ich  auf  dieser  ersten  Reise  führte,  finde  ich  die  Bemerkung:  »Koschtan-Tau*) 
muss  rechts  von  meinem  Standpunkte  liegen,  ganz  rechts,  ein  hoher  Wall  — 
prächtige  Fishänge  und  Felsen.«  So  ist  es  auch,  aber  nichts  bestätigte 
damals  diese  Vermutung.  Wir  kehrten  aus  der  Firnregion  des  Midschirgi- 
gletschers in  unserm  Wissen  und  um  eine  herrliche  Erinnerung  reicher 
zurück,  aber  die  Lage  des  damals  mit  der  Bezeichnung  Koschtan-Tau  für 
den  höchsten  Gipfel  der  Besingi-Gruppe  gehaltenen  Berges  konnten  wir  mit 
Sicherheit  nicht  angeben.  Es  war  uns  klar  geworden,  dass  wir  uns  an  der 
linken,  westlichen  Seite  der  Talwände  über  dem  Besingigletscher  zu 
bedeutender  Höhe  erheben  müssten,  um  einen  Ueberblick  über  den  sich 
vom  Hauptkamme  loslösenden  und  gegen  Norden  streichenden  Zug  zu 
gewinnen,  in  dem  Koschtan-Tau  und  Dych-Tau  sich  erheben,  und  dies  sollte 
die  Aufgabe  des  morgigen  Tages  sein. 

Am  späten  Nachmittag  waren  wir  wieder  beim  Kosch  am  Ausgange 
des  Midschirgitales.  Ein  Lamm  war  unterdessen  geschlachtet  worden,  imd 
Hamsat  wartete  unser  in  fürsorglicher  W'eise  mit  Schaschlik  und  mit 
erfrischendem  Getränk,  mit  wasserverdünntem  Eiram.  F)ie  Schafe  der 
Bergtataren  gehören  einer  im  Kaukasus  verbreiteten  Rasse  von  F"ettschwänzen 
an.  Das  Fleisch  der  Tiere  und  auch  die  Fettschwänze  sind  sehr  zart  und 
haben  nicht  den  eigentümlichen  Geruch,  den  Hammelfleisch  so  oft  besitzt. 
Die  Eingeborenen  wollten  keine  Bezahlung  annehmen,  und  ich  konnte  nur  mit 
Mühe  den  jungen  Sohn  des  Schäfers  zur  Annahme  eines  Geldstückes  bewegen, 
da    ich    diesmal    Geschenke,    die    für  solche   Gelegenheiten  bestimmt  waren. 


*■)  Der  damals  als  Koschtan-Tau,  in  den  letzten  Jahren  aber  als  Dych-Tau  in  die  kaukasische 
Literatur  eingeführte  Gipfel. 


nii-niK-Basrhi  4fi7 


Midschirgi-Taii  4926 


Bergrund  aa\  Aidsq 


Dych  -  Tau  -  Qrat  (?) 


urgi-Gletscher. 


Unwettkr  im  Lagi:r. 

nicht  mit  hatte.  Die  Leute  in  diesen  Tälern  bezeugten  Hamsat  viel  Achtung 
und,  wie  es  schien,  auch  Liebe,  und  die  Bewirtung  galt  immer  in  erster 
Reihe   ihm   und   seinen   Gästen. 

Das  Wetter  hatte  sich  unterdessen  immer  mehr  verschlimmert; 
finstere,  schwere  Regenwolken  hatten  das  Firmament  um/.ogen,  und  dichte 
Nebel   lagen   auf  den   Bergen.      Das   Barometer  war  tief  gefallen. 

Welch  abenteuerlichen  Anblick  gewährte  an  diesem  Abend  unser 
Lager !  In  der  tief  schwarzen  Nacht  erleuchtete  das  Aufflackern  des  lodernden 
Feuers  die  Umrisse  der  trostlos  öden,  wilden  Umgebung.  Die  Bergbewohner 
lagen  zusammengekauert,  in  ihre  Burkas  gehüllt,  um  das  Wachtfeuer.  Wir 
suchten  uns  gleichfalls  vor  Kälte  und  Nässe  zu  schützen,  denn  bald  nach 
unserer  Ankunft  begann  ein  schwacher  Nebelregen  zu  fallen;  dabei  wurde 
es  empfindlich  kalt.  Wolljacken,  Lagerkappen,  Kautschukmäntel  wurden 
hervorgesucht  und  angelegt.  Unser  Anblick  hätte  gewiss  nicht  weniger 
fremdartig  gewirkt,  wenn  man  uns  gesehen  hätte,  als  der,  den  die  Berg- 
bewohner boten.  Doch  trotz  des  schlechten  Wetters  herrschte  festliche, 
fröhliche  Stimmung  im  Lager,  denn  wieder  war  ein  Schaf  geschlachtet 
worden,  immer  ein  Fest  für  die  Bergbewohner  und  vielleicht  auch  für  meine 
Schweizer.  An  langen  Spiessen  zischten  die  Fleischstücke  über  dem  offenen 
Feuer,   und   des   Bratens   und   Kochens   war  kein  Ende: 

»Als  sie  das  Fleisch  nun  gebraten  und  von   den  Spiessen  gezogen, 
Teilten  sie's  allen  umher  und  feierten  das  prächtige  Gastmahl.« 

Odyssee  III. 

Und  wieder  erklangen  die   monotonen  Lieder  der  Tataren,   das  Rezitativ,   in 

welchem   Hamssat  die  Taten   irgend  eines  Turkhelden  erzählte,   und  Burgener 

spielte    seinen    Garibaldi  -  Marsch,    wie    immer,    die    Glanznummer    des    Pro- 

grammes.     Nur  ich  konnte  an   der  allgemeinen  Fröhlichkeit  nicht  teilnehmen, 

denn    das   Wetter   wurde   immer   trostloser,     aus    dem    leichten    Sprühregen 

wurde   ein  heftiger  Regenguss,    den    der  Sturm    grollend   durch   das   Hochtal 

peitschte,   und   der  uns   in   das  Zelt  trieb. 

8.    August.      Trüb    und    mit  Regenschauern    brach    der   Morgen    an. 

Ich  wartete   lange,   aber  als   jede   Hoffnung  auf  Besserung  schwand   und   alle 

Anzeichen    für    andauernd    schlechtes    Wetter    sprachen,    gab    ich    schweren 

Herzens  Befehl,  nach  Besingi  zurückzukehren.      Ich  hatte  mich  entschlossen, 

noch    am    gleichen    Tage    die    Reise    westwärts    tortzusetzen.      Es    war    der 

8.   August  und  noch  ein  grosser  Teil  des  Reiseprogramms  lag  unerfüllt  \or 

mir :   das   Gebiet  des  Elbruss  musste   besucht  werden,   die  Ersteigung  seines 

höchsten   Gipfels  bildete   ein   Hauptobjekt  der  Reise,   der  Hauptkamm   sollte 


RÜCKKKllR   NACH    BKSINGI. 

auf  einem  Gletscherpasse  südwärts  üljerschritten  und  das  Hochtal  Swanetiens 
bereist  werden.  Trotzdem  wir  seit  BeL,nnn  der  Reise  im  Gebirge  immer 
\orwärts  kamen  und  kaum  einen  Tag  untätig  waren,  hatten  doch  die  grossen 
Entfernungen  viel  Zeit  in  Anspruch  genommen.  Unter  diesen  Umständen 
und  in  Anbetracht  des  vorgeschrittenen  Sommers  wollte  ich  das  wahrschein- 
lich  einiee  Tagre   andauerntle   schlechte  Wetter  dazu   benutzen,    um   so  rasch 


Der  Fürst   \un   Liesinyi   und   seine  Getreuen. 


als  möglich  nach  Urussbieh  zu  gelangen  und  dann  mit  den  ersten  schönen 
Tagen  Elbruss  in  Angriff  zu   nehmen. 

In  Besingi,  wo  wir  vor  Mittag  eintrafen,  wurden  sofort  alle  Anord- 
nungen behufs  Weiterreise  getroften,  bei  welchen  uns  Hamsat  nach  Kräften 
unterstützte.  Im  dumpf  feuchten  Gastquartiere  wurde  wieder  ein  grosses 
Schafdiner  serviert.  Peter  aber  lag  krank  und  bekam  eine  Do.sis  von 
lo  Gramm  Chinin.  Es  schien,  dass  ihm  die  Diät  der  ersten  Wochen  auf 
der  Reise  besser  bekommen  war,   als   die   Schafgelage   der  letzten  Tage. 

Wir  nahmen  Abschied  von  unserm  Gastgeber,  dem  Fürsten  von 
Besingi.  Der  schweigsame  Riese  drückte  mir  die  Hand  und  sprach  dazu 
einige    mir   unverständliche   Worte,   jede    seiner   Bewegungen    voller    Würde. 

—     90    — 


Der  Fürst  von  Hesix(;i. 

Geschenke,  die  ich  ihm  zurückliess  —  ein  Messer,  eine  Geldbörse,  einen 
Kompass  —  um  die  Richtung  Mekkas  zu  bestimmen  — ,  Taschenspiegel 
für  die  Frauen,  die  so  schön  ihres  Amtes  in  Küche  und  im  Eiramkeller 
gewaltet  hatten  —  schienen  ihm  Freude  zu  bereiten,  und  das  sonst  so  traurig- 
melancholische Antlitz  erhellte  sich   für  einige  Augenblicke. 

Es  war  trotz  allen  Drängens  doch  3  Uhr  geworden,  bis  wir  auf- 
brechen konnten.  Die  ganze  Bevölkerung  Tubeneis  war  auf  den  Dächern 
versammelt,  schaute  unserm  Exodus  zu  und  begrüsste  Hamsat  Urussbiew. 
Ein  Trupp  Reiter  auf  flinkrn,  kleinen  Rossen  gab  uns  eine  Strecke  weit 
das  Geleit. 


Kaukasische  Trinkge fasse. 


Mittleres  Bakssan-Tal. 


VII.   KAPITEL. 


Von  Besingi   nach   Tschegem  und  zu  den  Quellen 

des  Bakssan. 


—  Comest  tliou 
To  See  Strange   forcsts  aml  new  snows 
Aiul   troail  ujiliftea   lan.i:- 

EmtTSon. 


Der  Weg,  welcher  von  Besingi  über  den  die  Täler  des 
Urwan  und  des  Tschegem  scheidenden  Bergrücken  führt ,  zieht 
fast  an  der  Grenze  der  Glimmerschiefer  und  juras.sischer  Gesteine, 
immer  ansteigend,  in  die  Hühe.  Der  Ueberblick,  den  man  über 
das  Gebiet  von  Besingi  gewinnt,  wird  immer  freier.  Man  sieht, 
wie  das  nunmehr  schon  tief  zu  unsern  Füssen  liegende  Tal  unterhalb 
Aul      Tubenel       schluchtiee      En^ren      bildet      und      der     Bach      in      einer 


92 


All,  'rs(iii:(;i;M   r\u  Dil',  Sem. i  cht  des  ]JsrHii.Ki-Ssu. 


schiesst  plötzlich  v\n  hoher  l'ii-nyiplc'l  aus  den  Wolken;  es  muss  Koschtan-Tau 
gewesen  sein.  Doch  nur  für  Augenblicke;  denn  immer  tiefer  senk<Mi  sich 
die  Wolken,  immer  schwärzer  wird  der  Himmel.  Ileulentl  streicht  der  Wind 
über  die  weiten  Hochflächen,  welche  wir  nach  scharfem  Anstiege  erreichten, 
und  ijeitscht  den  strömenden  Regen.  Die  breite;  uml  begraste  Sattelhöhe 
liegt  im   Tonschiefer,    2473    m   hoch. 

In  grosser  Steile    zieht    jenseits    der   Pfad    in    die    Tiefe.      Dort  wird 
später,  nachdem  der  Regen  aufgehört  hat  und  Wolken  und  Nebel  sich  lichten, 
die    Flucht    des  Tales    und    unter   hohen,    nackten    Felswänden    die    liütten- 
gruppe  des  Aul  Tsche- 
gem  sichtbar,  • —  an  die- 
sem stürmischen  Abend 
ein   düsterer  Anblick. 

In  finsterer  Nacht 
—  es  ist  halb  neun 
Uhr  —  kommen  wir  in 
Tschegem  an.  Gastlicher 
Empfang  wartet  unser 
beim  Fürsten  von  Tsche- 
gem.  Bald  erwärmt   der 

vom  Samowar  ge- 
schänkte  Tee  die  von 
Kälte  und  Nässe  er- 
starrten Glieder.  In 
dem  uns  eingeräumten 
Zimmer  wird  für  mich  in 
einem  grossen,  breiten 
Bettgestelle  das  Lager 
bereitet.  Die  Betten 
tragen  zwar  unzweifel- 
hafte Spuren  öfteren 
Gebrauchs,  aber  es  wäre 
eine  zu  grosse  Krän- 
kung für  unsern  Gast- 
geber gewesen,  sie  nicht 
zu  benutzen.  Mit  meiner 
Plaiddecke  gelang  es, 
zwischen   mir    und   dem  Aul  Tschegem. 


93 


FkKMi)AK'n(;K  Laxdsciiakt  um  Tsciiegem. 

Bettzeug  eine  Isolierschicht  herzustellen;  mit  welchem  Erfolge,  sollte  die 
Zukunft  lehren. 

9.  August.  Gegen  morgen  hatte  der  die  ganze  Nacht  anhaltende, 
strömende  Regen  zwar  aufgehört,  aber  graue  Nebel  und  drohende  Wolken 
hingen  über  den  Bergen.  Erst  gegen  Mittag  besserte  sich  das  Wetter,  und 
die  Sonne  durchbrach  auf  kurze  Zeit  die  NebeUvolken,  zu  spät  jedoch,  um 
noch  heute  die  Reise  fortzusetzen.  Um  einen  Ueberblick  über  die  Talland- 
schaft zu  gewinnen,  überschritt  ich  die  Brücke  über  den  Tschegem-Bach  und 
stieg  an  den  jenseitigen  Bergwänden  empor.  Das  Talgehänge  um  Tschegem 
ist  waldlos ;  die  im  Südwesten  liegenden  Lehnen  begrünt.  Die  kahlen  Berg- 
wände im  We.sten,  uns  gegenüber,  bestehen  aus  lebhaft,  bald  rötlich,  bald 
gelblich  gefärbtem  Kalkgestein,  welches  pittoreske  Formen  geschaffen  hat, 
und  mächtige  Steilmauern,  von  Schichtbändern  durchzogen,  erheben  sich 
fast  senkrecht  in  die  Höhe.  Dort,  wo  sie  sich  spalten,  schliessen  sie  eine 
enge,  finstere  Schlucht  ein,  welcher  die  Wasser  des  Dschilkisu  entströmen, 
die  dem  nahen  Tschegembache  zueilen.  Am  Ausgange  der  Schlucht,  unter 
den  hohen  Felswänden  derselben,  gruppieren  sich  im  ansteigenden  Tal- 
grunde die  Steinhütten  des  Aul  Tschegem.  Im  südlichen  Talschlusse  wird 
durch  Wolkenrisse  schneebedecktes  Gebirge  sichtbar.  Es  ist  ein  eigenartiges 
Bild,  das  diese  Tallandschaft  bietet,  und  das  Fremdartige  desselben  wird 
durch  die  kaukasische  Architektur  dieser  Steinhütten,  durch  einige  alte,  halb- 
zerfallene, viereckige  Wachttürme  und  durch  das  Minaret  einer  aus  Holz  er- 
bauten Moschee  erhöht.  Gewiss,  schön  im  alpinen  Sinne  könnte  ich  die 
Lage  Tschegems  nicht  nennen.  Man  möge  sich  kein  kaukasisches  Zermatt 
oder  Grindelwald  oder  Heiligenblut  vorstellen.  Den  höchstgelegenen  Dörfern 
in  den  nördlichen  Ouertälern  des  zentralen  Kaukasus  fehlt  zumeist  der  offene 
Blick  auf  ihren  schneeigen  Hintergrund,  von  dem  sie  noch  in  zu  grosser 
Entfernung  liegen ;  sie  sind  vegetationsärmer,  viel  rauher  als  die 
trotz  ihres  eisigen  Talschlusses  liebliche  Züge  aufweisenden  Punkte 
der  Alpentäler  am  Fusse  ihrer  Hochgipfel.  Nur  das  Hochgebirge 
des  Dauphine  kann  vielleicht  in  seinen  oberen  Tallandschaften  mit 
diesen  kaukasischen  Tälern  ähnliche  Züge  aufweisen.  Aber  höchst  inter- 
essant ist  doch  der  Anblick,  den  Tschegem  in  seiner  rauhen,  ernsten 
Grösse  bietet. 

Beim  Fürsten  von  Tschegem  war  es  damals  gut  sein.  Als  ich  von  meinem 
Ausfluge  zurückkehrte,  wurde  ein  grosses  Diner  aufgetragen  und  dazu  ein  im 
Dorfe  gebrautes,  dunkles,  bierähnliches  Getränk  gereicht.  Es  schmeckte, 
wie     das     uns     in     Dio-orien     vorgesetzte,     süsslich,      und     es     gehört     viel 


Heim  Fürsten  von  Tschegkm. 


Einbildungskraft  dazu,  dasseH)c  als  Hier  zu  bezeichnen.  Abentls  wurtle 
Tee  serviert,  und  hier  sahen  wir  auch  zum  erstenmale  die  junge;!!, 
hübschen  Damen  des  Hauses  in  ihrer  Nationaltracht.  Sie  besteht 
aus  einem  an  der  Brust  mit  silbernen  Borten  verschnürten  Kleide 
mit  grossen  silbernen  Knöpfen,  faltenreichem  Rock  und  weiten, 
über  die  Hände  herabreichenden  Aermeln.  Die  beiden  Damen 
trugen  prächtige  Gürtel,  von  welchen  der  eine  mit  filigranartig 
gearbeiteten  Verzierungen,  der  andere  mit  roten  Steinen  besetzt  war. 
Das  interessanteste  war  die  Kopfbedeckung,  hohe,  runde,  steife 
Mützen,  welche  gleichfalls  breite  Silberbänder  und  Knüpfe  zeigten. 
Sowohl  in  Tschegem  als  auch  später  in  Urussbieh  fielen 
die  entschieden  hübsch  zu 
nennenden,  scharf  geschnitte- 
nen Gesichtszüge,  der  reine 
rosige  Teint  der  zu  den  fürst- 
lichen Familien  gehörenden 
Frauen  auf,  im  Gegensatze 
zu  den  andern  Tatarinnen, 
die  wir  aul  unserer  Reise, 
zumeist  mit  schwerer  Arbeit 
beschäftigt,  zu  sehen  Gelegen- 
heit hatten.  —  Während  die 
Männer  in  den  Dörfern  den 
ganzen  Tag  unter  endlosen, 
nie  versagenden  Gesprächen 
mit  Nichtstun  verbringen, 
sieht  man  die  Frauen  nicht 
nur  im  Hause,  sondern 
auch  am  Felde  nahezu 
alle      Arbeit     —     auch      die 

schwerste  —  verrichten. 
Es  sind  zumeist  schreck- 
liche Gestalten,  die  früh 
altern ,  und  es  muss  wunder 
nehmen,  dass  sie  Mütter 
eines  kräftigen  Geschlechts, 
wie     die     Berg-Tataren,     sein 

können.  Prinzessinnen  in  Tschegem. 


Das    MlTTKI.CKllIRGK    ZWISCIIKX    TSCIIECEM    UND    HaKSSAN. 

Am  lo.  Auoiist  wurde  die  letzte  Etappe  der  Route  in  x\ngrifT 
genommen,  welche,  aus  dem  Ardontale  die  aufeinander  folgende  Reihe  der 
Ouertäler  kreuzend,  nach  dem  am  Fusse  des  Elbruss  entspringenden 
l^akssantale  führte.  Leider  mussten  wir  am  Morgen,  der  leidHch  schön  war, 
bis  um  lo  Uhr  warten,  bis  die  bestellten  Pferde  eintrafen.  Selbst  bei  der 
durch  die  Begleitung  Hamsat  Urussbiews  uns  im  grössten  Masse  zuteil 
gewordenen  gastfreundlichen  Aufnahme,  und  trotz  dessen  Fürsorge,  war  es 
ganz  unmöglich,  den  Bergbewohnern  die  Notwendigkeit  eines  frühen 
Aufbruches  oder  überhaupt  den  Begriff  des  Wertes  der  Zeit  beizu- 
bringen. 

Wir  zogen  stromabwärts  durch  ein  Defile  des  Tschegem,  weniger 
grossartig  und  wild  als  die  Schlucht  des  Tscherek,  aber  schöner  in  den 
r'ormationen  der  Fel-swände  und  farbenreicher  im  Gestein.  Eine  Brücke 
führt  an  die  rechte  Talseite  und  talauswärts,  wir  bleiben  jedoch  noch  eine 
Weile  am  linken  Talgehänge  und  wenden  uns  dann  nordwestlich  in  eine 
kahle,  öde  Steinschlucht.  Der  ganze  Weg,  welchen  wir  durch  viele  Stunden 
verfolgten,  geleitet  durch  ein  orographisch  merkwürdiges  Terrain.  Dasselbe 
trägt  den  Charakter  des  Mittelgebirges.  Auf  steinige  Schluchten,  durch 
welche  Bergwässer  strömen,  folgen  wellige,  begraste  Hochflächen,  dann 
wieder  Scheiderücken,  welche  zu  übersteigen  sind.  Bald  werden  die  For- 
mationen des  Jurakalks  durchquert,  bald  tritt  man  wieder  in  die  Schiefer- 
zone. Man  trifft  auf  höchst  pittoreske  Felspartien.  Zwischen  senkrechten 
Felswänden  öffnet  sich  torähnlich  ein  Durchgang.  Dann  kommt  man  wieder 
auf  eine  begraste  Hochfläche,  auf  welcher  zahlreiche  Herden  weiden.  Sonst 
ist  es  still  und   einsam   auf  diesen   Höhen. 

Im  Gestendi-Tal,  unter  einer  Felsbalm,  lagen  zwei  verlassene  Hütten, 
wo  wir  am  Nachmittag  unser  Lager  aufschlugen.  Der  Regen,  welcher  mit 
wenigen  Unterbrechungen  tagsüber  fiel,  hatte  aufgehört.  \'om  forellenreichen 
Bache  hat  Fürst  Hamsat  schöne  Beute  heimgebracht.  Auch  ein  Schaf  wird 
geschlachtet,   und   es  gibt   im   Lager  viel  Arbeit   mit  Kochen   und   Essen. 

1 1 .  August.  Um  8  Uhr  sind  wir  marschbereit.  Ein  Querriegel 
trennt  uns  noch  vom  Bakssan.  Von  der  Höhe  blickt  man  in  sein  weites, 
ödes  Hochtal.  Keine  Hütte,  kein  Baum,  nur  wenig  Grün  im  Talgrunde  und 
am  Fusse  der  Talwände  ist  sichtbar.  Am  linken  Ufer  des  in  scharfer 
Biegung  niederziehenden  .Stromes  erheben  sich  steil  ansteigende  Terrassen. 
Die  Landschaft,  verschieden  von  den  Talbildern  der  Alpen,  erinnert,  wenn 
sie  auch  bedeutend  kleineren  Massstabes  ist,  mehr  an  die  Täler  des  nord- 
westlichen Himalaja.     Ein  grosser  Adler  zog  ruhig  seine  Kreise  im  einsamen 


Das  Hakssantai,. 

Bergtale  uikI  Hess  sich  auf  einem  I'^lshlock  nieder.  Ein  wohloezielter  Schiiss 
Burgeners   holte   ihn  herunter. 

Der  folgende  Talabschnitt  ist  von  aufstrebendem  Walde  bedeckt,  in 
Seitenschluchten  erscheinen  Firngipfel,  und  auch  im  Vorblicke  wird  schnee- 
bedecktes Gebirge  sichtbar.  Das  Tal  weitet  sich  und  nimmt  wieder  den 
Charakter  grosser  Einförmigkeit  und  wilder  Oede  an.  Durch  die  Regengüsse 
der  letzten  Wochen  war  der  Bakssan  mächtig  angeschwollen,  überstieg  seine 
Ufer,  überflutete  die  ganze  Breite  der  Talsohle  und  hatte  arge  Verwüstungen 
angerichtet.  In  mehrere  Arme  geteilt,  schiesst  das  wilde  Wasser  über  den 
mit  Steintrümmern  und  gebrochenen  Baumstämmen  bedeckten  Talgrund. 
An  manchen  Stellen  ragen  die  Spitzen  hohen  Gestrüpps  aus  dem  Wasser. 
Weit  hinauf  blickt  man  durch  das  stufenförmig  ansteigende  Tal.  Nebel, 
die  dem  ausgegossenen  Wasser  entsteigen,  haben  sich  ringförmig  in  der 
Mitte  desselben  gelagert.  Oben  aber  erglänzen,  in  weichen  Earbenschmelz 
der  feuchten  Atmosphäre  getaucht,  im  Abendlichte  rötlich  schimmernd,  die 
Schneelager  des   den  Talschluss   bildenden   Dongusorun- Gebirges. 

Aus  der  Talsohle  verdrängt,  windet  sich  der  Pfad  an  den  Wänden 
bergauf,  bergab.  An  der  linken  Talseite  erblickt  man  das  Dorf  Urussbieh, 
die  bedeutendste  und  letzte  Ortschaft  im  Bakssantale;  kaum  dass  die  Hütten 
vom  Grau  des  Felsgehänges  zu  unterscheiden  sind,  an  welches  sie  sich 
lehnen.  Der  Aul  Urussbieh  liegt  in  einer  Höhe  von  1500  m  in  einer  Ein- 
buchtung der  Tahvände,  welche  \on  den  aus  Norden  und  Nordwesten 
kommenden  Bächen  des  Kyrtyk-Ssu  und  S\'ltran-Ssu  umschlossen  wird.  Im 
breiten  Talgrunde,  über  die  teils  mit  Geröll,  teils  mit  Gras  und  niedrigen 
Sträuchern  bedeckten  Flächen,  schiessen  die  stürmischen  Gewässer  des 
Bakssan  dahin.  Sorgsam  gepflegte  Kulturen  und  Heuschläge  werden  von 
aus  Steinblöcken  aufgeschichteten  Mauern  umgrenzt.  Spärlicher  Wald  bedeckt 
in  dieser  Talstufe  den  Fuss  der  Talwände,  über  welchen  sich  die  aus  hoch- 
kristallinischen Gesteinen,  Gneisen  und  Gneisgraniten  erbauten  Kammzüg-e 
erheben.  Im  Südosten,  Urussbieh  gegenüber,  öftnet  sich  zwischen  einer  in 
der  Höhe  gezackten  und  schneebedeckten  Felskette  das  Seitental  des 
Adyr-Ssu,  in  dessen  Hintergrund  der  mächtige  Firngipfel  des  Adyrssu-Basch 
(4370  m)  sichtbar  ist.  Der  aus  dem  schluchtig  in  die  Bergwand  sich 
einschneidenden  Tale  hervorbrechende  Adyrssu  fliesst  dem  Bakssan  zu. 
Talaufwärts  schliesst  die  Landschaft  die  als  Wahrzeichen  Urussljiehs  sich 
geltend    machende,    breite,    firnbedeckte   Masse    des    Dongusorun   (446S  ni). 

Eine  gute  Brücke  führt  über  den  reissenden  Bak.ssan  zum  Aul.  Auf 
einem    kleinen,    freien    Platze    erwarteten    uns   die    Mitglieder   der  iürstlichen 

Dechy;  Kaukasus.  J 

—    97    — 


KXJAS    ISMAEL    UKUSS1;1I;\V    IMi    SKINK    I''a.MILIE. 

I'^amilic  von  Urussbieh.  Es  war  ein  wariiirr  Willkomm^russ,  den  mir  damals 
ihr  Chef,  Ismael  Urussbiew,  bot.  Wir  wurtlen  in  das  für  Gäste  bestimmte 
Haus  geleitet,  ein  Holzbau  nach  russischer  Art,  mit  gedieltem  Boden, 
Fenstern  und  Türen,  welches  sich  im  Gehöfte  des  Fürsten,  gegenüber 
seinem  eigenen,  landesüblichen  Steinhause  befindet.  Bald  kam  auch  der 
russische  Samowar,  der  überall  in  diese  Hochtäler  gedrungen  ist,  und  dann 
ein  reichliches  Nachtessen.  Von  der  zahlreichen  Familie  meines  Gastgebers 
waren  damals  in  Urussbieh  nur  sein  Sohn  Naurus,  ein  i  8  jähriger  junger  Mann, 

seine    Brüder 
Hamsat,    unser 

Reisegefährte, 
Mohammed,  ein 
Mann  von  Rie- 
sengestalt und 
grosser  Körper- 
kraft,    und   df 


Bakssan-Tal  bei   Urussbieh,   mit  Dongusorun   im   Hintergrunde. 


jüngste,  der  Starschina  von  Urussbieh,  anwesend.  Die  weiblichen  Mit- 
glieder hatte  ich  damals,  nach  mohammedanischer  Sitte,  keine  Gelegen- 
heit zu  erblicken,  obgleich  ich  später  die  jüngeren  Damen  nicht  nur 
sehen,  sondern  auch  photographiercn  konnte.  Ich  glaube  übrigens, 
dass  eben  das  letztere  eine  Handhabe  zur  l'mgehung  der  Gebote 
gab.  Aber  schon  bei  meinem  ersten  Aufenthalte  in  Urussbieh  hatte  ich 
Gefühle  grössten  Dankes  für  die  F"rauen  des  Hauses  gehegt,  weil  ich  doch 
ihnen  zu  verdanken  hatte,  dass  in  unsern  Menüs  einige  Abwechslung 
eintrat  und  wir  nicht  nur  gekochtes  oder  am  Spie.ss  gebratenes  Schaffleisch, 
mit  oder  ohne  .Schafbrühe,  welches  wochenlang  ausser  den  Konserven  unsere 
einzige  Nahrung  bildete,  vorgesetzt  erhielten.  Die  Unterkunft  im  Holzbau 
des  Fürsten    war  ijfleichfalls   die  beste   im   Kaukasus.      Es   gab  drei   Zimmer, 


PpaNZESsiN  Urussbiew  [  Bergtatarin) 


FKiERLiciiER  Empfang  in  Ukussiueii. 

und  vor  dem  mittleren,  kleinsten,  welches  als  Speisesaal  und  Empfangssalon 
diente,  lag  eine  offene  \'orhalle.  Im  links  anstossenden  grössten  Zimmer 
wurde  für  uns  das  Nachtlager,  nach  der  Sitte  des  Landes,  am  Boden  her- 
gerichtet ;  grosse  Ochsenhäute  wurden  ausgebreitet  und  auf  dieselben  dann 
Bettzeug,  Decken,  Kissen,  runde  Schlummerrollen  gelegt.  Das  rechts  liegende 
Zimmer  schien  der  Gastraum  für  einheimische  Gäste  zu  sein.  Im  ersten 
Zimmer  befand  sich  eine  Bank,  ein  hoher,  viereckiger  Tisch  und  zwei  bis 
drei  Stühle.  Weiter  gab  es  Teller,  Gläser  und  Essbestecke,  alles  Dinge, 
die  man  im  kaukasischen  Hochgebirge  als  ungekannten  Luxus  betrachten 
muss.  Allerdings  legte  uns  trotzdem  der  Hausherr  auch  jetzt  das  P'leisch 
mit  den  Fingern  vor,  und  es  schien  als  Auszeichnung  zu  gelten,  wenn  der 
Vornehmste  unter  den  Gästen  auf  diese  Weise  den  mit  .Sachverständnis 
ausgewählten  besten  Bissen  erhielt.  Aber  wenn  man  bedenkt,  dass  nach 
mohammedanischer  Sitte,  sowohl  vor  als  nach  dem  Essen,  Waschwasser  für 
die  Hände  herumgereicht  wird,  so  dürfte  dies  nicht  so  schrecklich  erscheinen; 
dass  ich  es  nicht  so  fand,  ist  allerdings  natürlich:  mein  Gefühl  war  für 
solche  Kleinigkeiten  schon  längst  abgestumpft.  Der  freundliche  Empfang, 
den  ich  in  Begleitung  von  Hamsat  Urussbiew  in  allen  mohammedanischen 
Dörfern  gefunden  hatte,  wurde  mir  nun  selbstverständlich  in  seinem  Heimats- 
orte in  noch  erhöhtem  Masse  zuteil,  und  wir  blieben  bis  spät  in  die  Xacht 
beisammen.*) 

Die  Hauptquellen  des  Bakssan-F"lusses  entspringen  den  Gletschern  am 
P"u.sse  des  Elbruss;  an  diese  zu  gelangen  und  ciie  Ersteigung  des  höchsten 
Gipfels  des  Kaukasus  auszuführen,  war  ein  Hauptziel  meiner  Reise.  Ich 
hatte  dies  sofort  bei  meiner  Ankunft  Ismael  iTussbiew  mitgeteilt  und 
zugleich  die  Absicht  ausgesprochen,  am  folgenden  Morgen  aufzubrechen, 
auch  gebeten,   die  nötigen  Lastpferde,   Träger   und  l>rot  zu  besorgen.     Ismael 


*)  Die  Herzlichkeit  dieses  Empfanges  wurde  noch  gesteigert,  als  Ismael  Urussbiew  erfuhr, 
dass  ich  Ungar  sei.  Er  erzählte  mir,  der  erste  im  Kaukasus,  von  der  Tradition  einer  Stammes- 
vervvandtschaft  mit  den  »Madscharen«.  Aber  auf  meinen  Wanderungen  im  Laufe  wiederholter 
Reisen  durch  die  entlegensten  Täler  dieses  Gebirgslandes,  vom  Westen  bis  nach  Osten,  hatte  nur 
noch  der  Kabardinerfürst  Ataschukin  von  einer  gleichen  Ueberlieferung  Kenntnis.  Weder  in  Digorien, 
noch  im  Karatschaizengau,  noch  im  Daghestan  war  etwas  von  solchen  Ueberlieferungen  zu  erfahren. 
Die  Mitteilungen  der  Fürsten  Urussbiew  und  Ataschukin  beruhen  jedoch,  wie  meine  Nachforschungen 
ergaben,  nicht  auf  Ueberlieferungen,  die  auf  längstvergangene  Zeiten  zurückreichen,  sondern  wurden 
von  aussen  hineingetragen.  An  der  im  Jahre  1823  unternommenen,  politisch -wissenschaftlichen 
Expedition  des  Generals  Emmanuel  in  das  Malkatal  nahm  auch  der  zufällig  auf  einer  Reise  durch 
Kaukasien  begriffene  ungarische  Reisende  Johann  von  Besze  teil.  Besze,  der  aufgebrochen  war,  um 
die  Stammesgenossen  der  Magyaren  in  Kaukasien  zu  suchen  und  von  dieser  Stammesverwandtschaft 
als  einer  bestehenden  Tatsache  fest  durchdrungen  war,  hatte  damals  Gelegenheit,  die  vom  General 
Emmanuel    in   sein   Lager   am   Malkaflusse   geladenen    Häuptlinge    der  in  der  Umgegend  sesshaften 

7» 
—     99     - 


ÜKR  J?i:(;kii'I'   im'.s  \Vi;r'ii:s  ukr  Zkit  fi;iii,t  dkn  Kaukasii-.kx. 

hatte   zugesagt,   alle   nütigen  Vorkehrungen   zu   trellen,   und  den  \\  unsch   aus- 
gedrückt,  micli   zu   begleiten. 

Ein  wolkenloser  Himmel  spannte  sich  am  12.  August  über 
das  Bakssantal,  und  man  konnte  an  dem  geschäftigen  Hin-  und  Her- 
cilen  der  Leute  bemerken,  dass  grosse  Vorbereitungen  für  unsern  Auf- 
bruch getroffen  wurden.  Meine  Führer  und  ich  waren  rasch  gerüstet. 
Es  erübrigte  nur  noch  das  für  mehrere  Tage  nötige  Brot,  und  wir  warteten 
auf  die  Pferde  und  Träger,  um  unsere  fertig  gepackte  Lagerrüstung  aufzu- 
laden. Allein  die  Zeit  verstrich,  ohne  dass  weder  das  Brot  noch  Pferde 
und  Präger  zum  Vorschein  kamen.  Nutzlos  blieb  wiederholtes  Fragen  und 
Bitten.  Endlich  wurde  uns  mitgeteilt,  dass  es  unmöglich  gewesen  sei,  die 
V^orbereitungen  heute  zu  beenden,  dass  aber  bis  morgen  alles,  Proviant, 
Pferde,  Träger,  bereit  sein  werde  und  wir  am  allerfrühesten  Morgen  auf- 
brechen würden.  Diese  Verzögerungen,  die  jeder  vorwärtsstrebende  Reisende 
nur  schwer  ertragen  wird,  sind  für  den  Bergreisenden,  der  das  so  seltene 
gute  Wetter  während  der  karg  bemessenen  Reisezeit  im  Hochgebirge  aus- 
nutzen muss,  doppelt  peinlich.  Allein  im  Kaukasus  wird  der  Bergreisende 
durch  die  Saumseligkeit  der  Eingeborenen,  durch  die  Unmöglichkeit,  den- 
selben Begriffe  über  den  Wert  der  Zeit  beizubringen,  oft  gezwungen  sein, 
selbst  bei  schönstem  Wetter  untätig  bleiben  zu  müssen.  Unter  allen  Berg- 
bewohnern, denen  ich  auf  meinen  wiederholten  Reisen  im  Kaukasus  begegnet 
bin,  war  Ismael  Urussbiew  vielleicht  der  einzige,  der  Sinn  für  unsere  Reise- 
zwecke und  Verständnis  für  unsere  Bedürfnisse  hatte,  und  doch  schien  auch 
er,  nicht  nur  diesmal,  sondern  auch  in  der  Folge,  unser  Vorwärtsdrängen 
nicht  recht  begreifen  zu  können.  Allerdings  war  auch  Ismael  von  seinen 
Stammesgenossen,  von  deren  Indolenz  und  Trägheit  in  der  Beistellung  von 
Pferden   und   Trägern    abhängig,    und    die   Hilfsquellen   dieser  Hochtäler  sind 


Bergbewohner  zu  sehen.  Unter  diesen  waren  auch  die  Vertreter  der  hervorragenden  Fürsten- 
geschlechter Urussbiew  und  Ataschukin,  die  Grossväter  oder  Väter  der  jetzt  lebenden  Fürsten,  und 
es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  das,  was  Besze  ihnen  vom  üonaureiche  ihrer  Stammes- 
genossen, der  Magyaren,  erzählte,  noch  lange  der  Gesprächsstoff  im  Familienkreise  gewesen  sein 
muss.  So  kommt  es,  dass  nur  die  Söhne  von  Fürsten,  die  im  Lager  des  Generals  Emmanuel  im 
Malkatale  mit  dem  ungarischen  Reisenden  Besze  zusammentrafen,  von  einer  solchen  Stammes- 
verwandtschaft mit  den  Magyaren  in  Europa  wissen,  sonst  aber  niemand  in  Kaukasien.  Obwohl 
Zwecke  und  Ziele  meiner  Reisen  im  Kaukasus  in  anderer  Richtung  lagen,  habe  ich  selbstverständlich 
diesem  Gegenstande  meine  volle  Aufmerksamkeit  geschenkt,  und  auch  meine  Reisegefährten  auf 
späteren  Reisen,  die  Ungarn  waren,  haben  demselben  mehr  oder  weniger  Interesse  entgegen- 
gebracht, es  würde  jedoch  ernster  Forschung  widersprechen,  wollte  man  das  Bestehen  von  Ueber- 
lieferungen  unter  den  Bergvölkern  Kaukasiens  annehmen,  welche  eine  Stammesverwandtschaft 
zwischen  den  Ahnen  der  jetzt  dort  lebenden  Bergbewohner  und  den  Vorfahren  der  heutigen  Ungarn 
zum  Gegenstande  haben  und  denen  auch  nur  die  geringste  Beweiskraft  beizumessen  wäre. 

—       100     — 


Der  Kaikasus  is'i   au\i  a\  Wasskrfällkx. 


äusserst  oerinoe,  so  dass  die  VerproviantierunL;-  einer  Karawane  für  einen 
mehrtägigen  Aufenthalt  im  Hochgebirge  oft  die  grössten  Schwierigkeiten 
verursachte.  l{s  war  sehr  schwer,  gegen  diese  Verzügerungen  nn't  lü-folg 
anzukämpfen,  um  so  schwieriger  dort,  wo  man,  wie  in  Urussbich,  in  der 
gastfreundlichsten  Weise  aufgenommen  war,  und  es  blieb  auch  mir  nichts 
anderes   übrig,   als   mich  in  das   Unvermeidliche  zu   fügen. 

Ich  benutzte  den  schönen  Tag  zu  einem  Spaziergange  am  Gehänge 
im  Nordwesten  des  Dorfes.  Längs 
des  hellen  Kyrtyk-Baches,  der 
zwischen  den  Blockhäusern  des  Aul 
abwärts  zum  Bakssan  eilt,  stiegen 
wir  in  die  Hohe.  Vom  Norden, 
aus  engerSchlucht,  strömt  er  Kyrtyk- 
Ssu,  mit  dem  sich  der  aus  einem 
gegen  Westen  emporziehenden 
Seitentälchen  fliessende  Ssyltran- 
Ssu  vereinigt.  Bald  kommen  wir 
zu  einem  Wasserfall,  den  der 
Ssyltran-Bach  bildet.  Aus  einer 
Felswand  strömt  das  Wasser,  teilt 
sich  sofort  beim  Ausflusse  an  einer 
vorliegenden  kelsplatte  in  zwei 
Arme,  die  sich  bald  wieder  ver- 
einigen, und  stürzt  dann  in  gerader 
Linie  etwa  25  m  hoch  in  einen 
Felskessel.  Der  Ssyltranbach  bil- 
det hier  keinen  bedeutenden  ¥a\\, 
und  unbeachtet,  wie  er  vielleicht 
in  den  Alpen  Ijleiben  würde,  sei  er 

hier  nur  erwähnt,  weil  er  einer  der  wenigen  Repräsentanten  dieser  Erscheinung 
im  zentralen  Kaukasus  ist.  Der  Kaukasus  ist  auffallend  arm  an  Wasser- 
fällen. Selbst  kleine  Fälle  sind  höchst  selten,  kein  einziger  Bach  im  Kaukasus 
aber  bildet  einen  entweder  durch  Höhe  oder  durch  Wassermasse  bedeutenden 
Wasserfall.  Ist  das  Gebirge  schon  so  alt,  dass  seine  Wasser  sich  die  Hinder- 
nisse aus  dem  Wege  zu  schaffen  gewusst  haben  und  nicht  mehr  gezwungen  sind, 
über  sie  hinwegstürzend  ihr  Ziel  zu  erreichen.'  Im  Hintergrunde  des  Ssyltran- 
tälchens  liegt  in  der  Höhe  von  3214  m,  am  Fusse  der  Eisfelder,  ein  kleiner,  meist 
zugefrorener  See,  gleichfalls  eine  seltene  Erscheinung  im  seearmen  Kaukasus. 


Wasserfall  des  .Ssyltran-Ssu. 


—      101      — 


Dil':  Bi'.rc-Tatark.x  \()n  URrssiUKii. 


überall    im   Kaukasus,    belagerte    eine    neuL,nerige  Menge    das   Haus,    und   es 


Berg-Tataren  lUrussbier)  in  Urussbieh. 

bewohner     und     die    Verwandten     der    bamilie     Urussbiew     traten     näher, 
reichten   oft  auch  die   Hand. 

»Als  sie  die  Fremdlinge  sahen,  da  kamen  sie  alle  bei  Haufen, 

Reichten  grüssend  die  Hände 

Odyssee  III. 


102     — 


Nach  dkm  oiuckstkn  Bakssantat,. 

Andere  stellten  sich  in  eine  Zimmerecke  und  harrten  in  ruhiger  Andacht, 
alles  l)eobachtend,  lange  aus.  In  Urussbieh  war  die  Neugierde  der  Leute 
nie  zudringlicher  Art,  was  jedenfalls  auf  den  Einfluss  L'russbiews  zurück- 
zuführen ist. 

13.  August.  Es  wurde  10  Uhr  vormittags,  bis  wir  L^russbieh  ver- 
liessen.  Wir  bildeten  eine  imposante  Kavalkade  von  Reitern,  denn  es 
kamen  mit  uns:  Ismael  Urussbiew,  sein  Sohn  Naurus,  seine  Brüder  Hamsat, 
Mohammed  und  der  jüngste,  der  Starschina  von  Urussbieh.  Diesmal  waren 
auch  wir  zu  Pferde,  und  Alexander  Burgeners  nicht  eben  schmächtige  Gestalt 
schwankte  auf  einem  der  kleinsten  Pferde.  Mehrere  Diener  des  Fürsten 
begleiteten  ihn,  teils  zu  Pferde,  teils  zu  Euss,  und  einige  der  besten  Jäger, 
denn  man  plante  grosse  Jagden  in  den  wildreichen  Gründen  am  Elbruss- 
stock. Mehrere  Lastpferde  hatten  ausser  unserer  Ausrüstung  Teppiche, 
Decken,   Proviant  und   Kochgeschirr  aufgeladen. 

Meine  Laune  stimmte  nicht  mit  dem  lärmenden,  fröhlichen  Aufbruche, 
denn  nach  dem  gestrigen  schönen  Tage  hatte  das  Wetter  sich  wieder  ver- 
schlechtert. Schwarze  Wolken  stiegen,  von  Süden  kommend,  auf,  und  statt 
des  frischen  Luftzuges  herrschte  eine  drückende  Schwüle  von  .schlechter 
Vorbedeutung.  Nur  die  schönen  Landschaftsbilder  im  oberen  Bakssan-Tale, 
welche  mit  unserm  V^orrücken  sich  rasch  aneinander  reihten,  erfreuten  Auge 
und   .Sinn   und   verscheuchten   die   trüben  Gedanken. 

Vorerst  trafen  wir,  unsern  Weg  kreuzend,  einen  das  Tal  sperrenden 
Riegel,  eine  Anhäufung  von  riesigen  Blöcken,  welche  durch  einen  Bergsturz 
entstanden  ist.*)  Von  der  Höhe  dieser  Trümmermasse,  die  schon  zum  Teil 
mit  Gestrüpp  bewachsen  ist,  bietet  sich  ein  schöner  Blick  auf  die  lange 
Elucht  des   Bakssantales,   welche   weit,   weit   hinauszieht. 

Aus  einem  linken  Seitentale,  dessen  Hintergrund  der  vom  Elbruss- 
stocke niedersteigende  grosse  Irik-Gletscher  erfüllt,  strömt  der  Irik-Ssu.  Eine 
Gruppe  von  aus  Holzstämmen  erbauten  Sennhütten  hat  sich  hier  angesiedelt. 
Der  Bach  bricht  aus  felsiger  Palumfassung  hervor  und  treibt,  kleine  Schnellen 
bildend,  einige  primitive  Mühlen.  Eine  Brücke  ist  über  das  W'asser  ge- 
worfen; auf  den  mit  hohem  Grase  bestandenen  Wiesen  weidet  Vieh;  Kiefern- 
wälder bekleiden  stellenweise  bis  hoch  hinauf  die  Talwände,  und  alles  ver- 
eint sich,   an  dieser  Stelle   ein   hübsches   Alpenidyll  zu   schaften 

Durch  die  Seitentäler,  welche  sich  auf  das  Bakssantal  öffnen,  dringt 
der  Blick  und  wird  durch  die  darüber  aufragenden,  firnbedeckten  Hoch- 
gipfel gefesselt.      Das    schönste   Bild    bietet   sich    dort,    wo    die   Wasser   des 


*)    Der  Riegel  ist  von  andern  auch   als  eine  alte  Endmoräne  erklärt  worden. 


DiK  Seitkntäi.er  df.s  oüerkx  Bakssantales. 

Adyl-Ssu  hervorbrechen.  Das  Grün  prächtiger  Nadelholzwaltlungen 
reicht  hoch  hinauf  bis  an  das  Weiss  der  Eisströme,  die  sich  in  der  Höhe 
um  schön  geformte  Berggestalten  winden.  Vor  der  schluchtigen  Talöffnung 
des  Adylssu  dehnt  sich  eine  kleine,  mit  Wiese  und  Wald  bedeckte  Ebene 
aus.  Auch  auf  dieser  liegen  zerstreut  einige  aus  Baumstämmen  erbaute 
Sennhütten  und  beleben  die  Szenerie  des  ein.samen  kaukasischen  Hochtales. 
Dann  verengt  sich  das  Tal  und  wird  immer  wilder.  Der  Weg  folgt 
liald   dem   rechten,   bald   dem   linken   ITer  des  Bakssan,    über  den  schwanke 


Der    Asau-Gletscher, 
von  den  Tersskolhängen  gesehen. 


Brücken  führen.  Der  Föhrenwald,  in  dessen  Schatten  wir  vorwärtsstreben, 
wird  immer  dichter,  immer  mächtiger,  bis  man  wieder  in  eine  mattenreiche 
Talstufe  gelangt. 

.Schluchtig  und  waldbestanden  läuft  am  rechten  Bachufer  im  Süden 
das  Seitental  des  )usengi  aus,  und  weiter,  schon  nahe  dem  Ouellgebiete 
des  Bakssan,  mündet  das  breite  Tal  des  Dongusorun.  Grosse  Gletscher 
gleiten  dort  von  den  schneebedeckten  Höhen  ruhig  in  die  Tiefe.  Nun 
steigen  wir  eine  kurze  Strecke  an  steilen  Grashängen  der  rechten  Talseite 
scharf  an,  zum  Teil  Spuren  eines  schmalen  Steges  verfolgend,  meist  jedoch 
pfadlos,   ein   Weg,   den   nur  kaukasische   Bergpferde  überwinden  dürften. 


104     — 


Lacer  1!KIM  Kosrii  As.\u. 

Man  biegt  um  eine  Ecke  und  steht  in  der  Höhe  von  etwa  2100  ni 
am  Rande  eines  kleinen  ebenen  Talbeckens,  welches  von  dichtem  Busch- 
werk und  Wald  bedeckt  ist  und  auf  dessen  Grunde  der  Bach,  in  mehrere; 
Arme  geteilt,  dahinfiiesst.  Zur  Rechten,  im  Hintergrunde  eines  Schlucht- 
tälchens,  wird  unter  wogenden  Nebeln  der  zerklüftete  Abfall  des  Tersskol- 
gletschers  sichtbar,  und  auch  vor  uns  blinken  über  den  Wipfeln  hoher, 
prächtiger  Kieferstämme  die  Eismassen,  welche  sich  an  dem  den  Talschluss 
bildenden  Berggrund  ausbreiten.  Es  ist  der  Asau-Gletscher,  dessen  nördliche 
Zuflüsse  ebenso  wie  der  Tersskol-Gletscher  von  den  grossen  Pirnplateaux 
des  Elbruss-Stockes  niederziehen.  Der  dichte  Nadelwald  bedeckt  nicht  nur 
die  Abhänge  der  Berge,  welche  die  kleine  Talebene  umgeben,  in  welche 
wir  getreten  sind,  sondern  auch  die  Talsohle  ist  zum  Teil  mit  undurch- 
dringlich scheinendem  Gehölze  bestanden,  und  dieser  Anblick,  den  wir  in  den 
Alpen,  wo  der  Wald  längst  aus  dem  Talboden  verschwunden  ist,  nicht  kennen, 
gibt   der  Landschaft  ein   fremdartiges  Gepräge  von   überraschender  Wildheit. 

An  den  Schneefeldern  des  von  Wolken  umhüllten  Dongusorun  er- 
blassten  die  letzten  Strahlen  der  Abendsonne,  als  wir  bei  den  Hütten  des 
Kosch  Asau  ankamen.  Hoch  aufsteigender  Rauch  hatte  uns  schon  früher 
gezeigt,  dass  es  hier  Leute  gäbe,  und  als  wir  uns  einer  kleinen  Waldblösse 
näherten,  kamen  uns  die  Tataren  entgegen  und  begrüssten  die  Ankunft 
ihrer  Herren  mit  sichdicher  breude  und  mit  einer  Herzlichkeit,  die  zugleich 
einer  gewissen  Ehrfurcht  nicht  ermangelte.  Einige  Schritte  von  der 
grösseren  Blockhütte,  unter  dem  vorspringenden,  auf  Holzpfeilern  ruhenden 
Dache  einer  andern,  als  Stall  dienenden,  jetzt  aber  unbezogenen  Hütte, 
schlugen  wir  unser  Zelt  auf.  Ich  hätte  es  entbehren  können,  zog  es  jedoch, 
insbesondere  des  Plattenwechsels  wegen,  vor,  es  aufzustellen.  L'nsere  Begleiter 
warfen  trockenes  Reisig  und  Gras  auf  den  Boden  und  richteten  sich  gleich- 
falls im  Atrium  des  Rinderstalles  neben  meinem  Zelte  ihre  Schlafstellen  so 
becjuem  als  möglich  ein.  hi  der  entgegengesetzten  Ecke  tummelte  sich  der 
Tross  der  Diener,  Träger  und  Pferdetreiber.  Ein  geschäftiges  Leben 
herrschte.  Hamsat  hatte  jetzt  dem  Eamilienchef,  Ismael,  den  Oberbefehl, 
das  W^alten  über  die  Küche,  die  Rolle  des  Hausherrn  abgetreten.  Rasch 
war  das  Schaf  ausgeweidet.  In  einem  mächtigen  Kessel  kochte  und  brodelte 
es.      Am   lodernden   Feuer  wurden   die   Bratspiesse  gedreht  und: 

»Ringsum  krochen   die   Häute,   es   brüllte   das  Fleisch  an  den   Spiessen, 
Rohes  zugleich  und  gebratenes,   und  laut  wie  Rindergebrüll  scholl's, 
Und  sechs  Tage  schwelgten  die  unglückseligen  Freunde.« 

Odyssee  XII. 


Elbruss  vom   Norden. 


VIII.  KAPITEL 


Elbruss,  der  Minghi-Tau  der  Kaukasier. 

Colli    ii|iciu   ihi'  ilc;i.l    \'olc;ino 
Slecps   tiic   ixlcani    of  dring  day. 
Tciiuvson. 

Im  obersten  Hakssantale,  im  Lager  beim  Kosch  Asau,  waren  wir 
Elbruss,  dem  Herrscher  des  Kaukasus  nahegerückt,  der  jedoch  hinter  den 
vorspringenden  Bergwänden  der  Tersskolschlucht  verborgen  bleil)t.  Am 
folgenden  Tage  wollte  ich  in  die  Eirnregion  desselben  dringen,  dort  ein 
hohes  Biwak  bezielien  und  die  Ersteigung  seines  höchsten  Ciipfels  versuchen. 
Des  öfteren  war  ich  hinausgetreten  in  die  finstere  Nacht,  die  leider  kein 
Sternenhimmel  erhellte,  um  nach  dem  Wetter  zu  sehen.  Die  Aussichten 
waren  ungünstige ;  dennoch  gab  ich  die  nötigen  Befehle,  um  bei  gutem 
Wetter  am  Morgen  aufbrechen  zu  können.  Dann  suchte  ich  mein  Lager 
auf.  Ich  gestehe,  dass  ich  eine  gewisse  Aufregung  nicht  unterdrücken 
konnte,  denn  ich  war  mir  bewusst,  dass,  obgleich  nahe  dem  Ziele  meiner 
Wünsche,  vor  dessen  Erreichung  noch  viele  Hindernisse  und  Schwierig- 
keiten zu  überwinden  sein  würden,  Hindernisse  und  Schwierigkeiten,  die 
nicht  allein   im   Bereiche   meines  Wollens   und   Könnens  lasfen. 


Axin.irK   DKs  iM.r.KUss  vom  SCuüstkx. 

In  der  Nacht  regnete  es  und  am  folgenden  Tage  herrschte  rechtes 
Fühnwetter.  Regengüsse  wechselten  mit  Sturm,  und  inzwischen  erschien 
für  einige  Stunden  klarer  Himmel.  Ich  benutzte  die  Pause,  welche  das 
Unwetter  machte,  um  an  den  Talwänden  der  Tersskolschlucht  emporzu- 
steigen. Von  dort  musste  man  Elbruss  erblicken,  den  ich  nicht  wieder 
gesehen  hatte,  seitdem  er  mir,  dem  Kaukasus  entgegenziehend,  zuerst  in 
der  Terek-Talebene  aus  grosser  Ferne  erschienen  war.  Jetzt,  wo  ich  dem 
Beherrscher    des   Kaukasus    so    nahe    gerückt  war,    zog  es    mich    unwider- 


Elbruss 
von    den    Hängen    der   Tersskol-Schlucht. 


Stehlich  in  die  Höhe,  lun  seinen  Anblick  zu  gewinnen.  In  migestümer  Hast 
stieg  ich  aufwärts.  Auf  einer  Bergschulter,  unter  der  breiten  Krone  einer 
mächtigen  Tanne  standen   wir  still. 

Vor  mir  lag  Elbruss.  In  einsamer  Majestät,  massig  und  blendend 
im  gleissenden  Lichte  dieses  gewitterhaften  Tages,  erhob  sich  der  dopjjel- 
gipflige,  in  ewiges  Eis  gehüllte  Vulkan,  danz  erfüllt  sein  Bild  den  Gesichts- 
winkel. Weder  zu  seiner  Rechten,  noch  zu  seiner  Linken,  noch  hinter  ihm 
wagt  sich  eine  andere  Berggestalt  an  ihn  heranzudrängen.  Seine  Konturen 
schneiden  in  das  dunkle  Firmament,  und  hinter  ihm  dehnt  sich  die  leere 
Unendlichkeit  aus.  So  muss  der  Herrscher  thronen!  Vulkaiu'sche  Kräfte 
haben  diese   konischen  Gipfel   gegen  den  Himmel   getürmt.     Schnee   und   Eis 


ToroGKAi'iiisciiKs  uxn  Gkolooisciiks. 

bedecken  jetzt  die  erkaltete  Materie,  nur  selten  durclibrochen  vom  dunkeln 
Andesitoestein.  Die  erloschenen  Vulkane  ruhen  auf  einem  geneigten  Plateau, 
welches  die  Eruptionen  der  Krater  in  der  Periode  ihrer  Tätigkeit  auf  dem 
granitischen  Fundamente  gebildet  hatten. 

Das  Massiv  des  Klbruss  liegt  in  einem  vom  wasserscheidenden 
Hauptkanime  gegen  Norden  vorspringenden  Zuge.  \^on  den  beiden  Haupt- 
gipfeln erreicht  der  nordwesdiche  die  Höhe  von  5629  m,  und  von  diesem 
durch  einen  etwa  330  m  eingeschnittenen,  breiten  Sattel  getrennt,  erhebt 
.sich  der  südöstliche  dipfel  zu  5593  m.  Von  den  weiten  Schnee-  und  Plrn- 
feldern  ziehen,  nach  allen  Richtungen  ausstrahlend,  Gletscherströme  in  die 
Talschluchten,  die  an  dem  Gebirgsmassiv  ihren  Ursprung  nehmen.  Die 
Bäche,  welche  an  der  osdichen  und  südlichen  Abdachung  niederrauschen, 
fliessen  in  den  Bakssan,  an  der  westlichen  Seite  strömen  die  Wasser  dem 
Kuban  und  im  Norden  der  Malka  zu.  Im  Süden  schliesst  sich  das 
krystallinische  Urgebirge  des  Elbruss  mit  einem  aus  Gneisen  und  Graniten 
bestehenden  Verbindungszug  an   die   kaukasische  Hauptkette  an. 

Die  breite,  mächtige  Masse  des  Berges,  welche  die  kegelförmigen 
Gipfel  krönen,  zeigt  keine  den  Beschauer  im  ersten  Augenblicke  gefangen 
nehmende  Form,  je  höher  man  jedoch  an  den  ihm  gegenüberliegenden 
Talwänden  und  auf  die  schneebedeckten  Höhen  im  weiten  Umkreise  seines 
Gebietes  emporsteigt,  desto  mehr  entwickeln  sich  die  Grössenverhältnisse 
des  Berges,  desto  höher  wachsen  seine  Gipfel;  dann  sinken  alle  andren 
Berge  in  die  Tiefe  und,  alle  beherrschend,  schwingt  sich  Elbruss  —  der 
Minghi-Tau  der  Kaukasier  —  der  Kulminationspunkt  des  Kaukasus 
majestätisch   in   den   Himmel   empor. 

Der  Name  Elbruss  stammt  aus  dem  Persischen  »al-Burs«.  Bei  den 
am  Fusse  des  Elbruss  lebenden  Völkern,  den  Bakssantataren  und  den  Berg- 
bewohnern des  Karatschai,  wird  der  höchste  Gipfel  des  Kaukasus  Minghi- 
Tau  (in  der  Sprache  der  Bergbewohner  =  weisser  Berg,  also  ein  kauka- 
sischer Mont-Blanc)  genannt,  eine  Bezeichnung,  welche  nicht  in  Vergessen- 
heit geraten,  ja,  welche  vielleicht  durch  keine  andere  verdrängt  werden 
sollte.*) 

Der  Elbruss  war  den  Völkern  schon  von  alten  Zeiten  her  bekannt; 
er  ealt  ihnen    für    heilig   und   —   unersteiglich.      Nach    der    örtlichen   Ueber- 


*)  Auch  für  den  als  höchsten  gemessenen  Berg  des  Himalaya  sollte  der  Name  der  Ein- 
geborenen, indisch  (nepalesisch):  Gaurisankar,  tibetisch:  Tschomokankar,  beibehalten  werden. 
(Siehe:  »Dechy,  Gebirgsreise  im  Sikkim- Himalaya--  in  Peterm.  Geogr.  Mitt.  Bd.  1880,  S.  459, 
und  Dechy,  Mountain  Travel  in   the  Sikkim   Himalaya«.   in  Alpine  Journal   \'ol.  Vlll.) 


I^KSTKK    VKKSLril    ZL'R    ERSTEIÜUNC    Dl'.S    El.P.RUSS. 

liefcruriL,''  soll  zwar  die  Arche  Noahs,  bevor  sie  sich  endgültig-  am  Ararat 
festsetzte,  am  l'^lbriiss  hängen  geblieben  sein,  untl  dann  miisste  eigtmdich 
die  Ehre  der  ersten  Ersteigung  der  Mannschaft  der  Arche,  beziehungsweise 
der  Familie  Noah  zugestanden  werden.  Da  unsere  Beweise  hierfür  jedoch 
etwas  mangelhafter  Natur  sind,  muss  man  sich  jenen  Ersteigungen  zuwenden, 
die  in  etwas  spateren,  unserer  Beurteilung  näher  liegenden  Zeiten  versucht 
beziehungsweise  ausgeführt  wurden. 

Die  ersten  Nachrichten  eines  Versuches  zur  Ersteigung  des  Elbruss 
stammen  von  einer  im  Jahre  1829  unternommenen  russischen  Militär- 
expedition. Diese  Expedition,  welche  zugleich  einen  wissenschafdichen  und 
politischen  Charakter  trug,  stand  unter  dem  Befehle  des  Generals  Emanuel, 
dem  ein  Stab  von  Petersburger  Gelehrten,  der  Mineraloge  Kupffer,  tler 
Botaniker  Meyer,  der  Physiker  Lenz,  der  Zoologe  Menetries  und  der 
Architekt  Bernardazzi  zugeteilt  waren.  Mit  kleinen  Berggeschützen  und 
Kosaken  marschierte  die  Exijedition  in  das  am  nördlichen  Abhänge  des 
Elbruss  liegende  Malkatal,  wo  in  der  Höhe  von  etwa  2400  m  ein  Lager 
bezogen  wurde.  Wir  folgen  nun  der  Geschichte  der  Expedition,  wie  sie 
in    der  Schrift   des   Chefs   der   Gelehrten,    Adolf  Kupffer,    niedergelegt   ist.^'^) 

Der  General  blieb  selbst  im  Lager  und  versprach  den  Circassiern 
(nach  der  Bezeichnung  Ku|)ffers,  wahrscheinlich  Karatschaier  Bergtataren), 
welche  die  Gelehrten  begleiten  sollten,  hohe  Geldpreise  für  die  Erreichung 
des  Gipfels.  Am  21.  Juli  1S29,  morgens,  brachen  die  Reisenden  auf  und 
erreichten  um  4  Uhr  nachmittags  den  Rand  der  Schneelager  in  einer  flöhe, 
die  mit  nahezu  10  000  Fuss  angenommen  wurde.  Hier  wurde  die  Nacht 
verbracht  und  am  nächsten  Tage  um  3  Uhr  morgens  mit  einigen  Einge- 
borenen und  Kosaken  der  Anstieg  fortgesetzt,  hn  Anfange  verlief  alles 
glatt,  als  aber  die  Steilheit  der  Schneehänge  zunahm  und  die  Strahlen  der 
Sonne  kräftiger  zu  wirken  begannen,  wurde  der  P\)rtschritt  langsamer. 
Lassen  wir  Herrn  Kupffer  das  Wort:  Die  Eile,  welche  uns  zum  Erreichen 
des  Gipfels  antrieb,  bevor  der  Schnee  von  der  Sonne  stark  erweicht  würde, 
überstieg  unsere  Kräfte,  so  dass  wir  zum  Schlüsse  gezwungen  waren,  bei- 
nahe bei  jedem  Schritt  innezuhalten,  um  Atem  zu  schöpfen.  Die  Dünnheit 
der  Luft  ist  in  dieser  Höhe  so  gross,  dass  das  Atmen  nicht  mehr  genügt, 
um  die  verbrauchte  Kraft  zu  ersetzen ;  das  Blut  ist  in  lebhafter  Bewegung 
und  verursacht  in  den  schwächeren  Teilen  P2ntzündung.  Meine  Lipi^en 
brannten,     meine   Augen    litten    unter    der    blendenden   Helle    des   Schnees. 


*)  Voyage  dans    les    environs  du   Mont  Elboruz  dans  le  Caucase,    entrepris   par   ordre  de 
Sa.  Majcste,  l'Empereur  en   1829.     Rapport  fait  ä  l'Academie  Imp.  des  Sciences  de  St.  Petersbourg. 


DKR    (.ill'Ki:!,    DI.S    JÜ.l'.KLSS    WLKÜK    NICHT   ERREICHT. 

Alk:  meine  Sinne  waren  verwirrt,  mein  Kopf  wurde  schwindliL;-,  und  zu 
Zeiten  fühlte  ich  ein  undefinierbares  Zusammenbrechen,  welches  ich  nicht 
besieoen  konnte.  Dem  (.iipfel  zu  zei^t  der  Elbruss  eine  Serie  blossgelegter 
Fel.sen,  welche,  eine  Art  Treppe  bildend,  die  Ersteigung  bedeutend  er- 
leichtern. Aber  die  Herren  Meyer,  Menetries,  Bernardazzi  und  ich  fühlten 
uns  derart  durch  Müdigkeit  überwältigt,  dass  wir  beschlossen,  ein  oder  zwei 
Stunden  auszuruhen,  um  Kraft  zu  gewinnen,  unsern  Marsch  fortzusetzen. 
Aber  der  Schnee  wurde  spater  so  erweicht,  dass  er  unser  Gewicht  nicht 
mehr  tragen  konnte,  und  je  länger  wir  den  Rückweg  verzögert  hätten,  desto 
oTÖsser  wäre  die  Gefahr  gewesen,  in  einen  der  unter  ihm  verborgenen 
Abgründe  zu  stürzen..  Herr  Kupffer  hoffte  noch,  dass  Herr  Lenz,  welcher 
vorau.sgegangen  war,  den  Gipfel  erreichen  und  barometrisch  vermessen 
■^viirde.  —  Aber  ,  fährt  Kupffer  fort,  »indem  Herr  Lenz  die  Felsen  erreichte, 
fand  er  sich  noch  immer  vom  Gipfel  durch  einen  Schneehang  getrennt, 
welcher  von  der  .Sonne  so  sehr  durchweicht  war,  dass  sie  bei  jedem 
Schritte  bis  an  die  Knie  in  denselben  versanken  und  Gefahr  liefen,  ganz 
begraben  zu  werden.  Seine  Gefährten  schienen  entschlossen,  nicht  weiter 
vorzugehen,  und  die  Gefahr,  allein  vorzudringen,  war  zu  gross,  um  der- 
selben zu  begegnen,  aus.serdem  war  es  i  Uhr  nachmittags  vorüber  und  es 
war  nötig,  an  die  Rückkehr  zu  denken,  um  nicht  vor  Erreichen  des  Lagers 
von  der  Nacht  überrascht  zu  werden.  1  lerr  Lenz  beschloss  daher,  zurück- 
zukehren,  ohne   den   Gipfel   erreicht  zu   haben. 

Keiner  der  Gelehrten  hatte  also  den  Gipfel  erreicht,  aber  Herr 
Kupffer  erzählt  weiter:  Während  dieses  ereignisvollen  Tages  sass  der 
General  vor  seinem  Zelte  und  beobachtete  unsern  Fortschritt  durch  ein 
ausgezeichnetes  Fernrohr,  welches  ich  ihm  zur  Verfügung  gelassen  hatte. 
Sofort  als  die  Morgennebel  verschwanden,  sah  er  uns  den  Schneekegel 
ansteigen  und  den  b\iss  der  l-'elsen  erreichen,  wo  wir  uns  in  zwei  Gruppen 
trennten,  die  eine,  welche  dem  Gipfel  zu  vorwärts  schritt,  während  die 
antlere  Halt  machte.  Aber  [)lötzlich  bemerkte  er  einen  einzelnen  Mann  mit 
einem  grossen  Vorsprunge  vor  den  andern,  der  schon  beinahe  den  Schnee- 
abhang zwischen  dem  Gipfel  und  der  Höhe  der  b'elsentreppe  überschritten 
hatte.  Man  sah  den  Mann  sich  dem  gewundenen  b'elsen  nähern,  welcher 
den  eigendichen  Gipfel  bildet,  um  denselben  herumgehen,  einen  Augenblick 
gegen  den  dunkelgefärbten  b'els  sich  verlieren  und  dann  hinter  dem  Nebel 
verschwinden,  welcher  das  Tal  wieder  erfüllte  und  den  Blick  nach  dem 
Elbruss  abschnitt.  1  )ies  geschah  um  i  i  lUir  vormittags,  und  der  General 
konnte   nicht  länger  zweifeln,     dass   einer    der    unsrigen   den   Gipfel    erreicht 


ZWI^TKR   KRKOI.GUlSKR    VKKSUlII    1)1;R(11    RaDDK. 

halte;  er  konnte  an  der  Farbe  der  Kleider  erkennen,  dass  es  ein  Circassier 
war,  aber  die  Entfernung  war  zu  gross,  um  die  Gesichtszüge  zu  unter- 
scheiden. Kiilar,  so  hiess  der  Circassier,  der  den  Gipfel  des  Elbruss  erreicht 
hatte,  wusste  besser  von  der  Kälte  des  Morgens  Nutzen  zu  ziehen,  als  wir. 
Er  überschritt  die  Grenze  des  ewigen  Schnees  lange  vor  uns,  utid  als  l  lerr 
Lenz  seinen  höchsten  Punkt  erreichte,  war  Kiilar  schon  auf  dem  Rückwege 
vom  Gipfel.  So  weit  Kupffer.  Der  General  en  chef  aber  Hess  sofort 
diese  Besiegung  des  Elbruss  mit  einer  dreifachen  Decharge  der  Musketiere 
begrüssen  und  Kiilar  erhielt  den  Preis  von  400  Rubel  für  die  allein  voll- 
brachte Tat. 

Dass  der  Pllbruss  in  diesem  Karatschaizen  seinen  Jacques  Balmat 
nicht  gefunden  hat,  steht  ausser  Zweifel.  Bergsteigen  war  zu  jener  Zeit  in 
seiner  Kindheit,  und  ob  man  bei  den  damals  über  Bergbesteigungen  herr- 
schenden Anschauungen  unter  dem  Ersteigen  eines  Berges  auch  das  Be- 
treten des  höchsten  Gipfels  verstand,  bleibt  dahingestellt.  Nach  dem 
Berichte  Kupffers  verhüllten  nicht  nur  Nebel  den  Ersteiger,  sondern  es  ist 
zu  bedenken,  dass  irgend  eine  Gipfelpartie,  welche  vom  Tale  aus  gesehen 
als  höchster  Punkt  erscheint,  nur  die  Höhe  eines  Teilstückes  sein  kann, 
ja  wahrscheinlich  ist,  hinter  welchem  —  ungesehen  —  die  höchste  Spitze 
sich  erhebt.  Kein  Bergkenner  wird  annehmen,  dass,  da  der  Standpunkt 
des  Generals  in  einer  Höhe  von  ca.  2400  m  war,  bei  einem  Horizontal- 
abstand von  ungefähr  18  km  die  weit  zurückgeschobenen  Gipfelpartien 
des  5629  m  hohen  Elbruss  zu  sehen  waren.  Ebenso  unwahrscheinlich 
muss  es  klingen,  dass  der  General  mit  seinem  Fernglase  einen  Menschen 
am  Gipfel  des  Elbruss  unterscheiden  konnte  und  gar,  wie  der  General  es 
glaubte,  die  Form  und  P'arbe  seiner  Kleidung  zu  erkennen  vermochte. 
Seit  meinem  Besuche  des  oberen  Malkatales  muss  ich  es  als  zweifellos 
hinstellen,  dass  man  von  dort  die  höchsten  Gipfelpunkte  des  Elbruss  in  der 
Tat  nicht  sehen  kann  und  man  diese  angebliche  erste  Ersteigung  des 
höchsten  Gipfels,  wiewohl  sie  weite  Verbreitung  sowohl  in  der  russischen, 
als  auch  in  der  fremden  Literatur  gefunden  hat,  billigerweise  in  das  Reich 
der  Fabel  verweisen  kann. 

Eine  lange  Reihe  von  |ahren  verging,  ohne  dass  der  Versuch  zur 
Ersteigung  der  Elbrus.sgipfel  erneuert  wurde,  bis  der  verdienstvolle  Erforscher 
der  Kaukasusländer,  Dr.  Gustav  Radde,  im  Jahre  1S65  vom  Westen,  aus 
dem  Chursuktale  einen  kühnen  Verstoss  wagte.  Er  war  von  Karatschaiern 
begleitet.  ;>\Vir  ruhten  ,  berichtet  Radde,  bei  etwa  3500  m  eine  geraume 
Zeit;   der  Müdigkeit  gesellte  sich  der  Schwindel  bei  zweien  meiner  Begleiter 


Dri-;    KKSTE    I'J^STKICUXC.    DES    ELÜRUSS. 

und  bei  mir  zu,  und  eine  eigentümliche  Schwäche  des  Körpers  befiel  uns 
alle;  sie  steigerte  sich  für  Augenblicke  bis  zum  vollständigen  Versagen  der 
Bewegung.«  Dennoch  drang  der  Reisende  noch  eine  Strecke  weit  vor- 
wärts. >'Nur  in  gewissen  Zeitintervallen«,  fährt  Radde  in  seinem  Berichte 
fort,  konnten  wir  uns  bewegen.  .Schwindel  und  Schwäche  der  Knie  nahmen 
zu  und  eine  entsetzliche  Müdigkeit  bemächtigte  sich  meiner  .  .  .  Die  Führer 
drängten  zur  Rückkehr.  Gegen  2  Uhr  hüllten  auch  uns  die  Nebel  ein; 
eilig  ging  es  nun  von  der  erreichten  Höhe  von  etwa  4000  m  zum  Kamme 
des  Gebirges  gegen  Norden  zurück.«  So  endete  dieser  zweite,  mit  viel 
Energie  unternommene  Versuch   des  berühmten   Forschungsreisenden. 

Da  zog  endlich  eine  kleine  Schar  moderner  Argonauten  von  dem 
fernen  Albion  aus,  jedoch  nicht  —  in  den  zutreffenden  Worten  Merzbachers  — , 
um  gleich  den  alten  Helden  des  Argo  Veranlassung  zur  Bildung  von 
Mythen  und  Sagen  zu  geben,  sondern  um  solche  zu  zerstören,  um  den  aus 
Mvthe  und  Fabel  gewobenen,  geheimnisvollen  Schleier  zu  lüften,  mit  welchem 
für  uns  die  herrliche  Hochgebirgswelt  des  Kaukasus  noch  umhüllt  war 
Es  waren  dies  im  Jahre  1868  D.  W.  Freshfield,  W.  A.  Moore  und  C.  C.  Tucker 
mit  dem  Führer  Frantjois  Devouassoud  aus  Chamounix.  Damals  wurde  der 
Gipfel  des  Elbruss  zum  ersten  Male  vom  Fusse  der  .Sterblichen  betreten, 
aber,  durch  Nebel  getäuscht,  erreichten  sie  den  südöstlichen,  zweithöchsten 
Gipfel.  Ihren  Nachfolgern  F".  C.  Grove,  F.  Gardiner  und  H.  Walker  mit 
dem  Walliser  Führer  Peter  Knubel  gelang  es  dann  1874,  den  nordwestlichen, 
höchsten   Gipfel   des  Elbruss  zum   ersten   Male   zu   ersteigen.*) 

Wieder  vergingen  zehn  Jahre,  eine  lange  Zeit,  während  welcher  nie- 
mand auch  nur  den  Versuch  wagte,  dem  hohen  Ziele  zuzustreben,  und  die 
eisigen  Höhen  des  grossen  Berges  blieben  unbetreten,  bis  ich  nach  dem 
Kaukasus  zog,  von  Wunsche  beseelt,  meinen  Fuss  auf  das  hohe  Haupt 
des  Vulkanriesen  zu   setzen. 

Diesmal  schien  jedoch  der  Elbruss  allen  Angriffen  sich  energisch  zu 
widersetzen.  Das  stürmische  Föhnwetter,  das  mit  unserer  Ankunft  im  Kosch 
Asau  hereingebrochen  war,  dauerte  eine  lange  Reihe  von  Tagen.  Der 
Wind  kam  immer  vom  .Süden  oder  .Südwesten,  und  wenn  einigemal  abends 
die  Sterne  am  Firmament  erschienen,  oder  der  Himmel  sich  am  Morgen 
aufklärte,  so  dauerte  diese  Besserung  nur  einige  Stunden,   und   dann   regnete 

*)  Ueber  die  Ersteigungsgeschichte  des  Elbruss  siehe:  Zur  Geschichte  der  Ersteigungen 
des  Elbruss  (Minghi-Tau)  von  M.  von  Dechy,  in  den  Mitteilungen  des  D.  und  Oesterr.  Alpen- 
vereins Bd.  XI,  No.  5,  1885,  sowie  »V'oyage  au  Caucase^<  par  M.  de  Dechy,  im  Bulletin  de  la 
Societe  hongroise  de  geographie,  Vol.  XIII    IS.SS. 

—      112     — 


DiK    GU'I'EX    UNO    B(")SKN    GEISTER    DES    ELLKUSS. 


es  wieder  in  Strömen.  Wenn  die  Wolken  und  Nebel  sich  hoben,  so  er- 
schienen die  iimlie<^enden  1  lohen  bis  an  ihren  Fuss  mit  neuem  Schnee 
bedeckt,  und  wenn  dann  die  Gipfel  des  Elbruss  für  kurze  Zeit  sichtbar 
wurden,  so  umflatterten  sie  dünne  Schleier,  vom  Sturme  aufgewirbelter 
Schnee,   ein  Beweis   für  die  Stärke,   mit  welcher  der  Orkan  dort  oben  wütete. 

Ohne  PZrfolg  leider,  riefen  meine 
Gefährten,  die  Tataren,  die  guten 
und     bösen     Geister     an,     welche 


Nach    der  Jagd. 

Meine  Gastfreunde  im  Standquartier  bei  Kosch  Asau, 

von  links  nach   rechts:   iler  swant-tisclie  Diener  des  Fürsten:  Rüstern  Chan;  Naurus,  der  Solm  des  Fürsten; 

in  iler   Mitte  Knjas  Ismacl;   zur  Rechten:  sein  Bruder  Hamsat. 


den  Elbruss  bevölkern  sollen.  Zweimal  hatten  wir  den  Angriff  vei'sucht, 
und  zweimal  zwang  uns  der  Regen,  nach  ein  oder  zwei  Stunden  Marsch 
zurückzukehren.  Wir  stiegen  auf  die  umliegenden  Höhen ,  gingen 
zum  Asaugletscher,  wo  ich  Beobachtungen  machte,  und  in  den  wenigen 
klaren  Stunden  war  ich  bestrebt ,  einige  photographische  Aufnahmen 
auszuführen.  Oft  gingen  wir  in  die  Wälder  und  sammelten  heirliche 
Schwarzbeeren,  deren  es  dort  eine  Fülle  gab,  oder  man  oblag  dem  Jagd- 
vergnügen. Die  Eingeborenen  sind  leidenschaftliche  Jäger,  die  jedoch  mit 
ihren  alten,  langen  Zündschlossflinten  —  die  sie  sorgsam  in  langhaarigen 
Hlzhüllen    tragen    —    nur    wenig    ausrichten    können. 

Dcchy:   Kaukasus.  8 

—      113      — 


Das  Stkinwii.d  des  Kaikasi's. 

Der  St(jinl)Ock  ist  das  edle  Steinwild  des  Kaukasus.  Man  unter- 
scheidet hauptsächlich  zwei  Arten,  die  Capra  caucasica  Güldenstadt  und 
Capra  pailasii  (auch  Aegoceros  pallasii  oder  Capra  cylindricornis  Blyth.). 
Die  russische  (?)  Bezeichnung  Tur  wurde  im  gewöhnlichen  Gebrauche  über- 
haupt auf  alle  Arten   des  kaukasischen  Steinwildes  übertrafen,   und   ich  hörte 


a)  Capra  caucasica 
Güldenstädt, 

b)  Capra  pallasii, 

c)  Capra   aegagrus 

pallasii. 


sie  im  ganzen  Kaukasus  \on  den  verschiedenen 
Bergvölkern  anwenden.  Das  Gehörn  der  Capra 
caucasica  ist  sichelförmig  nach  aufwärts  und  nach 
aussen  gerichtet,  während  am  Gehörn  der  Capra 
pallasii  die  Spitzen  am  Ende  wieder  nach  innen 
gebogen  sind.  Der  Verbreitungsbezirk  der  Capra 
caucasica  dehnt  sich  weiter  gegen  Westen  aus, 
indes  im  östlichen  Kaukasus  Capra  pallasii  angetroffen 
wird.  Im  zentralen  Kaukasus  werden  beide  Steinbock- 
arten nebeneinander  gefunden.  Zum  kaukasischen  Stein- 
wild gehört  noch  die  edle  Bezoarziege,  Capra  aegagrus 
pallasii,  zumeist  im  Osten  des  Kaukasus  und  in  den 
Gebirgen  Transkaukasiens  heimisch.  Capeila  rupicapra  (Keys,  et  Blas.)  ist 
die  Gemse  des  Kaukasus;  sie  ist  mit  dem  Krickelwilde  des  europäischen 
Kontinents  identisch,  und  nicht  das  geringste  Merkmal  soll  sie  weder  im 
Aeussern,  noch  in  ihrer  Lebensweise  unterscheiden,  wenn  auch  die  kauka- 
sische   Art    meist    wenieer    kräftie     entwickelte    Krickeln     trägt.       Ihr   Ver- 


Im  Staxoouartikr  bei  Koscii  Asau. 

breitungsbezirk  ist  jedoch  östlich  mit  der  Gruppe  der  swanetisch-tatarischen 
Alpen  begrenzt  und  ihr  Vorkommen  seltener  als  das  des  Steinbocks,  des 
Tur,  welcher  das  dem  Kaukasus  eigene  Steinwild  ist.  Der  Tur  ist  Stand- 
wild. Seine  Kletterkunst  im  Erklimmen  schroffer  b'elsen  ist  bewunderungs- 
würdig. Die  Sinnesschärfe  übertrifft  die  jedweden  (ietiers  des  Hochgebirges. 
Ein  Sinn   übertrifft  an   .Schärfe  alle   übrigen:   der     Geruchssinn,  die  Fähigkeit 


Die  Gruppe   des   Doiigusoiun   von  oberhalb   Kosch   Asau. 


des  Windnehmens    und  Witterns.    Der  Tscherkessc  nennt  den  Steinbock   das 
»klügste   Tier  der  Schöpfung«. 

In  den  Bergen  des  obersten  Bakssantales  war  das  Wild  jedoch  da- 
mals selten  und  zersprengt.  Zwei  Steinböcke  wurden  erlegt,  und  dann  gab 
es  Eeste  im  Lager.  Aber  weder  die  seltenen  Triumphe  unserer  Nimrode, 
noch  die  Poesie  der  stillen  Wälder,  noch  der  herrliche  Anblick  der  eis- 
durchfurchten Wände  des  Dongusorun,  welche  sich  gegenüber  unserm 
Standquartiere  erhoben,  konnten  die  Monotonie  unseres  Lagerlebens  bannen. 
Der  erzwungene  lange  Aufenthalt  im  Kosch  Asau  hatte  nur  das  eine 
Gute,  dass  wir  Zeit  hatten,  die  Folgen  des  Bettlagers  in  Tschegem,  welche 


\'iii<i;i:Ki-,nr\(;i;x  zlm  Aii'hkLrii. 

sich  bei  mir  in  fatalster  Weise  und  zu  unserer  peinlichsten  Ueberraschung 
zeigten,  wieder  verschwinden  zu  machen.  Burgener,  der  in  solchen  zoolo- 
gischen Fragen  Fachmann  zu  sein  schien,  ging  in  diskreter  Weise,  jedes 
Aufsehen  vermeidend,  mit  meiner  gesamten  Wäsche  und  Kleidern  und  mit 
einem  —  ich  befürchte  horribile  dictu  —  Kochkessel  zu  einer  am  Waldes- 
saum versteckten  Stelle  des  Baches,  um  eine  gründliche  Reinigung  vorzu- 
nehmen, indes  ich  für  mehrere  Stunden  im  geschlossenen  Zelte  in  den 
Schlafsack  kroch.  Auch  jene  Unannehmlichkeiten,  welche  das  schlechte 
Wetter  im  Lager  inuner  im  Gefolge  hat,  machten  sich  geltend,  und  später 
trat  fühlbarer  Mangel  in  unsern  Lebensmitteln  ein.  Unsere  gastfreundlichen 
Begleiter  waren  zwar  aus  besten  Kräften  bestrebt,  demselben  zu  steuern, 
aber  dies  schien  nur  zum  Teile  zu  gelingen,  insbesondere  bei  jenen  Gegen- 
ständen wie  Mehl,  Zucker  und  Tee,  von  welchen  wahrscheinlich  selbst  in 
Urussbieh  nur  geringe  Vorräte  verfügbar  waren.  Es  erschien  daher  als 
eine  wirkliche  Erlösung,  als  am  22.  August,  nach  acht  langen  Tagen, 
endlich,  ohne  dass  wir  es  gehofft  hatten,  der  Morgen  in  schönster  Klarheit 
anbrach.      Keine  Wolke   war  am   Himmel! 

Sofort  wurden  in  grosser  Eile  die  Vorbereitungen  zum  Aufbruche 
getrofl'en.  \'on  unsern  Begleitern  hatten  auch  Mohammed  und  der  Sohn 
Ismaels  beabsichtigt,  die  Ersteigung  des  Elbruss  mitzumachen,  allein  im 
letzten  Augenblicke  gaben  sie  ihr  Vorhaben  auf,  obgleich  insbesondere  der 
grosse  Mohammed  die  ganze  Zeit  sich  hiezu  vorbereitet  hatte.  Der  Aenderung 
seines  Vorsatzes  verdanke  ich,  dass  er  mir  ein  kurzes,  mit  Schaflell  ge- 
füttertes, sehr  warmes,  dabei  aber  überraschend  leichtes  Jäckchen  leihen 
konnte,  das  ich  gerne  mitnahm.  Wenn  es  auch  nicht  sehr  europäisch 
aussah  —  es  war  mit  einem  hellblauen  Cachemir,  einem  Stofte  für  Damen- 
kleider überzoo-en  — ,  sollte  es  mir  doch  gute   Dienste  leisten. 

Dagegen  Hess  es  sich  Ismael  nicht  nehmen,  uns  zu  unserni  Biwak 
zu  begleiten.  Ismael  ist  nicht  nur  ein  kühner  Jäger,  sondern  auch  ein  guter 
Berggänger.  Mit  ihm  kam  sein  Jäger,  Molley  Tirbolas,  und  fünf  andere 
Bakssantataren   trueen  Zelt,   Provisionen    und  Holz   bis  zu  unserm   Biwak. 


Eis  und  Lava    am  Elbruss. 


IX.   KAPITEL. 


Die  Ersteigung  des  Elbruss  (Minghi-Tau). 

Der   du   die   Höhe   c-iklmnmst, 
Einsam   über  der   Mensclieji   l.utt, 
Macfst  du   mir  auch   saL,'eii. 
Ob  alle  deine  Hohe   wert   war 
All   deines   Kam)iles? 

Karton    von   Arnold    RccliberL;-. 

Durch  die  Talschlucht  des  Tersskolbaches  führte  unser  Weg  in  die 
Firnregion  des  Elbruss.  Indem  wir  die  linksseitigen  Abhänge  der  Tal- 
schlucht verfolgten,  umgingen  wir  die  tiefe  Rinne,  welche  sich  der  Terss- 
kolbach  im  kristallinischen  Gestein  des  Talgrundes  eingeschnitten  hat. 
Nach  einem  kurzen  Anstiege  wird  der  Talschluss  sichtbar,  welchen  der 
Tersskol-Gletscher  erfüllt. 

Das  enge  Tal  wird  wilder;  die  Fichten  verschwinden,  Geröll  bedeckt 
das  Gehänge.  Noch  aber  überschreitet  man  im  Talgrunde  steinige  kurz- 
narbige wiesen,  bis  wir  um  Mittag  in  2625  m  Hohe  am  Fusse  des 
Glet.schers  in  felsiger  Wildnis  stehen.  Der  Gletscher  stürzt  sich  über  den 
Rand    der  Felswände,    welche    in    steilem    Aufbau    zirkusförmig    aufsteigen. 


—      117      — 


Andlu'k  KixEs  Tkilstückks  der  IIaLI'TKKTTE. 

Nicht  nur  die  weit  unterhalb  des  Gletscherendes  liegenden  Moränen  und 
die  linksseitigen  Felshänge,  welche  Spuren  früherer  Gletschertätigkeit  zeigen, 
beweisen,  dass  der  Tersskolgletscher  einst  viel  tiefer  herabreichte,  sondern 
auch  seine  Erscheinung  enthüllt  auf  den  ersten  Anblick,  dass  er  sich  in 
einer  Periode  starken  Rückzuges  befindet.  Die  Endmoräne  ist  reich  an 
verschiedenen  Gesteinen  kristallinischer  und  vulkanischer  Formationen; 
Gneisgranite,  rotliclK;  Tuffe,  schwarze  Trachyte,  oft  mit  grauen  Porphyren 
durchsprengt,   und   Riolite   wurden   auf  derselben  gesammelt. 


Die   H  a  u  p  t  k  e  1 1  e   vom   Rande  des  F  i  r  n  p  1  a  t  e  a  u  s  am   E 1  b  r  u  s  s. 

Das  Gehänge  erhebt  sich  in  grosser  Steilheit,  welche  wir  durch 
Kehren  zu  brechen  suchten.  Schon  hoch  oben,  von  einer  plateauförmigen 
Stufe  der  Talwandung  blicken  wir  zurück.  In  der  Tiefe  liegt  die  Talflucht 
des  Bakssan.  Prächtig  hat  sich  die  Grup])e  des  Dongusorun,  welche  wir 
solange  vom  Asau-Lager  bewundert  hatten,  entwickelt  und  brachte  nunmehr 
auch  ihre  Höhe  zur  Geltung.  Die  Scheiderücken  zwischen  den  Seitentälern 
des  Bakssan  sinken,  und  die  Berge,  welche  den  Hauptkamm  des  Kaukasus 
bilden,  herrliche  Firnpyramiden,  wilde,  aus  Fels  gehauene  Zinnen,  erheben 
stolz  ihre  Stirne  in  einer  einzigen  riesigen  Linie.  Mit  einem  durch  die 
Kühnheit  seiner  Formen  überraschenden  Relief  schwingt  sich  dort,  seine 
Umgebung    weit  überragend,    ein    doppelgipfliger    Felsbau    in  die    Wolken: 


118 


Am  Rande  dks  Firxi'I.ateaus. 

es  ist  Llscliba,  das  Matterhorn  des  Kaukasus.  Schon  das  von  hier  entrollte 
Panorama  war  von  grosser  Wirkung.  Malerisch  ist  dasselbe  zur  Rechten 
von  den  klippigen  Mauern  eingerahmt,  welche  die  Talwand  der  Tersskol- 
schlucht  bilden.  Die  rauhe  Pracht  der  vereisten  Gipfel  wird  gemildert 
durch  das  Grün  der  Täler,  mit  ihren  glitzernden  Bachbändern,  in  welche 
kulissenformig  die  Gratzüge  eintreten,  in  der  Höhe  noch  schneebedeckt, 
dann  mit  nacktem  Gestein  und  talwärts  im  Schmucke  grüner  Wälder 
prangend. 

Aber  schon  hat  sich  eine  kleine  Wolke,  welcher  wir  anfangs  keine 
Bedeutung  beilegten,  neidisch  in  die  Bresche,  welche  die  beiden  Uschba- 
gipfel  trennt,  gelegt,  und  eine  Stunde  später,  als  wir,  über  P>ls  und  Schnee 
kletternd,  auf  die  Höhe  des  Tersskolwalles  gelangt  waren,  sind  von  allen 
Seiten  schwarze  Wolken  aufgestiegen.  Schnell  bin  ich  noch  bemüht,  das 
Aussichtsbild  photographisch  festzuhalten,  nachdem  ich  auch  von  der  früher 
erreichten  Stufe  eine  Aufnahme  gemacht  hatte.  Die  Aussicht  hatte  sich 
erweitert,  und  die  einzelnen  Gipfel  haben  sich  über  die  Kammzüge  des 
Gebirges   höher  emporgeschwungen. 

Bald  darauf  gelangen  wir  zu  weiten  Flächen  voll  Geröll  und  Fels- 
trümmern, die  vom  Firnplateau  des  Elbruss  durch  schneebedeckte  Hänge 
getrennt  sind.  Auf  die  granitische  Grundlage  des  zwischen  Tersskol  und 
Asau  streichenden  Bergrückens  haben  sich  trachytische  Lavamassen  abge- 
lagert, welche  in  phantastischen  P'ormen  als  Nadeln,  Zacken  und  Türme 
demselben  entragen  und  bald  eine  rödiche,  bald  eine  schwärzliche  P'ärbung 
annehmen.  Halbkreisförmig  bilden  sie  einen  Rand,  der  über  eine  konkav 
geneigte  Fläche  aufsteigt,  die  sich  als  eine  Kraterformation  darstellt.  Schon 
sieht  man  über  einen  tiefen  Einschnitt  des  vom  Elbruss-Stock  südlich 
ziehenden  Firnwalles,  der  einen  Uebergang  aus  dem  Bakssantale  nach  den 
Tallandschaften  des  Karatschai  im  W^esten  des  Elbruss  gestattet.  Dort 
erscheinen,  in  blauen  Duft  der  Ferne  gehüllt,  Ketten  von  Bergen,  unbe- 
kannt und  namenlos. 

Auf  diesen  Geröllflächen  hatte  ich  zuerst  beabsichtigt,  zu  biwakieren. 
Da  es  jedoch  erst  3  Uhr  nachmittags  war,  und  ich  es  für  vorteilhaft 
hielt,  so  hoch  als  möglich  das  Nachtlager  aufzuschlagen,  gab  ich  Befehl, 
wieder  weiterzugehen.  Unsere  Gesellschaft  teilte  sich,  und  jeder  suchte  sich 
seinen  W^eg  an  den  wenig  geneigten,  stellenweise  schneebedeckten  Trümmer- 
halden.  Auf  der  Höhe  des  P'elsenplateaus  war  es  dann  nicht  leicht,  auf 
dem  mit  Geröll  und  Riesenblöcken  besäten  Boden  eine  zum  Lagerplatz 
eeeiofnete   Fläche    zu    finden.      Nach    längerem    Suchen   beschlossen    wir,    an 


HlWAK    IX    3600  M    HÜIIE. 

einer  ziemlicli  ei)enen,  obzwar  schneebedeckten  Stelle  das  Zelt  aufzuschlagen. 
Sofort  machten  wir  uns  an  ilie  Arbeit ;  soweit  als  möglich  wurde  der  Schnee 
und  das  feuchte  Ccröll  weggeräumt.  Die  Eispickel  arbeiteten  aus- 
gezeichnet, und  in  kurzer  Zeit  war  ein  Raum  ziemlich  gut  geebnet  und 
genügend  trockengelegt.  Aber  kaum  hatten  wir  diese  Arbeit  beendigt, 
als  einer  unserer  Leute  ganz  nahe  einen  nach  seiner  Meinung  be.sseren 
Platz  fand,  viel  trockener  und  durch  einen  überhängenden  Felsblock 
geschützt.  Eine  genauere  Prüfung  zeigte,  dass  ein  künstliches  Nivellement 
vorlag  und  auch  Steine  zusammengehäuft  waren,  um  die  Fläche  zu  ebnen. 
Ohne  Zweifel  hatten  wir  den  alten  Lagerplatz  bVcshfields  vor  uns.  Sofort 
begaben  wir  uns  an  diesen  Ort  und  —  1 8  |ahre  später  —  bezogen  wir 
das  »Hotel  Freshfield « ,  wie  ich  ihn  damals  nannte,  in  einer  Höhe  von 
ungefähr  3600  m.    (A.  D.) 

L^nterdes  war  die  Temperatur  bedeutend  gesunken,  der  Himmel  hatte 
sich  vollkommen  bedeckt  und  ein  feuchtkalter  Wind  strich  über  die  trost- 
lose Oede  —  es  drohte  wieder  schlechtes  Wetter.  Rasch  war  die  Abend- 
suppe gekocht,  und  in  gedrückter  Stimmung  krochen  wir  in  das  Zelt. 
Ismael,  sein  Jäger  und  die  Träger  zogen  es  vor,  niederzusteigen  und  etwa 
eine  Stunde  tiefer  zu  lagern,  wo  sie  vor  der  Kälte  und  dem  Wind  besser 
geschützt  waren. 

Ich  hatte  be.schlossen ,  um  Mitternacht  aufzubrechen,  und  Ismael, 
welcher  den  Wunsch  ausgedrückt  hatte,  mit  dem  Jäger  an  der  Be- 
steigung teilzunehmen,  sollte  um  diese  Stunde  zu  uns  stossen.  Die  Expe- 
dition von  1874  war  um  1  Uhr  morgens  von  ihrem  Lagerplatze  abge- 
gangen und  hatte  bei  ausgezeichneten  .Schneeverhältnissen  9  Stunden  40 
Minuten  gebraucht,  um  den  Gipfel  zu  erreichen.  Wir  jedoch  mussten  nach 
dem  schlechten  Wetter  der  letzten  W^ochen  vorbereitet  sein,  für  den  Anstieg 
ungünstige  .Schneeverhältnisse  zu  treften.  Bergkundige  wissen,  wie  sehr 
der  neu  gefallene  Schnee,  insbesondere  wenn  —  wie  im  gegenwärtigen 
Falle  —  Föhnwetter  herrscht,  die  Ersteigungen  in  der  Firnregion  erschwert, 
deren  Dauer  verlängert,  die  Gefahren  vermehrt.  Und  der  Weg,  welcher 
den  Elbrussgipfel  zum  Ziele  hat,  führt  ununterbrochen  über  weite  .Schnee- 
felder. Es  erschien  mir  daher  von  grösster  Wichtigkeit,  möglichst  früh, 
noch  in  der  Nacht  mit  der  Laterne  aufzubrechen,  um  bei  Tagesbeginn 
schon  einen  Teil  des  Weges  zurückgelegt  zu  haben,  und  den  Schnee  am 
frühen  Morgen   noch  nicht  von   der  Sonne   erweicht  zu   finden. 

Aber  es  sollte  anders  kommen.  Mit  dem  Eintritt  der  Nacht  hatte 
sich   ein   starker  Wind   erhoben,   der  zum  Orkan   anwuchs.      Später  Hess  die 


Sl'ÄTKR    Al'FURL'ClI. 

Heftiokeit  des  Windes  ein  wenii^  nach  und  dann  hörte  man  den  mit  Hagel 
gemischten  Regen  auf  die  Felsen  schlagen.  Als  um  i  Uhr  morgens 
Burgener  aus  dem  Zelt  trat,  um  nach  dem  Wetter  zu  sehen,  war  alles  um 
uns  von  frischem  Schnee  bedeckt,  »Unglückliche,  die  wir  sind !  <:  jammerte 
Bur<i"ener.  Er  hatte  Recht.  —  Von  Stunde  zu  Stunde  fc^rschten  wir  nach 
dem  Wetter.  —  Keine  Besserung.  —  Nur  der  Sturm  hatte  an  Kraft 
verloren. 

Gegen  7  Uhr  morgens  kam  Ismael;  er  behauptete,  dass  gegen 
Osten,  in  welcher  Richtimg  der  Ausblick  vom  Zeltplatz  verdeckt  war,  der 
Himmel  seit  einer  Stunde  klarer  sei  und  dass  das  Wetter  sich  entschieden 
bessere.  W'ir  stürzten  aus  dem  Zelt,  und  in  einigen  Minuten  hatten  wir 
eine  Felsecke  ostwärts  umgangen.  Ismael  hatte  Recht.  Die  Leuchte  des 
Tages  hatte  weit  vor  sich  die  Wolken  getrieben,  und  dort,  wo  ihr  Schatten 
nicht  mehr  lag,  war  lichtvolles  Leben  über  die  eisgraue  Umgebung  ge- 
kommen. Gewiss,  es  war  kein  glänzender  Tag  für  die  Ersteigung  eines 
mehr  als  5600  m  hohen  Bergriesen,  aber  wäre  Ismael  mit  seiner  Botschaft 
nur  zwei  bis  drei  Stunden  früher  gekommen,  so  hätte  man  den  Versuch 
immerhin  wagen  können.  Nun  war  es  zu  spät.  —  Plötzlich  jedoch  .sagte 
Burgener:  Wir  müssen  es  versuchen.«  Er  begründete  dies  sofort  damit, 
dass  nach  seiner  Meinung  das  Wetter  sich  tagsüber  nicht  verschlimmern 
werde,  ja  eher  sich  bessern  dürfte,  und  dass  unter  solchen  Umständen, 
wenn  nur  der  Sturm  nicht  wieder  an  Heftigkeit  zunähme,  die  Möglichkeit 
gegeben  sei,  die  Ersteigung  auszuführen.  Burgener  glaubte  auch,  dass  es 
möglich  sei,  die  Ersteigung  in  7  —  8  Stunden  auszuführen,  und  da  der  Berg 
keine  technischen  Schwierigkeiten  zu  bieten  schien,  den  Abslieg  rasch  genug 
zurücklegen  zu  können,  um  noch  vor  Einbruch  der  Nacht  unser  Biwak 
wieder  zu  erreichen.  Er  fügte  noch  hinzu,  dass,  wenn  auch  das  Wetter 
sich  tagsüber  nicht  verschlechtern  dürfte,  er  überzeugt  sei,  dass  der  Föhn 
gegen  Abend  die  Oberhand  gewinnen  werde  und  dass  man  dann  wieder 
eine  Reihe  von  Regentagen  zu  gewärtigen  hätte.  Die  Ausführungen 
Burgeners  halten  mich  nicht  vollkommen  überzeugt;  ich  hatte  kein  Ver- 
trauen in  seine  Wetterprognose,  selbst  für  diesen  einen  Tag,  und  hielt 
seine  Ansicht  über  die  Dauer  der  Ersteigung  für  nicht  zutreffend,  da  ich 
wusste,  dass  meine  Vorgänger  —  die  einzigen  —  unter  guten  Schnee- 
und  Witterungsverhältnissen  nahezu  10  Stunden  benötigt  hatten,  um  den 
Gipfel  zu  erreichen.  Aber  der  Gedanke,  noch  tagelang  das  Leben  fort- 
setzen zu  müssen,  welches  wir  am  Fusse  des  Berges  geführt  halten,  und 
unsern   vortrefflichen    Gastfreunden    noch    länger   zur    Last   zu    fallen,     oder 

—     121     — 


LÄNGSSI'AI.TKN    am    lÜRNFKl.l). 

aber  dem  Elbniss  entsagen  zu  müssen,  Hess  mich  rasch  entscheiden  und 
dem  Aufbruch   beistimmen. 

Am  23.  August  um  7  Uhr  30  Minuten  morgens  begannen  wir  die 
l'lrsteigung.  Nach  einer  halben  Stunde  schon  befanden  wir  uns  auf  der 
obersten  Kante  des  Felsgehänges,  welches  das  Firnplateau  des  Elbruss 
ringförmig  umgibt.  Vor  uns  lag  das  weite  Eispiedestal,  aus  welchem  der 
Elbruss  sich  erhebt,  und  in  massiger  Neigung  zogen  die  Schneehänge 
aufwärts,  stiegen  die  Gratlinien  auf,  welche  die  Gipfelhöhen  bilden.  Nur 
an  wenigen  Stellen  bricht  Fels  durch  die  blendend  weisse  Firndecke,  ver- 
schwindend im  Gesamtbilde,  das  der  unter  Schnee  und  Eis  begrabene 
Vulkan  bietet. 

lün  kurzer  Schneehang  wurde  angestiegen  und  dann  das  Seil 
entrollt,  um  es  mit  dem  Betreten  der  Firnfelder  anzulegen.  Hier  entsagte 
Ismael  Urussbiew  seinem  Vorhaben,  uns  zu  folgen,  bat  jedoch,  seinen  Jäger 
mitzunehmen.  Ich  wusste,  dass  dieser,  obgleich  ein  ausgezeichneter  Gänger, 
uns  von  gar  keinem  Nutzen  sein  könne,  im  Gegenteil,  falls  unvorher- 
gesehene Schwierigkeiten  eintreten  sollten,  eher  zum  Hindernis  werden 
dürfte,  schon  infolge  der  mit  Heu  gefüllten  Sandalen,  mit  welchen  er 
gleich  seinen  Stammesgenossen  beschuht  war,  gewiss  das  Unpassendste  für 
die  Begehung  der  Eisregionen  des  Gebirges.*)  Aber  trotz  meiner  ab- 
schlägigen Antwort  beharrte  Ismael  auf  seiner  Bitte,  und  ich  glaubte  zu 
bemerken,  dass  es  sich  für  ihn  darum  handelte,  einen  Augenzeugen  der 
von  uns  beabsichtigten  Ersteigung  zu  haben.  Dies  entschied  bei  mir,  und 
Molley  Tirbolas  —  so  der  Name  des  tatarischen  Jägers  aus  Urussbieh  — 
wurde   als  letzter  an   unser  Seil  genommen. 

Wir  kamen  im  Anfange  rasch  vorwärts;  später  jedoch,  als  bald  der 
eine,  bald  der  andere  von  uns  in  mit  dünnen  Lagen  Neuschnees  über- 
deckte Spalten  einbrach,  wurden  wir  gezwungen,  mit  grösster  Vorsicht  vor- 
zudringen, um  so  mehr  als  die  Spalten  sich  der  Länge  nach,  also  in  der 
Richtung,  in  welcher  wir  anstiegen,  ausdehnten.  Burgener,  welcher  als 
erster  marschierte,  war  im  Anfange  alarmiert  worden  und  schrie  den  Nach- 
folgenden zu,  keine  gerade  Linie  im  Marsche  einzuhalten.  Das  Einbrechen 
durch  eine  dieser  verräterischen  Schneebrücken,  welche  die  oft  unergründlich 
tiefen  Klüfte    überdecken,    kann    den  Untergang    einer  Gesellschaft    herbei- 


*)  Die  Bergbewohner  des  zentralen  Kaukasus,  aber  auch  ein  grosser  Teil  derselben  im 
Osten  und  Westen  tragen  diese  Fussbekleidung.  Es  sind  dies  eine  Art  von  Ledertaschen,  in  die 
der  Fuss  gesteckt  wird  und  die  durch  Riemen  festgeschnürt  werden.  Der  Fuss  wird  mit  Heu  oder 
trockenem  Grase  umhüllt,  das  während  des  Marsches,  wenn  sich  hierzu  Gelegenheit  bietet, 
erneuert  wird. 

122      — 


Aussicht  vom  Firni>i,atf,au. 

führen,  wenn  im  Aiig-enblicke  des  Durchbrechens  alle  Mitglieder  der  mit 
dem  Seil  verbundenen  Gesellschaft  oder  die  Mehrzahl  ilerselben  sich  in 
der  Richtung  einer  Längsspalte  befinden.  Als  wir  aus  dem  Bereiche  dieses 
Spaltennetzes  kamen,  begann  der  Schnee  weich  zu  werden.  Bei  jedem 
Schritte  sank  man  in  denselben  immer  tiefer  und  tiefer,  und  der  Anstieg 
wurde   immer  ermüdender. 

Um  lo  Uhr  machten  wir  bei  einigen  Felsblöcken,  welche  aus  der 
weiten  Schnce-Kbene  aufragten,  Halt,  um  etwas  zu  essen.  Es  war  ruhig 
und  warm  auf  der  Trachytplatte,  auf  welcher  wir  ruhten,  wenn  auch  der 
Himmel  sich  schon  wieder  mit  einem  grauen  Schleier  zu  umhüllen  begann, 
den  die  Sonnenstrahlen  nicht  mehr  durchdringen  konnten.  Einen  unge- 
heuren Raum  überflog  von  hier  das  Auge.  Eine  Welt  von  Bergen,  Kette 
über  Kette  des  gewaltigen  Kaukasus  lag  vor  uns.  Erdrückend  war  die 
Mannigfaltigkeit  der  Formen,  zu  welchen  das  Antlitz  der  Erde  ,  im  Werden 
aufgepeitscht,  sich  gestaltet  hatte.  Ich  suchte  dasselbe  nicht  zu  entziffern, 
ich  suchte  nicht  an  der  Hand  von  Karten,  dem  einzelnen  Namen  zu  geben; 
nur  die  mir  schon  bekannten  Formen  der  Granitriesen,  die  ich  vom  Schtu- 
livcekpass  zuerst  erblickt  hatte,  das  doppelgipflige  Gerüst  des  Uschba,  jetzt 
schon  hoch  die  ihm  vorliegende  Hauptkette,  welche  die  Flucht  des  Bakssan- 
tales  umsteht,  überragend,  und  der  vielgipflige  Zug  des  Dongusorun,  waren 
leicht  erkennbar.  Der  eigentümliche  Zustand  der  Atmosphäre  lieh  diesem 
Bergpanorama  ein  chaotisches  Gepräge.  Sinnend  und  staunend  sah  ich 
wieder  auf  eine  Ansicht  der  Natur,  die  im  trüben  Lichte  dieses  Vormittags 
so  unendlich  ernst  und  geheimnisvoll  erschien  und  die  mit  ihrer  Grösse 
einen  überwältigenden,   unauslöschlichen   Eindruck  hinterlassen  hat. 

Vor  uns  erhoben  sich  klar  die  Gipfel  des  Elbruss,  unserm  Stand- 
punkte näherliegend  der  östliche,  scheinbar  höhere,  und  der  westlich  von 
diesem  liegende,  durch  einen  tiefen  Einschnitt  getrennte,  höchste  Gipfel. 
Wir  konnten  genau  die  Richtung  feststellen,  in  welcher  wir  unserm  Ziele, 
dem   im  Nordwesten   liegenden,   höchsten   Gipfel  zustreben  wollten. 

Nach  einer  halben  Stunde  setzten  wir  die  Ersteigung  fort.  Nun 
musste  der  Fortschritt  durch  eine  höchst  erschöpfende  Arbeit  erkämpft 
werden,  da  man  im  steilen  Anstiege  bei  jedem  Schritte  tief  in  den 
pulverigen  Schnee  einbrach.  Bergsteiger  wissen  aus  den  Alpen,  wie  sehr 
dieses  Einsinken  in  tiefen  Schnee  ermüdet.  Noch  ermüdender  gestaltete 
sich  dieses  Einsinken,  wenn,  wie  es  besonders  mit  der  zunehmenden 
Neigung  der  Firnhalden  hier  auf  grösseren  Strecken  vorkam,  die  Oberfläche 
des  Schnees  etwas    gefroren   war,    ohne    jedoch    genügend   widerstandsfähig 

—     123     — 


Df.k  Sattel  zwischkn  r.EiiiKN  Gipfklx  kkin  al'ikk  Kratkr. 

zu  sein,  so  dass  bei  jedem  Schritte  der  Iniss  für  den  Teil  einer  Sekunde  sich 
auf  der  Oberfläche  festhielt,  aber  —  vielleicht  schon  am  Beginne  der  Vor- 
wärtsbewegung- —  dennoch  durch  die  Kruste  brach  und  in  den  mehligen, 
bodenlosen  Schnee  einsank.  Die  Anstrengung,  welche  erfordert  wird,  um 
die  Beine,  die  oft  bis  zum  Knie  versinken,  wieder  herauszuziehen  und  den 
nächsten  Schritt  zu  machen,  ist  eine  bedeutende  und  wirkt  höchst  erschöpfend. 
Burgener  blieb  immer  der  erste  und  leistete  den  Löwenanteil  der  Arbeit, 
indem  er  eine  b'ährte  trat.  Ich  folgte  als  zweiter;  allein,  trotzdem  ich 
genau  den  F"ussspuren  Burgeners  folgte,  genau  in  die  tiefen  Löcher,  die 
er  in  den  Schnee  trat,  meinen  F"uss  setzte  —  fast  immer  sank  ich  noch 
ein  Stück  tiefer  in  denselben.  Schon  früher  hatten  wir  die  Brillen  und  ich 
auch  noch  meine  Leinwandmaske  —  um  mich  gegen  Schneebrand  zu 
schützen  —  angelegt.  Schweigsam  arbeiteten  wir,  und  langsam  drangen 
wir  am  einförmigen  Schneegehänge  aufwärts.  Oft  musste  man  stille  stehen, 
um   der  keuchenden   Brust  einige  Augenblicke   Ruhe  zu   gönnen. 

Kaum  hatten  wir  bemerkt,  dass  das  Wetter  sich  rasch  verschlechtert 
hatte.  Der  Himmel  hatte  eine  düstere,  drohende  bärbung  angenommen. 
Schwarze  Wolken  lagerten  sich  auf  die  schneeigen  Höhen,  und  dunkle 
Nebel  senkten  sich  tiefer  und  tiefer.  Der  Wind  hatte  sich  erhoben,  strich 
durch  die  Schneewüste  und  trieb  die  Wolken  in  tollem  Wirbel  um  die 
Elbru.ssgipfel.  Jetzt  lag  pulveriger  Schnee  auf  eisigen  Firnhängen,  deren 
Steilheit  gestiegen  war  und  uns  zwang,  fast  ohne  l^nterbrechung  Stufen 
zu  hauen.  Die  Temperatur  war  rasch  gesunken  und  das  Thermometer  fiel 
zuerst  auf  3»  und  dann  immer  tiefer.  W'ir  begannen  unter  der  Kälte  zu 
leiden;  insbesondere  die  Hand,  welche  den  Eispickel  hielt,  erstarrte,  trotz 
der  warmen  Handschuhe,  und  man  musste  wiederholt  die  Finger  reiben, 
um  sie  nicht  erfrieren  zu  lassen.  Wir  ertrugen  alles  ohne  Klage  und 
drangen  ra.stlos  und  unentwegt  in  der  unermesslichen  Schneewüste  auf- 
wärts. So  vergingen  Stunden.  Es  mochte  etwa  3  Uhr  nachmittags 
gewesen  sein,  als  der  .Sturm,  an  Kraft  zunehmend,  uns  plötzlich  wieder  die 
Höhen  für  kurze  Zeit  enthüllte  und  zeigte,  da.ss  wir  die  Firnhänge  unterhalb 
der  die  beiden  Gipfel  verbindenden  Einsattlung  (5268  m)  überschritten.  Klar 
erwies  es  sich,  dass  die  Angaben  in  der  geographischen  und  geologischen 
Literatur,  als  ob  der  Sattel  ein  alter  Krater  und  die  beiden  Gipfel  Reste 
der  Kraterumrandung  seien,   irrige   sind. 

Wir  wandten  uns  jetzt  gerade  dem  westlichen  Gipfel  zu  und  strebten, 
ansteigend,  ohne  die  Einsattlung  zu  berühren,  von  Felsgestein  durchsetzten 
Schneehalden    zu,    die  vom    westlichen     Gipfel     niederziehen.       An    diesem 


Dkk   iiuciisri';  cii'ii-.i.  kuki:ich  r.     l'm  aki,  wusch, \fi'. 

Grate  stiegen  wir  dann  empor.  Der  Anstieg  war  leicht  und  weniger  er- 
müdend, oder  doch  nicht  so  entsetzHch  einförmig,  als  das  endlose  Schnee- 
waten. Ueber  Firnhänge  traversierten  wir  dann  zu  einem  andern  fels- 
durchbrochenen Schneegrate.  Plötzlich  endete  dieses  Gehänge  in  einer  scharfen 
Kante,  welche  zur  andern  Seite  unvermittelt  auf  eine  abschüssige  l'irn- 
lläche  aljfällt.  l'^s  war  die  oberste  Kraterwand  des  Elbruss,  welche  hier 
eingebrochen  ist  und  jetzt  statt  glühender  Lava  tausendjährige  Schneelasten 
trägt.  Rechts  führte  diese  Randkante  noch  zu  einer  Firnerhebung.  Es 
war  der  höchste   Gipfelpunkt   des   FJbrussl 

Im  Augenblicke,  in  welchem,  auf  was  immer  für  einem  Gebiete,  ein 
Ziel  durch  eigene  Tatkraft  erreicht  worden  ist,  gehört  der  erste  Eindruck 
dem  persönlichen  Emphnden.  Die  Sinne  für  die  Aussenwelt  treten  zurück 
und  wenden  sich  dem  eigenen  Ich  zu.  Dieses  Vorherrschen  der  die  eigene 
Person  in  den  Mittelpunkt  der  Aktion  stellenden  Gefühls-  und  Gedanken- 
tätigkeit mag  nur  Sekunden  währen,  aber  sie  besteht,  und  erst  nachher 
kehren  wir  zum  Gegenstande,  welcher  die  Anregung  dazu  gegeben  hat,  zurück. 

Als  ich  meinen  Fuss  auf  den  höchsten  Gipfel  des  Elbruss  setzte, 
machte  sich  dieses  seelische  Moment  in  intensivster  Weise  geltend.  Nur 
ein  einziges  Mal  hatten  diese  Höhen,  diese  eisigen  Regionen  Menschen  be- 
treten ;  Jahre  waren  seitdem  verstrichen,  und  als  ich  nach  dem  Kaukasus 
zog,  war  das  Erreichen  seines  höchsten  Gipfelpunktes  ein  Hauptziel  meiner 
Wünsche.  Nun  war  es  gewonnen.  Peter  entfaltete  die  kleine  trikolore 
P'ahne  —  die  Farben  meines  Vaterlandes  — ,  welche  wir  mitgebracht  hatten, 
und  stiess  sie,  an  der  Stange  befestigt,  die  er  aus  einem  langen  Aste 
geschnitzt  hatte  und  nicht  müde  wurde  heraufzuschleppen,  in  den  Schnee 
des  höchsten   Elbrussgipfels. 

In  einer  stürmischen  Nacht  im  hohen  Norden,  jenseits  des  Polar- 
kreises mag  sich  dem  in  jenen  eisigen  Weiten  Festgehaltenen  ein  Bild  bieten, 
ähnlich  dem,  welches  wir  am  Elbrussgipfel  sahen.  Durch  eine  nebelerfüllte 
Luft  zeichnete  sich  alles  —  Höhen  und  Tiefen  —  in  unsicheren  Umrissen. 
Ueberall  Eis  und  Schnee.  Soweit  das  Auge  dringen  konnte,  grauweiss  der 
einzige  Farbenton.  Ein  phantastischer  Strom  schien  die  Atmosphäre  zu 
durchzittern;  es  wurde  dunkel,  als  ob  die  Nacht  herabgesunken  wäre.  Nichts 
mehr  erfüllte  um  uns  die  unendliche  Leere;  unter  uns  lag  eisige  Dämmerung, 
und  der  gewaltige,   kalte  Sturm  toste   entfesselt  in   seinem   Reiche. 

Das  Thermometer  war  auf  —  i  i "  C.  gesunken;  ein  Blick  auf  die 
Uhr  zeigte  die  sechste  Abendstunde  —  eine  späte  Stunde  auf  dem  Gipfel 
eines   5629  m  hohen  Berges,   in  unbekannter,  stürmischer  Eiswelt.     Es  galt, 

—     125    — 


Fi.i  i'inAKiici.K  Ai;s-iiK(;.     Orkan.     Ei.siiäN(;e. 

keine  Zeit  zu  verlieren.  Wir  schlugen  einige  (Je.steinstiicke  von  den  höchsten 
Felslagen  ab  —  Biotit-Trachyte  mit  eingesprengtem  Labrador  und  Andesit 
—   und   dann   stürmten  wir  der  Tiefe   zu. 

Während  unseres  fluchtartigen  Abstieges  schien  die  ganze  Natur  in 
Aufruhr  zu  sein.  Der  Orkan  riss  .Schneemassen  vom  Gehänge  mit  sich 
und  trieb  sie  in  tollem  Wirbel  durch  die  Lüfte.  Es  war  der  Kawkasos 
der  alten  Griechen,  die  Lagerstätte  des  Boreas! 

Unser  einheimischer  Begleiter  setzte  uns  jetzt  in  arge  Verlegenheit. 
Mit  seinen  glatten  Ledersandalen  war  es  ihm  unmöglich,  sich  auf  den 
schlüpfrigen  .Schneehängen  zu  halten.  Des  öfteren  waren  wir  genötigt, 
seinetwegen  unser  Vordringen  zu  massigen.  Endlich  gab  ich  ihm  meinen 
Eispickel,  statt  seines  ziemlich  unnützen  .Stockes,  damit  er  sich  desselben 
als  Anker  bediene. 

Immer  noch  hofften  wir,  wenigstens  die  steilen  Firnhänge  mit  Einbruch 
der  Nacht  zurückgelegt  zu  haben,  als  wir  etwa  um  8  Uhr  auf  ein  Terrain 
kamen,  wie  ich  ein  ähnlich  beschaffenes  während  meiner  in  der  Hochregion 
der  Alpen  durch  viele  Jahre  unternommenen  Bergfahrten  nicht  getroffen 
hatte.  Ein  grosser  Abhang,  an  dessen  gefrorenem  Firn  wir  schon  im  Aut- 
stiege viele  Stufen  hacken  mussten,  war  durch  den  Sturm  auf  seiner  Ober- 
fläche von  jedem  .Schneeteilchen  wie  reingefegt  und  bot  eine  glänzende, 
glasige  Eisfläche,  auf  welcher  es  unmöglich  war,  einen  Schritt  zu  machen, 
ohne  Stufen  zu  hacken.  Und  so  mussten  wir  durch  vier  volle  Stunden  in 
der  Finsternis  einer  Nacht  ohne  Mond  und  ohne  Sterne,  der  Kälte  und 
dem  .Sturme  preisgegeben,  noch  in  einer  Höhe  von  über  4000  m,  Stufen 
hauen.  Die  Eissplitter  kollerten  mit  einem  düstern  Geräusch  in  den 
schwarzen  Abgrund,  oder  der  wütende  Orkan  schleuderte  sie  uns  ins  An- 
gesicht. Nur  mit  den  Füssen  tastend,  konnte  man  im  Finstern  die  nächst- 
folgende -Stufe  erreichen.  Ein  einziger  Fehltritt  wäre  unbedingt  verderben- 
bringend gewesen.  Und  doch  mussten  wir  fortfahren,  abwärts  zu  steigen, 
wenn  wir  nicht  an  dieser  abstürzenden  Eiswand  elend  zu  Grunde  gehen 
wollten.  Wir  kämpften  für  unser  Leben.  Die  Erschöpfung  nahm  zu.  Die 
Kälte  wurde  unerträglich;  jeder  Windstoss  durchschauerte  den  Körper  bis 
ins  Mark.  Es  war  oft,  als  würden  uns  plötzlich  die  Kleider  vom  Leibe 
gerissen.  Insbesondere  im  Rücken  empfing  man  diese  plötzliche  Empfindung 
schneidender  Kälte.  Hier  war  es,  wo  das  kleine  Pelzjäckchen  Mohammeds, 
das  ich  tagsüber  um  meinen  Gürtel  geschlungen  getragen  hatte,  mir  aus- 
gezeichnete Dienste  leistete  und  mich  jedenfalls  viel  weniger  unter  der  Kälte 
leiden  liess. 


Um  z\vi;i  I'iir  nachts  im  Biwak. 

Peter  war  der  erste  und  schlug  Stufen,  ich  folgte  tlicht  hinter  ihm, 
dieselben  noch  vergrössernd,  dann  kam  Molley  unel  als  letzter  Burgener. 
Bei  mir  war  vom  ersten  Augenblicke  an,  als  wir  diesen  gefährlichen  Abstieg 
in  Angriff  nahmen,  jede  Müdigkeit  geschwunden,  und  mit  der  grössten 
Energie  trachtete  ich  der  unheimlichen  Situation  Herr  zu  werden.  Unaus- 
gesetzt ermutigte  ich  den  vor  mir  absteigenden  Peter  in  seiner  Arbeit,  rief 
ihm  Beifall  zu,  wenn  mit  machtigen  Hieben  der  Pickel  in  das  spröde  Eis 
einfiel.  Viel  Sorge  machte  mir  Molley,  dessen  Bewegungen  ich  grosse 
Aufmerksamkeit  schenkte;  sowie  er  streckenweise  abstieg,  blieb  ich  ge- 
wöhnlich beobachtend  stehen.  Burgener,  als  letzter,  dirigierte  meist  die 
Richtung  unseres  Abstiegs.  Nach  der  Arbeit  des  langen  Tages,  die  Burgener 
allein,  ohne  Ablösung  geleistet  hatte,  schienen  die  Kräfte  des  starken  Mannes 
erschöpft  zu  sein.  ( )ft  kreuzten  sich  unsere  Stimmen  in  gegenseitigen 
Zurufen,   oft  unhörbar   im    Wüten   des  Orkans. 

Endlich  kam  das  Ende,  und  gegen  Mitternacht  sahen  wir  unter  uns, 
in  den  Dämmernissen,  eine  Felspartie,  die  sich  vom  Schnee  abhob.  Noch 
einige  Schritte,  und  wir  waren  bei  ihr  angelangt.  Es  war  die  Schnee-Ebene, 
in  welcher  wir  am  Morgen  unsere  erste  Rast  gemacht  hatten.  Wie  durch 
ein  Wunder  hatten  wir  die  Richtung  nicht  verloren,  obgleich  alle  Spuren 
unseres  Anstiegs  verwischt  oder  in  finsterer  Nacht  unkenntlich  waren,  wenn 
es  auch  möglich,  ja,  wahrscheinlich  ist,  dass  wir  uns  etwas  zu  weit  links 
gehalten  hatten  und  so  gezwungen  waren,  über  einen  Steilabfall  der  Eis- 
halde niederzusteigen. 

Der  pulverige  Schnee  wurde  wieder  bodenlos.  Wind  und  Kälte 
hatten  nachgelassen.  Zum  Schlüsse  verloren  wir  doch  noch  die  Richtung 
unseres  Biwaks,  und  jetzt  hatten  wir  es  unserm  Tataren  Molley  zu  verdanken, 
dass  er  uns  auf  die  richtige  Fährte  brachte,  nachdem  er  sich  bis  zu  diesem 
Augenblicke  damit  begnügt  hatte,  uns  zu  folgen,  ohne  während  der 
ganzen,  langen  Zeit  des  Abstiegs  auch  nur  ein  einziges  Wort  gesprochen 
zu  haben. 

Eine  halbe  Stunde  sjjäter,  um  2  Uhr  morgens,  befanden  wir  uns  auf 
der  Kante  des  Felsrückens,  unter  welcheni  das  Zeltbiwak  lag.  Hier 
brachen  wir  die  Pliszapfen  los,  welche  seit  Mittag  an  Haar  und  Bart  hingen. 
Um  2  Uhr  30  Minuten  nachts  kamen  wir  bei  unserm  Zelte  an.  Die  Träger 
lagen  da,  zusammengekauert,  einer  neben  dem  andern  und  begrüssten  uns 
mit  frenetischer  F"reude.  Sie  hatten  uns  für  verloren  gehalten.  Vor  allem 
bereiteten  wir  eine  heisse  Suppe;  seit  10  Uhr  morgens  hatten  wir  weder 
gegessen   noch   getrunken.      Dann   krochen  wir  ins  Zelt. 

—      127     — 


Ur.KK    Dlh;    iMvS'l  KICLNC    DES    Kl-llKUSS. 

Unsere  Fahrt  auf  den  ElbriissL^ipfel  kann  kein  ganz  richtiges  Bild 
einer  Ersteigung  desselben  geben  oder  eigentlich  nicht  vollkommen  mass- 
gebend für  die  Summe  von  Schwierigkeiten  und  Mühsalen  sein,  welche 
auf  einer  solchen  überwunden  werden  müssen.  Sie  wurde  eben  unter  ganz 
ausserordentlichen  Umständen  durchgeführt,  und  auch  aus  der  Ersteigungs- 
geschichte der  Alpen  ist  es  bekannt,  wie  die  augenblicklichen  Verhältnisse 
eines  Berges  bestimmend  auf  die  Schwierigkeiten  und  Gefahren  seiner  Er- 
steigung wirken.  Vor  allem  hatten  wir,  statt  um  Mitternacht  oder  jeden- 
falls noch  vor  Tagesanbruch  aufzubrechen,  unser  Biwak  erst  gegen  7  Uhr 
morgens  verlassen,  das  heisst,  wir  begingen  eine  Tat,  die  selbst  in  den 
Alpen  bei  gutem  Wetter,  genauer  Kenntnis  des  Terrains  zu  den  grössten 
Seltenheiten  gehört,  trotzdem  es  sich  um  Hochgipfel  handelt,  die  um  mehr 
als  1000  m  niedriger  sind.  Nahezu  vier  Wochen  lang  hatte  diesmal  an 
der  Nordseite  des  zentralen  Kaukasus  das  schlechte  Wetter  gedauert,  der 
Schnee  war  infolgedessen  in  sehr  schlechter  Beschaffenheit,  und  am  Tage 
der  Ersteigung  selbst  hatten  wir  ungünstiges  Wetter  auf  einem  Berge  ge- 
troffen, den  keiner  von  uns  früher  betreten  hatte.  Das,  was  wir  taten,  ist 
vielleicht  nicht  ganz  zu  rechtfertigen;  doch  waren  es  besondere  Umstände, 
welche  uns  dazu  bewogen,  wir  wollten  dann  nicht  zurückkehren,  als  wir 
sahen,  dass  das  Unternehmen  gefährlich  wurde,  weil  wir  X'ertrauen  in  unsere 
Kraft  und  Erfahrung  hatten,  bewährt  durch  eine  Reihe  von  Jahren  bei 
schwierigen  und  grossen  Expeditionen  in  den  europäischen  Hochalpen,  und 
weil  .  .  celui  qui  n'a  jamais  eu  ses  heures  de  folie  est  moins  sage  qu'il 
ne  le  pense«,  sagt  irgendwo  La  Bruyere. 

Der  lange  Stunden  währende  Marsch  im  Anstiege  über  unermessliche 
Schneefelder  wird  am  I-dbruss  immer  eine  mühselige  Aufgabe  bleiben, 
welche  noch  durch  schlechte  Beschaffenheit  des  Schnees  ausserordendich 
erschwert  werden  kann,  aber  eigentliche  Schwierigkeiten,  technische 
Schwierigkeiten,  entweder  im  Eis  oder  im  Fels,  bietet  der  Berg  nach  dem 
heutigen  Stande  der  Kunst  des  Bergsteigens  nicht.  Dagegen  birgt  er  bei 
schlechtem  Wetter  ernste  Gefahren,  denn  Kälte  und  Wind  werden  immer 
furchtbare   und   zu   fürchtende   Gegner  am   Elbruss  bleiben. 

Eine  Frage,  welche  bei  der  Schilderung  der  Ersteigung  des  Elbruss, 
eines  5629  m  hohen  Gipfels,  sich  aufwirft,  ist  die  über  die  Wirkung  der 
verdünnten  Luft  auf  den  Reisenden.  Ich  glaube  nicht,  dass  einer  von  uns 
in  einem  Zustande  gewesen  wäre,  welchen  man  derselben  hätte  zuschreiben 
können.  Alle  hatten  wir  an  Müdigkeit  und  Erschöpfung  zu  leiden,  als  wir 
in   die  höheren  Regionen  gelangten,   aber  Gefühle  von  Uebelbefinden,   Brech- 


Ein\vikkl;n(_;  der  verdünnten  Luet. 

reiz  oder  wirkliches  Erbrechen,  Nasen-  und  Ohrenbkiten  oder  wie  immer 
sich  die  Erscheinungen  der  sogenannten  Bergkrankheit  darstellen  mögen, 
habe  ich  weder  an  mir,  noch  an  meinen  Begleitern  konstatiert.  Wie  bei 
den  meisten  Ersteigungen,  welche  lange  über  Firnterrain  führen,  musste  in 
der  letzten  Strecke  oft  angehalten  werden,  um  einige  Minuten  stehend 
auszuruhen.  Bei  mir  äusserte  sich  die  Müdigkeit  während  des  letzten 
Teiles  des  Anstieges  in  einer  Schwäche  der  Kniemu.skeln,  und  bei  Burgener 
im  Abstiege  über  die  Firnhalden  in  einer  hochgradigen  Mattigkeit.  Aber 
dies  scheint  unvermeidlich  zu  sein,  wenn  man  die  Ersteigung  eines  so  hohen 
Bergfes  unter  besonders  schwierigen  Verhältnissen,  wie  es  diesmal  der  Fall 
o-ewesen,  unternimmt,  so  wie  auch  nie  ausser  acht  (gelassen  werden  darf, 
dass  das  physische  Befinden  des  Bergreisenden  im  Kaukasus,  wie  über- 
haupt in  ausserhalb  der  europäischen  Zivilisation  gelegenen  Hochgebirgen, 
infolge  der  Entbehrungen,  schlechter  Ernährung,  fortgesetzt  schlechten 
Lagers,  grösserer  Mühen  und  Sorgen,  ein  entschieden  ungünstigeres  ist, 
als  des  in  den  heimischen  Alpen  sich  trainierenden  und  wieder  behaglich 
ausruhenden,  Kräfte  sammelnden  Hochtouristen.  Aber  keiner  von  uns  hatte 
ein  besonderes  Uebelbehnden  gefühlt,  welches  direkt  der  verdünnten  Luft 
hätte  zugeschrieben  werden  können. 

Wir  ruhten  einige  Stunden  im  Zelte  und  brachen  dann  das  Biwak 
ab.  Ich  und  Peter  hatten  an  den  P^issen  PVostschäden  davongetragen,  und 
Burgener  hatte  zwei  Finger  der  rechten  Hand  erfroren.  Fürst  Ismael  be- 
handelte die  Frostschäden,  indem  er  an  Quellen  und  Bächen  gesammelte 
Kräuter  und  Wasserfäden  auf  dieselben  legte.  Burgener  litt  zwei  läge 
lang  grosse  Schmerzen,   und  Peter  bekam  Blasen  an  den  P"üssen. 

Man  nahm  Abschied  von  Kosch  Asau  und  zog  Urussbiehwärts. 
Burgener  hatte  recht  gehabt,  das  Wetter  war  nun  ganz  schlecht  geworden,  zeit- 
weise regnete  es.  Drei  Stunden  unterhalb  Kosch  Asau  bezogen  wir  bei  einer 
im  Sommer  bewohnten   Hütte,   unter  schützendem  Dach,   ein  Nachtquartier. 

Am  25.  August  wanderten  wir  dann  in  strömendem  Regen  nach 
Urussbieh,  und  triumphierend  hielten  wir  unsern  Einzug  im  Aul.  Die  ganze 
Bevölkerung  war  auf  den  Füssen,  besser  auf  den  Dächern.  Die  Ange- 
sehensten im  Dorfe  begrüssten  uns  auf  dem  kleinen  freien  Platze,  wo  die 
Brücke  über  den  Kyrtykbach  führt.  Die  Ausrufe:  Allah  il  Allah  Illaha«, 
untermischt  mit  ?Minghi-Tau  und  andern,  weniger  verständlichen  Aeusse- 
rungen  der  Beglückwünschung  und  der  Bewunderung  seitens  der  Tataren, 
wollten  kein   Ende  nehmen. 

Dechy:    Kaukasus.  9 


Suanetische  Träöcr  auf  dem   Mar; 


X.  KAPITEL. 


Aus  dem  Bakssantale  über  den  Betseho-Pass 
nach  Swanetien. 

Die  ganze   Majestät   des   wiiinlersameu   Kaukasus 
Fiiiilet   iu   Hochsuanien   ihre   Spitze   .   .   . 

Al.ich. 

Mit  der  durchgeführten  Ersteigung  des  Elbruss  war  ein  Hauptpunkt 
des  Reiseprogrammes  erfüllt.  Bei  Eeststellung  desselben  hatte  ich  weniger 
auf  die  Möglichkeit,  viele  Ersteigungen  auszuführen  —  die  uns  jedenfalls 
zu  lange  in  einer  Gruppe  festgehalten  hätten  — ,  sondern  hauptsächlich 
darauf  Rücksicht  genommen,  einen  grossen  Teil  des  zentralen  kaukasischen 
Hochgebirges  kennen  zu  lernen.  Aus  dem  Bakssantale  sollte  jetzt  auf 
einem  von  Reisenden  noch  nicht  begangenen  Gletscherpasse  der  Haupt- 
kamm überschritten  werden,  um  in  das  im  Süden  desselben  liegende 
Längenhochtal  des  Ingur,   nach  Swanetien,  zu  gelangen. 

In  Urussbieh  musste  ich  den  für  mehrere  Tage  nötigen  Proviant, 
insbesondere    Brot,    beschaffen    und   Träger    für     mein    Gepäck    anwerben. 

—      130     — 


MANf;Ei.  .w  Pkovisioxex  in  Ukussüieii. 


Folgendes  finde  ich  in  meinem  Notizbuche:  »26.  und  27.  Aucrust:  das 
schlechte  Wetter  hält  an,  am  28.  tritt  rasch  Besserung  ein,  der  Himmel 
kliirt  sich  und  der  29.  August  ist  ein  schöner,  wolkenloser  Tao- !  Aber 
trotz  aller  Bemühungen  und  Kämpfe  konnte  ich  den  Aufbruch  nicht  er- 
zwingen, nicht  nur,  dass  die  Pferde,  welche  bis  zur  Mündung  des  Jussengi- 
tales  die  Lasten  tragen  sollten,  nicht  zum  Vorschein  kamen,  es  war  auch 
unmöglich,  Brot  oder  irgendwelche  Ergänzung  unserer  Provisionen  zu  er- 
halten. Ich  glaube,  es  gab  im  Aul  absolut  keinen  Stoff,  aus  welchem 
Brot  gebacken  werden  konnte,  und  berittene  Boten  waren  zu  dem  be- 
freundeten Fürsten  nach  Tschegem  gesandt  worden,  um  von  dort  Mehl  zu 
bringen.  Die  glänzende  Kavalkade,  welche  sich  vierzehn  Tage  früher 
in  das  Lager  beim  Kosch  Asau  begab,  hatte  wie  ein  Heuschrecken- 
schwarm  alles  im  Bakssantale 
aufgefressen.« 

30.  August.  Um  10  Uhr 
vormittags  verliessen  wir  Uruss- 
bieh.  Ich  nahm  mit  dem  Aus- 
drucke aufrichtigen  Dankgefühls 
Abschied  von  meinem  Gast- 
freunde, Ismael  Urussbiew  und 
von  unserm  Reisegefährten  der 
letzten  Wochen,  seinem  Bruder 
Hamsat.  Die  Verzögerungen  in 
der  Beschaffung  der  Pferde, 
Träger  und  des  Proviantes 
liegen  in  den  Verhältnissen,  in 
der  Beschränktheit  der  zur  Ver- 
fügung stehenden  Mittel,  in  der 
orientalischen  Unkenntnis  des 
Wertes  der  Zeit.  Ismael  Uruss- 
biew war  unter  den  Bergbewoh- 
nern des  Kaukasus  der  einzige, 
der  nicht  nur  Verständnis  für 
die  Ziele  und  Zwecke  der  Reisen- 
den entgegenbrachte,  sondern 
der  selbst  ein  kühner  läger,  ein 
begeisterter  Naturfreund  war,  sich 
für    alles,    insbesondere     Natur-  ismael  Urussbiew. 


In    HAS    jLSSKMiI-T.\L. 

Wissenschaften,  lebhaft  interessierte  und  in  schöner,  gutherziger  Weise 
edle  Gastfreundschaft  übte. 

Auch  diesmal  hatte  Ismael,  so  gut  er  konnte,  für  uns  gesorgt.  Das 
wichtigste  war,  die  nötigen  Tnäger  zu  beschaffen.  Die  Bakssantataren  sind 
zu  wohlhabend  und  gehen  nur  ungerne  —  noch  dazu  mehr  oder  weniger 
schwer  bepackt  —  über  die  hohen  Gletscherpässe.  Ismael  warb  für  uns 
Swanen  als  Träger,  welche  gewöhnlich  im  Sommer  nach  dem  Norden  der 
Kette  kommen,  um  dort  als  Feldarbeiler  Geld  zu  verdienen,  und  die  in 
ihrer  Armut  gerne  bereit  waren,  den  sich  ihnen  als  Träger  bietenden  Ver- 
dienst zu  gewinnen.  Doch  Ismael  begnügte  sich  nicht  damit,  sondern  einer 
seiner  Diener,  der  Bakssantatare  Mohammed,  mussle  uns  begleiten,  um  uns 
bei  den,  mit  den  Urussbiews  in  verwandtschaftlichen  Beziehungen  stehenden 
Swanenfürsten  einen  guten  Empfang  zu   sichern. 

Wir  wanderten  im  Bakssantal  aufwärts,  bis  wir  an  die  enge  Schlucht 
gelangten,  aus  welcher  der  lussengi-Bach  hervorbricht.  W'ir  bogen  in  dieses 
Seitental  und  stiegen  durch  beinahe  undurchdringlichen  Wald.  In  einem 
Teile  desselben  hatten  Sturm  und  Lawinen  verheerend  gewütet.  Es  folgt 
eine  steinige  Talstufe.  Kein  Grün  ist  mehr  sichtbar.  Alles  ist  unsagbar 
wild.  Am  Ende  einer  ebenen,  vom  Bache  durchzogenen,  mit  Pelsblöcken 
und  Geröll  übersäten  Fläche  liegt  die  gleichfalls  mit  schwarzem  Schutt 
bedeckte  Zunge  eines  Gletschers,  den  ich  Jussengi-Gletscher  nannte.  Ueber 
demselben  bildet  ein  schön  geformter,  schneeiger  Bergwall  den  Abschluss 
des  Tales,  in  welchem  zur  Linken  des  Beschauers  —  östlich  —  unser 
Uebergang  liegen  soll.  Betscho-Tau  nannten  ihn  unsere  Leute.  Betscho 
heisst  das  im  Süden  der  Kette  liegende  -Seitental  des  Ingur,  in  welches 
der  Uebergang  führt,  und  Tau,  die  tatarische  Bezeichnung,  wird,  wie  wir 
sehen,  sowohl  für  einen  einzelnen  Berg,  als  auch  für  eine  Kette  oder 
Gruppe  und  auch  für  Uebergänge  angewendet,  ähnlich,  wie  in  einem  Teile 
der  östlichen  Alpen  das  Wort  Tauern  (Tau  —  Tauern:)  für  die  Kette  und 
auch  als  Gattungsname   für  die  Uebergänge  benützt  wird. 

In  der  Nähe  des  Gletschers,  in  der  Höhe  von  etwa  2400  m.  schlugen 
wir  um  7  Uhr  abends  das  Zelt  auf.  Burgener  war  krank  geworden  und  sein 
Befinden  gab  zu  ernster  Besorgnis  Anlass.  Ich  beobachtete  den  Kranken, 
blätterte  im  medizinischen  Handbuche  und  entnahm  der  Reiseapotheke 
mehrere  Medikamente.  Leider  habe  ich  vergessen  zu  notieren,  was  ich  ver- 
ordnete, und  ich  bedauere,  dadurch  vielleicht  die  medizinische  Wissenschaft 
geschädigt  zu  haben,  denn  die  verordneten  Mittel  wirkten;  Burgener  fühlte 
sich  später  bedeutend  besser  und   am  Morgen  war  er  marschfähig.     Ich  Hess 


DkR  JUSSKNGI-GLETSfllER. 

ihn,  narhdcni  rasch  der  Morgcntce  bc;r(jitct  wvirdi;,  sofort  abzic;h(;n,  dainii 
er  langsam  einen  Yorsi^rung  gewinne,  indc;s  ich  das  Lager  abbrechen, 
jjacken  und  dit;  Lasten  noch  unter  die  Träger  verteilen  musste.  Wie  immer, 
war  dies  keine  leichte  Arbeit.  Im  ö'/s  Uhr  —  es  war  der  31.  August  — 
konnten  auch  wir  den  Lagerplatz  verlassen.  In  der  Nacht  war  es  bitterkalt 
gewesen,  aber  um  so  prächtiger,  wolkenlos  war  dc;r  Tag  angebrochen. 
Die  Entfernungen  im  Gebirge  täuschen  leicht,  wir  brauchten  verhältnis- 
mässig lange,  bis  wir  über  die  geröllbedeckte  Ebene  an  den  Jussengi-Gletscher 
gelangten.      Das  Ende  desselben  lag  bei  2466  m  (A.  D.).     Am   linksseitigen 


Die  Gipfel   des   iJongusorun  mit  dem  Jussengi-Gletscher. 

Talgehänge,  teilweise  über  bedeutend  entwickelte  Seitenmoränen,  stiegen  wir 
an,  und  nach  etwa  zwei  Stunden  betraten  wir  das  Eis.  Schon  früher  waren 
wir  mit  Burgener  zusammengetroffen,  dem  der  Morgenspaziergang,  wie  es 
schien,  gut  bekommen  war.  Höher  oben  war  es  ein  entzückendes  Gemälde, 
welches  der  Gletscher,  der  ein  inmitten  aufragendes,  felsiges  Vorgebirge  umflutet, 
mit  den  in  edeln  Linien  sich  über  ihm  erhebenden  Eirngipfeln  des  Dongusorun 
bietet,  glänzend  in  der  Lichtfülle  und  in  der  klaren  Atmosphäre  dieses  Morgens. 
Der  Anstieg  zur  Passhöhe  führt  aber  steile  b'irnhänge.  Nur  wenige 
Spalten  kreuzten  den  Pfad.  Der  Schnee  war  gut  und  wir  kamen  rasch  vor- 
wärts.     Vier    Stunden     brauchten   wir    bis    auf    den     Betscho-Pass,     der     in 


133 


Aussicht  vom  Betscik)-Pass. 

der  Hohe  von  3375  ni  (3390  m  A.  D.)  im  1  laui)tkamme  einge- 
schnitten   ist. 

Ein  wütender  Sturm  fing  sich  in  den  granitnen  FelskHppen,  welche 
der  schneeigen  Passhohe  entragen,  aber  kein  Wölkchen  zeigte  sich  am  lichten 
Firmamente.  Im  Norden  sind  es  die  Elbrussgi|)fel,  welche,  alles  beherrschend, 
sich  zu  erdrückender  Grösse  und  Höhe  erheben.  Von  hier  gesehen,  kamen 
die  mächtigen  Dimensionen  des  eisigen  Vulkans  zu  voller  Geltung.  Schneeige 
Staubwolken  riss  der  Orkan  von  den  Plrnhöhen  des  Berges.  Deutlich 
konnte  man  die  Richtungslinie  unseres  vor  acht  Tagen  ausgeführten  Auf- 
stieges verfolgen.  Dort  brechen  sie  hervor,  die  dunkeln  Trachytfelsen,  aus 
der  weissen  Hülle,  willkommene  Rastpunkte  in  der  weiten  Schneewüste. 
Deutlich  war  die  F"elskante  am  höchsten  Gipfel  kenntlich,  auf  welchem  wir 
die  Fahne  des  Siegers  pflanzten.  Der  Eindruck,  den  der  Anblick  des 
mächtigen  Berges  hervorrief,  wäre  für  jedermann  ein  überwältigender  ge- 
wesen, für  mich  war  er  mehr.  Das  stolze  Bewusstsein  vollbrachter  Tat 
mischte  sich  in  meine  Bewunderung.  Warum  dies  nicht  eingestehen?  Warum 
nicht  den  Lohn  für  den  mutig  und  andauernd  geführten  Kampf  einheimsen.? 
Warum  nicht  den  Reiz  durchkosten,  den  das  Bewusstsein  in  sich  birgt,  das 
gekonnt  zu  haben,  gekonnt  aus  eigener  Kraft,  woran  andere  gescheitert 
waren,  was  andere  nicht  vermocht  hatten;  das  erreicht  zu  haben,  was  nur 
wenige   vor    uns    erreichten,    was    nur   wenigen    zu    erreichen    vergönnt    ist? 

Im  Süden  erscheint  in  der  torähnlichen  Oeffnung,  welche  zu  beiden 
Seiten  der  Firnhöhe  dunkle,  schneebedeckte  Felsklippen  bilden,  eine  Hoch- 
gebirgsansicht,  ebenso  grossartig  als  schön.  In  bogenförmigem  Zuge  erhebt 
sich  dort  eine  vom  Hauptkamme  westlich  unseres  Standpunktes  ausstrahlende, 
von  zahlreichen  Hängegletschern  bedeckte  Bergkette,  die  mit  ihrer  Wendung 
gegen  Osten  parallel  mit  dem  Hauptkamme  streicht.  Aus  einer  von  Aus- 
läufern des  Dongusorun- Massivs  umschlossenen  Bucht  ziehen  die  zer- 
schrundeten  Firnmassen,  welche  tiefer  unten  den  Dolra- Gletscher  bilden. 
Es  war  dies  eine  neue,  ungeahnte  Welt  von  Bergen  und  Gletschern,  die 
keine  Karte  angedeutet  hatte,  lieber  den  westlich  den  Passeinschnitt  be- 
grenzenden, schneebehangenen  Felszügen,  deren  Höhenlinie  eine  haarscharfe 
Firnschneide  bildet,  bot  sich,  an  diese  Berge  anschliessend,  ein  kleines 
Segment  einer  P'ernsicht.  Es  war  eine  in  sanften  Linien  verlaufende  Berg- 
reihe, die  obersten  Partien  eines  Teiles  der  im  Süden  des  Ingur -Tales  sich 
erhebenden  Leila-Kette.  Makellos  war  dort  alles  in  bläulichweissen  Schnee 
gehüllt,  von  einer  herrlichen  Farbenzartheit,  welche  die  ausserordentlich 
durchsichtige   Atmosphäre  des  Tages  zur   Geltung  kommen  Hess. 


Lei  la  -  Kette 


Tscharinda  3579  m 


VO/A  BeTSCHOPaSS  (3'!)75  /AETEI 


Dolra-GIetscher 


GEGEN  Süden  und  Südwesten. 


AiisTiKc  IX  DAS  Tal  des  Doi.ka-tsc-iiala. 

Der  Versuch,  trotz  des  rasenden  Sturmes  eine;  photographische  Auf- 
nahme zu  machen,  war  vergebHch.  Rasch  wurden  einige  Bissen  Nahrung 
crenommen  und  mit  den  'rrägern,  die  einstweilen  uns  nachgekommen  waren, 
der  Abstieg  begonnen.  Schon  nach  kurzem  Gange  entzogen  die  Bergwände 
uns  dem  Winde,  hn  tiefen  Schnee  wurde  der  photographische  Apparat 
aufgestellt  und  prächtige  Bilder  der  Rundschau  belohnten  die  etwas 
frostige  Arbeit. 

Und  nun  vorwärts.  .Spalten  durchziehen  die  Firnhalden.  Wir  legen 
das  Seil  an.  An  einigen  Stellen  bedeckt  nur  eine  dünne  .Schneeschichte 
das  Eis,  und  wir  schlagen  zur  Sicherheit  einige  Stufen  in  dasselbe.  Burgener 
muss  an  einer  Stelle  zurück,  den  Trägern  Seil  und  Hakenstöcke  reichen, 
deren  Anwendung  sie  nicht  genug  anstaunen  und  würdigen  konnten.  Mit 
Umwegen  und  Zeitverlust  ist  auch  ohne  beides  durchzukommen,  der  Mangel 
derselben  muss  jedoch  an  den  Unglücksfällen  Schuld  tragen,  welche  nach 
den  Angaben  der  Eingeborenen  in  den  seltenen  Fällen  sich  ereigneten, 
wenn  Not  oder  vielleicht  Raubsucht  die  Eingeborenen  zum  Ueberschreiten 
der  Hochpässe  des  schneebedeckten  Hauptkammes  veranlas.ste. 

Den  gewundenen  milderen  Teil  des  Gletschers,  der  steil  und  zer- 
klüftet abfällt,  umgingen  wir  an  den  Felsflühen  zu  seiner  Linken  und  stiegen 
dann  zum  wenig  geneigten  Gletscherende  hinab,  das  von  mächtigen  Stein- 
blücken  und  Trümmermassen  bedeckt  ist. 

Der  Dolra-Gletscher,  der  im  Abstiege  durch  seitliche  Felswände  ver- 
deckt war,  wird  jetzt  in  einer  Talöffnung  im  Westen,  die  der  bis  beiläufig 
2500  m  herabreichende  Eisstrom  erfüllt,  sichtbar.  Die  Firnhöhen  liegen  im 
gleissenden  Lichte  der  schräg  auffallenden  Nachmittagssonne.  Vom  oro- 
graphischen  Aufbau  dieser  durch  hohe  Querjoche  und  mit  dem  Hauptkamm 
parallel  laufende  Seitenketten  gebildeten  obersten  Ke.ssel  der  in  das  Ingur- 
tal  mündenden  Seitentäler,  von  ihrem  Gletscherreichtum,  hatte  man  keine 
Ahnung.  Das  obere,  vom  Dolra-tschala*)  durchströmte  Betscho-Tal  verdankt 
sein  Entstehen  den  kristallinischen  Felsarten  der  es  umschliessenden  Berg- 
ketten, meist  Granite,  welche,  wie  in  den  Alpen,  in  der  Montblanc-  und  in 
der  Pelvouxgruppe,  die  Neigung  haben,  doppelte,  parallellaufende  Bergzüge 
zu   bilden. 

Die  Gletscherbäche,  welche  die  oberste  ebene  Talstufe  durchzi^^hen, 
sammeln  sich  und  graben  sich  etwas  weiter  unten  einen  tiefen  Einschnitt 
in  das   eranitische   Gestein.      Die   Tahvände   treten   nahe  zusammen,    und   an 


*)  Tschala  bedeutet  im   Swanetischen  I5ach. 
—      135 


Kaukasisci IE  Gkössenverhältmsse. 


Uolra- Gletscher. 

Steilen,  steinigen  Hängen  der  von  Nord  nach  Süd  ziehenden,  engen  Schhicht 
geht  pfadlos  unser  Weg,  bald  bergauf,  bald  bergab.  Jetzt  beginnt  dichtes 
Buschwerk,  Rubus-,  Sambucus-,  Juniperus-Gesträuche,  die  Wände  zu  über- 
wuchern,  durch   welches   wir   uns   durchkämpfen   müssen. 

Kaukasische  Grossenverhältnisse  machen  sich  geltend  —  denn  wir 
wandern  ohne  Unterbrechung  stundenlang,  und  noch  immer  nehmen  die 
Steilwände  der  Schlucht  kein  Ende.  Die  schwer  bepackten  Träger  ermüden, 
und  es  wirkt  komisch,  wenn  sie  dies  mit  Gebärden  anzeigen  wollen,  indem 
sie  auf  ihre  schlotternden  Knie  weisen  und  dabei  ein  jammervolles  Gesicht 
schneiden : 

»Dennoch  werden  gemach  die  Glieder  ihm  schwer, 

Und  es  quälen   Hunger  zugleich  und  Durst, 

Und  dem   Gehenden   wanken   die  Knie.« 

lilias  .\I.\  ) 

Doch  nirgends  bietet  sich  das  kleinste  ebene  Fleckchen,  um  zu  lagern, 
nirgends  ein  Tropfen  Wasser  an  diesen  Granitwänden,  indes  in  der  liefe, 
unnahbar,  der  schäumende  Gletscherbach  rauscht.  Endlich  weitet  sich  die 
Enge,  und  als  wir  aus  derselben  treten,  nimmt  die  Landschalt  den  Charakter 
eines  freundlichen,  grünenden  Hochtales  an,  das  sich  mit  einer  scharfen 
Biegung  nach  Osten  w-endet.  Aus  einer  Talöffnung  zur  Rechten  strömen 
die   einem   bedeutenden  Gletscher  entspringenden  Wasser  des  Kwisch-Baches. 


136    — 


SrilWlEKTCKS    l''i;ERSE'rZE\    nKR    Gl.ETSCIlERüÄClII-:. 

Das  Gehänge,  an  welchem  wir  niedersteigen,  beginnt  sich  mit  Nadel- 
hölzern zu  bekleiden.  Ein  weiter  Blick  trägt  hinaus  auf  bewaldete  Berg- 
wände und  auf  die  grünen  Mattengründe  der  noch  fernen  Tiefe,  lieber 
derselben  erscheint  die  lange  Linie  der  an  schön  geformten  Gipfeln  so  reichen 
Leilakette  in  blendendem  Schneekleide,  welches  sich  vom  herrlichen,  saftigen 
Grün   der  vorliegenden,   sie  umrahmenden   Bergwände  abhebt. 

Ein  scharfer  Abstieg  bringt  links  zur  Mündung  einer  kleinen  Seiten- 
schlucht, aus  welcher  milchigtrübe  Gletscherwasser  hervorbrausen.  Felsiges 
Geklippe  steht  im  Hintergrunde  der  Schlucht,  wo  Uschba  thronen  niuss. 
Ein  Vorgipfel  ragt  in  brüchigen  Felswänden,  die  ein  Schneecouloir  durch- 
zieht, empor.  Dann  wird  ein  höherer,  von  einer  Firncorniche  gekrönter 
Gi[)fel  sichtbar.  Wallende  Nebeldünste,  von  einfallenden  Sonnenstrahlen  er- 
leuchtet, schwimmen  um  die  Höhen  und  verhüllen  sie  immer  wieder.  Ueber 
der  Schlucht  wird  das  Ende  eines  Gletschers  sichtbar,  welcher  in  seiner 
ganzen  Breite  bis  an  den  Höhenrand  der  abfallenden  Felswände  reicht.  An 
demselben  brechen  die  Eismassen  ab;  an  einzelnen  Stellen  treten  sie,  gleich- 
sam überfliessend,  über  die  belskanten  hinaus.  Die  glattgeschliffene  Stein- 
mauer ist  jetzt  eisfrei  und  die  Gletscherwasser  stürzen  in  zwei  Wasserfällen 
zerflatternd  über  dieselbe.  Einst,  da  die  Eismassen  des  Gletschers  weit 
hinaus  ins  Tal  reichten,  mussten  sie  über  diese  Felswände  fluten  und  einen 
riesigen  Eisfall  gebildet  haben.  Ohne  Steg,  wie  überall  in  diesen  menschen- 
leeren Gegenden,  macht  uns  das  Uebersetzen  des  aus  dieser  Schlucht  her- 
vordringenden, nach  der  Hitze  des  Tages  mächtig  angeschwollenen 
Gletscherbaches  nicht  geringe  Mühe.  Wir  mussten  Bergstänime  herbei- 
schleppen, Felsblöcke  in  das  Wasser  rollen.  Nach  schwerer  Arbeit  gelang 
es,  das  tosende  Bergwasser  zu  überschreiten,  allerdings  nicht  ohne  CJefahr, 
von  den  glatten,  vom  überschäumenden  Wasser  nassen  Stämmen  abzu- 
rutschen. 

Nun  umfängt  uns  herrlicher  Wald.  Zu  riesiger  Höhe  wachsen  die 
Nordmannstannen  Sie  stehen  nicht  zu  dicht  und  gestatten  die  volle  Be- 
wunderung der  einzelnen  Baumformen.  Das  Dunkel  des  Abends  lagert 
sich  auf  die  Landschaft,  das  letzte  Gold  der  .Sonne  schiesst  durch  die 
lannenzweige. 

Im  Walde  schlugen  wir  um  7  Uhr  abends  unser  Lager  auf,  sieben 
•Stunden  nach  tlem  Verlassen  der  Passhöhe.  Alle  mussten  mithelfen.  Es 
scheint,  dass  der  in  Aussicht  gestellte  Tee  die  Mannschaft  zu  rascher  Arbeit 
aneiferte.  —  Bald  war  Brennholz  und  Wasser  zur  Stelle  geschafft.  Burgener 
hatte    sich    mit   Steinplatten    den    Kochherd    zurecht    gemacht.      Eine   -Suppe 

—     137    — 


Das  W.\i.ni;T\vAK  im  oüeren  Betscho-Tale. 

wurde  gekocht,  und  ilann  teilten  wir  uns  in  die  Reste  des  Proviants.  Wie 
immer   mundete   dann   zimi   Schlüsse   kiistlicher  Tee. 

Ich  ging  später  an  den  Saum  des  Waldes  und  sah  von  einer  hohen 
Uferterrasse  des  Baches  hinaus  in  das  Tal.  Zwischen  lichten  Wolken  trat 
dort  der  Mond  hervor,  erhellte  die  in  ferne  Tiefen  versinkende,  waldige 
Landschaft  und  glitzerte  in  der  Höhe  auf  den  silbernen  Schneefeldern  der 
in  phantastischen  Formen  aufragenden  Bergzinnen.  Es  war  still  und  ruhig, 
nur  das  schwache   Rauschen   eines  nahen  W^assers  war  hörbar. 

Als  ich  zum  Lager  zurückkehrte,  ruhten  dort  die  Swanen  am  glimmenden 
Feuer,  im  tiefen  Schlaf  nach  des  Tages  Mühen.  Das  sanfte  Licht  des 
Mondes,  welches  das  Tal  umflutete,  erhellte  auch  das  Waldesdunkel.  Ein 
unnennbarer  Zauber  umwob  das  Waldbiwak;  die  lebhafteste  Phantasie  könnte 
nichts  Schöneres,  Packenderes  erdenken.  Allein  in  den  fernen  Bergen,  ge- 
noss  ich  in  vollen  Zügen  das  Schöne  und  Fremdartige,  das  mich  umgab. 
Spät  ging  ich  zur  Ruhe. 

I.  September.  Schon  als  der  Morgen  graute,  war  alles  im  Lager 
wach,  und  rasch  waren  wir  wieder  marschbereit.  Wir  wandern  zuerst  durch 
eine  ebene  Talstufe  des  wieder  von  Nord  nach  Süd,  als  Ouerschlucht  zum 
Ingur  ziehenden  Tales.  Noch  lange  bleibt  die  Leilakette  vor  Augen,  vom 
zarten  Licht  des  Morgens  umflossen,  ein  wunderbarer  Anblick.  Bevor  wir 
dem  Bach,  der  sich  wieder  durch  einen  steilen  Talriegel  den  W^eg  ge- 
schnitten hat,  abwärts  folgen,  blicken  wir  zurück.  Mit  hohen,  zirkusförmigen 
Wänden  baut  sich  der  Abschluss  des  Tales  auf.  ¥Än  scharfer  Abstieg 
bringt  auf  ebenes,   grünes  Wiesengelände.      Dichter  Wald  bekleidet  die  Berg- 


Abschluss   des    Betscho-Tales. 
—      138     — 


Empfaxc;  i\  Maskki  ükim  Füks'ikn  Dadiscii-Kiltam. 

hänge.  Später  bemerkt  man  bebaute  b'elcler,  und  ein  breiter,  ausgetretener 
Pfad  kann  verfolgt  werden;  dann  kommt  man  zu  mehreren  Steinhütten, 
welche  zerstreut  zwischen  Baimigrujjpen  liegen  und  von  hohen  Türmen 
flankiert  sind.      Es  ist  IMaseri. 

Das  erste,  grosse,  von  einem  Tore  geschlossene  Gebäutic;  ist  das 
Haus  eines  swanetischen  Fürsten,  eines  Dadisch-Kiliani.  Diesem  hat  Ismail 
Urussbiew,  sein  naher  Verwandter,  uns  warm  empfohlen.  Fürst  Dadisch- 
Kiliani  hat  eine  Bakssanprinzessin  zur  PVau,  und  ein  Teil  des  Dadisch- 
Kiliani-Geschlechtes  hatte  schon  vor  langen  Zeiten  den  mohammedanischen 
Glauben  angenommen.  Mohammed,  der  Diener  Ismaels,  war  mit  den  Briefen 
vorangeeilt,  unsere  Ankunft  zu  melden.  An  der  Torschwelle  standen  zwei 
Männer  in  der  kaukasischen  Tscherkesska,  aus  grobem,  grauem  Tuche  ver- 
fertigt, welches  in  .Swanetien  gewoben  wird;  als  Kopfbedeckung  trugen  sie 
einen  kleinen,  weissen  Filzhut,  ähnlich  jenen,  welche  wir  im  Lande  der 
Ossen  und  Digorier  gesehen  hatten.  Der  Fürst  ist  ein  hoher  Mann  mit 
leicht  ergrautem  Vollbarte,  der  andere  ein  Verwandter,  der  als  Gast  zu  Be- 
such war.  Würdevoll,  mit  Händedruck  wurden  wir  begrüsst.  Wir  konnten 
nicht  miteinander  sprechen,  da  die  Fürsten  des  Russischen  nicht  mächtig 
waren.  Meine  Kenntnis  der  russischen  Sprache  war  damals  eine  sehr  ge- 
ringe, und  auch  Mohammed,  der  Bakssantatare,  verstand  kaum  einige  Worte 
russisch.  Dass  wir  unter  solchen  Umständen  nach  dreitägiger  Reise  ohne 
erhebliche  Missverständnisse  heil  in  Swanetien  gelandet  waren,  beweist,  dass 
die  Not  erfinderisch   machen   muss. 

Vor  der  Haustür,  auf  einer  kleinen  Wiese  wurden  unter  Bäumen 
Stühle  für  mich  und  meine  .Schweizer  gebracht,  auch  ein  kleines  Tischchen, 
auf  welchem  swanetisches  Brot  und  Schafskäse  lag.  Dazu  wurde  in  .Swanetien 
gebrannter  Branntwein  angeboten.  Nach  dieser  frugalen  Bewirtung  er- 
schienen vier  Pferde,  drei  für  mich  und  meine  Schweizer,  während  das  vierte 
der  luirst  bestieg,  der  es  sich  nicht  nehmen  lie.ss,  uns  bis  Betscho  zu  be- 
gleiten. Das  Gepäck  wurde  auf  einen  Schlitten  gelegt  —  Räder  kennt  man 
in  Swanetien  nicht  — ,   der  von   einem  Paar  kräftiger  Ochsen  gezogen  wurde. 

In  einer  kleinen  Stunde  waren  wir  in  Betscho.  Der  Ort  ist  der  .Sitz 
einer  Verwaltungsbehörde  für  Swanetien.  Im  grünen  engen  Tale,  in  der 
Höhe  von  1300  m  stehen  mehrere  Blockhäuser  und  Baracken,  die  dem 
Bezirkschef  (Pristaw),  seinem  Gehilfen  und  den  ihm  zu  seiner  Bedeckung  bei- 
gegebenen Kosaken  zum  Aufenthalte  dienen.  Bei  unserm  Eintreffen  empfing 
uns  der  Pristaw.  Herr  Stabskapitän  Marschanow,  ein  Georgier,  auf  das 
treundlichste,    räumte    uns    zwei  Zimmer    in    einem    unbewohnten   Hause    ein 

—      139     — 


ST.\.\l>i,)rAKTIKR   IN    BETSCHO. 

und  lud  uns  zum  MittaL^esscm.  In  unserm  (  hiartier  befanden  sich  zwar  nur 
ein  'l'isrh  untl  nu;hrerc;  Molzbänke,  aber  mit  unserer  Ausrüstung  marhten 
wir  es  uns  bald  so  bequem  als  möglich,  und  es  war  um  so  angenehmer, 
sich  in  einem  trockenen  Räume,  unter  dem  Dache  eines  Hauses  zu  wissen, 
als  draussen  ein  trostloses  Wetter  herrschte.  Schon  am  Wege  nach  Betscho 
hatte  uns  ein  heftiger  Regen  ereilt,  und  das  Unwetter  hielt  den  ganzen  Tag 
und  auch  während  der  Nacht  an. 

2.  .September.  Der  Regen  hatte  am  Morgen  aufgehört,  aber  die 
Wolken  hingen  tief  an  den  Bergen,  und  die  Landschaft  war  von  dichtem 
Nebel  umhüllt.  Es  war  empfindlich  kalt.  Auf  den  Höhen,  selb.st  im  oberen 
Talboden  war  Schnee  gefallen.  Wir  waren  einen  Augenblick  geneigt,  dies 
nach  der  Wetterregel  in  den  heimischen  Alpen  für  ein  günstiges  Zeichen  zu 
halten.  Allein  das  Wetter  besserte  sich  nicht,  die  Barometer  fielen  und  die 
Prophezeiungen  der  Bergbewohner  lauteten  nicht  günstig.  Die  Swanen 
klagten  über  einen  ausnahmsweise  schlechten  Sommer;  das  Getreide  war 
ungeschnitten  auf  den  Feldern  erfroren.  Es  war  die  Wiederholung  des  ab- 
scheulichen  Wetters,   das  wir  am   Fu.sse   des  Elbruss   durchlebt  hatten. 

Nur  einen  Wunsch  hatte  ich  noch:  Uschba  zu  sehen  und  zu  photo- 
graphieren,  den  Berg,  den  ich  von  den  Hängen  des  Elbruss  den  Haupt- 
kamm des  Kaukasus  überragen  sah  und  dessen  Doppelgipfel  das  Hochtal 
Swanetiens  beherrscht;  dann  wollte  ich  an  die  Nordseite  des  Gebirges,  nach 
Besingi  zurückkehren,  um  die  Erforschung  des  Hochgebirges  im  Norden 
fortzusetzen. 

Am  Abend  klärte  es  sich  im  Hintergrunde  des  Betscho-Tales.  Lang- 
sam teilte  sich  dort  das  Wolkenchaos,  und  im  wallenden  Nebeltreiben  wurden 
steil  abfallende,  mit  abbrechenden  Eisfeldern  bepanzerte  Felsmauern  für  Augen- 
blicke frei.  Schon  sank  die  Sonne  tiefer  und  tiefer.  Da  trat  plötzlich  leb- 
haftere Bewegung  in  die  Wolkenburgen,  die  noch  immer  festgeballt  auf  den 
Höhen  lagen;  sie  lüfteten  sich;  die  rauchenden  Dunstmassen  zerflatterten, 
glitten  in  die  Tiefe,  eine  neue  Bergwelt  tauchte  auf,  wie  im  Werden  des 
ersten  Tages.  Das  schneedurchfurchte  Felsgerüst  erhielt  eine  Krönung;  ein 
kühn  aufschiessendes,  nach  oben  sich  verjüngendes  Gijjfelgebilde  hebt  sich, 
mit  Neuschnee  überschüttet,  vom  grauen  Wolkenhintergrund  leuchtend  ab; 
ein  eisiger  Absatz  trägt  ein  den  Berg  umschlingendes,  abstürzendes  Felsen- 
band, von  welchem  die  Spitze,  eine  abschüssige  Firnfläche  auf  ihrem  Scheitel, 
ein  trotzig  aufstrebender  Helm,  in  den  Himmel  ragt.  Es  ist  Uschba,  eine 
der  merkwürdigsten,  überraschendsten  Bergformen  der  Welt.  Nur  wenige 
Augenblicke  dauerte  die  Vision.      Dann   begann  wieder  das  .Spiel  der  Xebel, 

—     140    — 


U.sciii;a,  das  Mattkkhokn  dks  Kaukasus. 


die  bald  die  eine, 
bald  die  andere 
Partie  des  herr- 
lichen Berges  ver- 
deckten. 

Uschba  hat  zwei 
Gipfel;  es  ist  der 
.Südgipfel,  der  im 
Anblicke  von  Bet- 
scho  sich  darstellt, 
indes  der  durch 
eine  tiefe  .Scharte 
getrennte  zweite 
Gipfel  gegen  Nor- 
den etwas  ver- 
deckt liegt.  Die 
Höhe  der  nahe- 
zu   crleich     hohen 


Uschba. 

Gipfel  kann  nach  den  vorliegenden  Messungen  mit  rund  4700  m  ange- 
nommen werden.  Es  wurde  bis  in  die  letzte  Zeit  der  Südgipfel  mit 
4698  m  als  um  ein  Geringes  den  4694  m  hohen  Nordgipfel  überragend 
gehalten,  die  Frage  kann  jedoch  nach  den  allerneuesten  Beobachtungen 
nicht  als  entschieden  gelten.  Der  Berg  erhebt  sich  in  einem  vom  Haupt- 
kamme gegen  Süden  sich  loslösenden  kurzen  Zuge  als  granitisches  Fels- 
gebilde,   das    einer   Basis    kristallinischer   Schiefer    entragt. 

Uschba  wurde  das  Matterhorn  des  Kaukasus  genannt.  Am  meisten 
gleicht  der  Südgipfel  dem  Matterhorn,  aber  dieses  ist  symmetrischer,  gra- 
ziöser,   Uschba    grösser,    abstürzender.      Das  Matterhorn    erhebt    sich    etwa 


141 


KNTSClII.rsS,    DAS    HoClICKlIIRGK    ZU    VKRLASSEN. 

2800  m  über  das  Tal  bei  Zermatt,  der  Uschba  3400  ni  über  das  Betschotal. 
Die  Ansicht  des  Berges,  wie  sie  sich,  von  den  zwei  Gipfehi  gekrönt,  dar- 
bietet, hat  wenig  Aehnlichkeit  mit  dem  Alpenberge,  vmd  auch  von  Stand- 
punkten, die  nur  den  Anblick  des  einen,  des  südlichen  Gipfels  umfassen, 
sind  es  nicht  die  Linien,  welche  die  Form  des  b'elskolosses  besdmmen,  noch 
die  Firn-  und  lüspanzer,  welche  er  trägt,  die  den  Vergleich  nahelegen,  son- 
dern das  beiden  Hergen  gleiche,  aus  verhältnismässig  niedriger  Umgebung 
isolierte  Aufsteigen,  das  \'orherrschen  der  vertikalen  Linien  über  horizontale 
Richtungsflächen,  der  steile,  unvermittelte  Aufbau,  das  Abstürzende  im  Fels 
und  Eis.  hl  Bezug  auf  seine  herrliche  Architektur  bleibt  Uschba  unüber- 
troffen.*) 

Die  Nacht  brachte  wieder  Sturm  und  Regen.  Am  Morgen 
waren  die  Bergwände  bis  zum  oberen  Talboden  mit  Neuschnee  be- 
deckt. Aber  nicht  nur  das  schlechte  Wetter  dieses  ungünstigen  Sommers 
stellte  die  Ausführung  des  Restes  meiner  Reisepläne  in  Frage,  sondern  auch 
mein  Schweizer  Bergführer  wollte  nunmehr  den  Schluss  der  Reise  herbei- 
führen. War  es  Heimweh,  war  es  augenblickliche  Abspannung  nach  den 
Mühsalen  und  Entbehrungen  einer  Bergreise,  die  .sich  unter  ganz  andern 
X'erhältnissen  als  eine  .solche  in  den  europäischen  Alpen  abspielt,  —  Burgener 
erklärte  wiederholt,  dass  in  diesem  Jahre  infolge  der  grossen  Massen  Neu- 
schnees die  Ausführung  von  Hochtouren  unmöglich  geworden  sei  und  es 
zwecklos  wäre,  auf  eine  Besserung  des  Wetters  zu  warten. 

3.  September.  Als  ich  am  Morgen  infolge  des  noch  trüben  Wetters 
nicht  früh  aufgestanden  war,  klopfte  Burgener  ungeduldig  an  meine  Tür, 
mit  den  Worten:  »Das  Wetter  komme  nicht  besser,  da  könnten  wir  noch 
lange  in  diesem  Regenne.st  sitzen:  nun  sei  es  Zeit  aufzubrechen.«  Die 
Antwort,  die  Burgener  darauf  erhielt,  war  keine  zu  höfliche,  —  aber  eine 
Stunde  später  waren  alle  Vorbereitungen  getroffen,  um  die  Reise  durch  das 
Ingur-Tal  fortzusetzen  und  mit  dem  Ueberschreiten  der  im  .Süden  vor- 
liegenden Bergzüge  das  Hochgebirge  zu  verlassen.  Unternehmungen,  wie 
wir  solche  auszuführen  hatten,  konnten  nur  in  völligem  Einverständnis  und 
mit  gutem  Willen  erfolgreich  und  nutzbringend  zu  Ende  geführt  werden. 
Ein  Zwang,  insbesondere  im  fremden  Lande,  wäre  unzweckmä.ssig,  vielleicht 
von   unangenehmen  Folgen  begleitet  gewesen. 


*)  Der  Name  Uschba  wird  damit  erklärt,  dass  im  Swanetischen  Usch  Sturm  oder  Regen 
bedeutet,  ba  Berg.  Wir  hätten  also  ein  kaukasisches  Wetterhorn.  Nach  andern  wieder  bedeutet 
Usch  ein  Schreckbild,  ein  Ungeheuer,  also  Schreckhorn,  nach  der  Analogie  des  Gipfels  in  den 
Berner  Alpen.  Die  Fürsten  Dadisch-Kiliani  in  Ezeri  behaupteten,  der  Name  komme  von  usch,  das 
in  ihrer  Sprache  zwei  bedeute,  eine  Bezeichnung,  die  der  Form  des  Berges  als  Doppelgipfel  entspricht. 

—      142      — 


SWANETlSClIli    TALLANDSCIIAI-T. 

Der  freundliche  Pristaw  betrieb  selbst  die  Vorbereitungen  zu  unserm 
Aufbruche,  war  beim  Aufladen  der  Lastpferde  zugegen,  so  dass  wir  merk- 
würdig rasch  reisefertig  wurden.  Er  gab  uns  einen  in  georgischer  Sprache 
o-eschriebenen  Geleitbrief  und  sandte  einen  swanetischen  Milizsoldaten  mit 
uns:  eine  prächtige  Gestalt  mit  wallendem  Barte,  einer  hohen,  spitz  zu- 
laufenden  Schaffellmütze   und   natürlich  hoch  zu   Ross. 

Unmittelbar  bei  Betscho  begannen  wir  einen  Bergrücken  anzusteigen, 
der  bei  schönem  Wetter  i^rächtige  Blicke  auf  Uschba  bieten  muss.  Von 
der  erreichten  Höhe  sah  ich  zum  erstenmal  die  reich  gegliederte  swanetische 
Tallandschaft,  mit  ihren  von  zahllosen  Türmen  umstandenen  Dörfern,  dem 
grünen  Wiesengelände,  den  schönen  Wäldern,  hn  Süden,  von  der  schnee- 
bedeckten Leilakette,  zieht  eine  Reihe  von  lachenden,  von  Bächen  durch- 
zogenen Waldtälern  nieder.  Aus  dem  Norden  münden  ernste,  gletscher- 
erfüllte Ouerschluchten,  und  im  Osten  Hessen  die  aus  den  Wolken  für 
Augenblicke  auftauchenden  Mrngipfel  die  ganze  Pracht  der  eisigen  Um- 
randung des  Hochtals  ahnen. 

Ein  steiler  Abstieg  brachte  uns  nach  dem  Dorfe  Latal  (etwa  1220  m). 
Unter  einer  prächtigen,  breitkronigen  Linde  ruhten  wir,  umringt  von  den 
staunenden  Bergbewohnern,  Männern,  dunkeläugigen  Weibern  und  Kindern. 
Wir  zogen  nach  Muschal,  in  die  Ecke  des  nördlichen  Quellbezirks 
des  higur.  Es  war  ein  immerwährender  Wechsel  prachtvoller  Talland- 
schaften, im  Schmucke  dunkler  Waldungen,  im  lichten  Grün  der  Wiesen 
und  Saatfelder  prangend,  die  um  so  eindrucksvoller  wirken,  wenn  man,  wie  wir, 
aus  den  sterilen  Ouertälern  der  nördlichen  Abdachung  des  Kaukasus  kommt. 
In  der  Nähe  von  Mestia  (1350  m)  rauscht  die  Mulchara,  der  nördliche 
Ouellfluss  des  Ingur,  in  tiefer  Rinne,  welche  von  pittoresken  Felsklippen 
umstanden  ist.  Seitlich  einer  hohen  Talterrasse  liegen  einige  von  Türmen 
flankierte  Steinhäuser,  und  im  Hintergrunde  dringen  durch  Nebelwolken  die 
Firnhöhen  des  Gebirges,  die  sich  dort  im  Osten  um  die  herrliche  Firn- 
pyramide des  Tetnuld  (4853  m)  scharen.  Am  Abend  wird  es  lichter,  und 
jetzt  wird  auch  vom  Bergrücken,  den  wir  zwischen  Mestia  und  Mulach 
übersteigen,  der  doppelgipflige  Uschba  sichtbar,  noch  immer  umgürtet  von 
wallenden   Nebelbändern,    glitzernd    im    neuen  Schneekleide. 

Abends  nach  einem  starken  Tagmarsche  trafen  wir  in  Muschal  (1620  m) 
ein.  Gleich  im  ersten  Hause,  welches  dem  georgischen  Geisdichen  Margiani 
gehört,  werden  wir  gastlich  aufgenommen.  Ein  Holzbau  bildet  ein  oberes 
Stockwerk,  um  welches  vorn  eine  offene  Galerie  läuft.  Ein  gedieltes  Zimmer, 
in  welchem  sich  zwei  Bettgestelle,   Tisch  und   Stühle   befinden,   wird  uns  zur 


Das  Mui.ciiara-Tai.  vom  Ugür-Pass. 


Tschan gi,    swanetische    Harfe. 


Verfügung  gestellt.  Zum  Nachtessen  kauften  wir  von  den  Einwohnern 
Hühner  und  Hessen  sie  von  der  Familie  unseres  Gastwirts  zubereiten.  Der 
gute  Priester  gab  manches  aus  seinen  allerdings  beschrankten  Vorräten  zum 
besten,  so  dass  auf  unserm  Tische  auch  eine  Flasche  kachetischen  Rot- 
weines —  ein  seit  vielen 
Wochen  entbehrter  Anblick 
—  prangte,  leider  nur  zu 
sehr  vom  Gerüche  des  Leder- 
sackes, Burduk,  durchdrungen, 
in  welchem  der  W'ein  trans- 
portiert wird.  Nach  dem 
Abendessen  nahm  der  wackere 
Priester  seine  Tschangi,  die 
swanetische  Harfe,  zur  Hand, 
und  der  Gesang  swanetischer 
Heldenlieder  beschloss  den 
Abend. 

4.  September.  Von  Muschal  führt  ein  steiniger  Anstieg  auf  den  Berg- 
rücken, der  das  Mulchara-Tal  vom  südlich  desselben  parallellaufenden  Haupt- 
tale des  Ingur  scheidet.  Es  sind  hier  die  östlichen  Ausläufer  der  .Sagari- 
Kette,  die  im  1922  m  hohen  Ugür-Passe  überschritten  werden.  Das  Wetter 
hatte  sich  für  kurze  Zeit  aufgehellt  und  wir  konnten  zum  Abschiede  noch 
einmal  im   Anblicke   des   herrlichen   Mulcharatales   schwelgen. 

Zu  unsern  F'üssen  liegt  jetzt  das  grünende  Talbecken,  vom  Silber- 
bande  des  Flusses  durchschlängelt.  Die  Talwände  steigen,  licht  bewaldet, 
von  mattengeschmückten  Terrassen  umgürtet,  in  kulissenförmiger  Anordnung 
auf,  und  aus  den  von  ihnen  eingeschlossenen  Ouerschluchten  blinkt  das  Eis 
mächtiger  Gletscherströme.  Tschalaat-  und  Leksyr- Gletscher,  die  in  die 
Ouerschlucht  oberhalb  Mestia  dringen,  der  Twiber-Gletscher,  der  in  das 
Seitental  im  Norden  von  Muschal  zieht,  und  der  Zanner-Gletscher  in  der 
östlichen  Ecke  des  Tales.  Die  Grösse  dieser  Gletscher,  deren  weit  aus- 
gedehnte Firnregion,  von  hohen  Ouerjöchern  umschlossen,  zum  grössten  Teile 
verdeckt  ist,  lässt  sich  kaum  ahnen.  .Spätere  Porschungen  erst,  die  Be- 
gehung dieser  Eisströme  und  ihrer  P'irnbecken  sollte  die  mächtige  Aus- 
dehnung dieser  swanetischen  Gletscher  entdecken,  erweisen.  Und  über  dieser 
reich  gegliederten,  farbenprächtigen  Hochgebirgslandschaft  erhebt  sich,  aus 
einer  Reihe  schneebedeckter  Gipfel  weit  vortretend,  die  eisbepanzerte 
Pyramide  des  Tetnuld,  noch  vom  Duftschleier  des  i'rühen  Morgens  umwoben. 


Im  Talk  des  Ingur. 

Im  Süden  triftt  der  Blick  auf  schluchtige  W'aldwildnis,  welche  dichtgeschlossene 
Fichtenbestände  (Picea  orientalis)  bilden.  In  dieser  Umrahmung  bieten  auf 
den  gewellten  Talflächen  die  von  hoch  aufragenden  Türmen  flankierten 
swanetischen  Dörfer  ein  bewegtes,  höchst  malerisches  Bild.  Die  Wolken 
teilen  sich,  und  ein  Sonnenstrahl  fällt  zündend,  erleuchtend  auf  die  herrliche 
Tallandschaft. 

Der  Pfad    zieht    \c)m   Ugür-Pass    abwärts    über   eine   Reihe   hügeliger 
Stufen  und   fällt   dann   zu   einer  hoch   über    dem   Einfluss   des  Adisch-Baches 


Die  Tetnuldgruppe  vom  Ugür-Pass. 


in  den  Ingur  liegenden  Alluvialterra.sse,  auf  welcher  die  von  hohen  Türmen 
bewachten  Hütten  des  zur  Genossenschaft  Ipari  gehörenden  Dorfes  Bogresch 
(1491  m)  stehen.  Von  da  führt  ein  lichter  Waldweg  dem  im  Südosten 
strömenden  Ingur  entlang,  bald  am  rechten,  bald  am  linken  Ufer  des  raschen, 
schmutziggelben  Flusses.  Nur  wenig  ansteigend  kommt  man  zur  Einmündung 
des  an  den  Gletschern  des  llauptkammes  entspringenden  Chalde-Baches 
und  bald  darauf  zu  mehreren  armseligen  Hütten,  zu  dem  der  ( ienossenschaft 
Kai  zugezählten  Dörfchen  Dauberi  (1720  m).  Es  ist  still  und  einsam  in 
diesem   Hochtale,    düster    die  Fichtenwaldung    an    den    steilen   Wänden,   die 

Dechy:   Kaukasus.  10 

—        145        — 


Zklti.ackr  im  Schnkk. 

enge  zusanimenrücken,  —  ein  scharfer  Gegensatz  zu  der  lachenden  Tal- 
landschaft  der  Mulchara. 

Unsere  Begleitmannschaft  wollte  hier,  in  dem  letzten  bewohnten  Orte 
auf  unserm  Wege  zum  Latpari-Passe.  dem  Uebergange  über  die  im  Süden 
dem  ingur-Tale  vorliegende  Bergkette,  übernacliten,  aber  nicht  nur,  dass 
daran  nicht  zu  denken  war,  in  eine  dieser  unglaublich  schmutzigen  Hütten 
zu  treten,  selbst  die  Nachbarschaft  des  Dorfes  für  ein  Lager  war  mir  nicht 
erwünscht,  so  zurückschreckend  wirkte  die  Unreinlichkeit,  der  widerliche 
Geruch,  der  aus  dem  von  Russ  geschwärzten  hmern  der  Behausungen  drang, 
wo  alles  auf  Elend  und  Armut  hinwies. 

Die  Swanen  leisteten  ohne  viel  Widerspruch  meinem  Befehl  bolge 
und  wir  setzten  schon  nach  kurzem  Aufenthalt  den  Weg  fort,  der  uns  über 
steile  Schieferhänge  bis  an  tlie  obere  Grenze  eines  hochgewachsenen  Busch- 
waldes  brachte,   wo  wir  in    2450   m   (A.  D.)   Höhe   das  Lager  bezogen. 

Kaum  hatten  wir  das  Zelt  aufgeschlagen,  so  brach  ein  heftiges  Un- 
wetter los.  Es  währte  nicht  lange,  und  als  wir  aus  dem  Zelte  krochen, 
war  alles  um  uns  mit  einer  weissen  Decke  umhüllt  und  der  Schnee  fiel  in 
dicken   Elocken. 


Zeltlager  nach  einem  .Schnecfa 


Swa netisches   Dorf. 


XI.   KAPITEL. 


Swanetien,  und  über  den  Latpari-Pass  ins  Riontal. 

Tcüv  OE  3uv;pyo|j.£Vü)y  Eii-vcüv  sl;  ff|V  \iozy.oorj'.aia., 
v.al  Ol  <P^Bi^o'fiü'(0'.  sloiv,  d-Ko  xoö  ao^jj-oö  y,al  xob  tt^voo 
X'ifii-ntr  Trj5vo|j.c/..      UXr^z'ioy  31   xotl   ol  Soävsc.  ohrjh/  ßsKtio')? 
TOÖT'.ov  TÖ)  ;i:vo),   oovtttxr:  Ss    ^eXt^O'j;,    .   .   .   .  *  i 

Strabo  XI,   c.  2,  §  if) 

Bevor  wir  vom  swanetischen  I  lochtale  des  Ingur  Abschied  nehmen 
um  nach  dem  .Süden,  den  sonnigen  Gefilden  des  Rion  zu  ziehen,  wollen 
wir  noch  einen  Rückblick  auf  die  orographi.schen  Verhältnisse  dieses  merk- 
würdigen   Tales    und    seine    nicht    minder    interessanten    Bewohner    werfen. 

In  aufeinanderfolgenden  .Stufen,  in  welchen  gletschergeborene  Flüsse 
ihre  Betten  gegraben  haben,  steigt  das  kolchische  Gebirgsland  gegen  Norden 
zum  Hauptkamme  des  zentralen  Kaukasus  auf  Parallel  mit  der  Richtung 
der  von  Nordwest  nach  .Südost  streichenden  Hauptkette  laufen  tlort  die 
Bergzüge,  welche  die  oberen  Flusstäler  des  Rion  und  des  Zchenis-Zchali''"')  um- 
schliessen  und  das  Hochtal  des  Ingur  im  Süden  begrenzen.  An  den  Schnee- 
feldern  des   Hauptkammes    entspringen    die   Ouellbäche    dieser   Flüsse.      Un- 


*)      Unter  den  Völkern,   die  in  Dioscurias  zusaminenkonimen,   sind  auch  die  Phthirophagen 
(Läuäefresser),  die    ihren  Namen  vom  Schmutz    und   Untlat    Ijckoninien     haben.      In    der  Nähe    die 
Soanen,  nicht  besser  als  sie  im  Unflat,  aber  mehr  an  M.icht  .   .   .   .- 
**)  Zchali  im  Georgischen  =  liach. 


Das  Kesseltai,  des  Ingur. 

mittelbar  am  Südhange  des  kaukasischen  Hauptkammes  zieht  das  Längen- 
hochtal des  Ingur,  bis  der  Bergstrom  in  der  Durchbruchsschlucht  von  Ssun- 
tari  seine  Richtung  ändert  und  in  südlichem  Laufe  seine  stürmischen  Fluten 
in   den   Euxinus  wirft. 

Das  Längenhochtal  des  higur  stellt  sich  als  ein  allseitig  von  hohen, 
schneebedeckten  Gebirgen  vollkommen  umschlossenes  Kesseltal  dar.  Im 
Norden  erhebt  sich  der  mächtige  Wall  des  kaukasischen  Hauptkammes,  dem 
dort  eine  Reihe  seiner  höchsten  Gipfel  entsteigen.  Grosse  Gletscher  ent- 
strömen weiten  Firnbecken  und  dringen  durch  die  auf  das  Ingur-Tal  sich 
öffnenden  Ouerschluchten  tief  hinab.  Im  Süden  des  Hochtals  zieht  parallel 
mit  dem  Hauptkamme  eine  gletscherbedeckte  Bergkette,  welche  die  Leila- 
gipfel  trägt.  In  der  östlichen  Ecke  des  Hochtals,  wo  die  Granite  des  Haupt- 
kammes mit  den  Tonschiefern  der  Nebenketten  zusammenstossen,  unter 
den  eisbeladenen  Felswänden  der  5000  m  überragenden  Schchara,  liegen 
die  Ouellen  des  Ingur.  Eine  gegen  Westen  streichende  Bergwelle  —  der 
mittlere  swanetische  Bergzug  —  tritt  in  die  Mitte  des  Hochtals  hinaus, 
zwischen  dem  kaukasischen  Hauptkamm  und  den  südlichen  Parallelketten, 
und  teilt  dasselbe  in  zwei  Talgebiete.  Am  Ende  dieses  mittleren  swane- 
tischen  Gebirgszuges,  bei  Latal,  vereinigen  sich  der  das  südliche  Haupttal 
von  seinem  Ursprung  an  durchströmende  Ingur  und  die  im  kürzeren  Xordtal 
fliessende  Mulchara. 

Im  Süden  der  mächtigen  Granitformation,  welche  die  kaukasische 
Hauptkette  bildet,  lagert  eine  Zone  kristallinischer  Gesteine,  Gneise  und 
Glimmerschiefer;  das  Bett  des  Ingur,  welches  eine  antiklinale  P"alte  bildet, 
ist  aber  schon  in   Tonschiefer  gegraben. 

Nirgends  dürfte  der  auf  versteckte  Gebirgswinkel  olt  angewandte 
Ausdruck  der  Weltabgeschlossenheit  mit  mehr  Recht  gebraucht  werden,  als 
für  das  swanetische  Hochtal.  In  der  Umrandung  desselben  findet  sich  keine 
Bresche,  durch  welche  ein  bequemer  Zugang  dahin  führen  würde.  Im  Norden 
steht  die  abwehrende  Mauer  des  eisumgürteten  Kaukasus.  Im  Osten,  im 
Ouellgebiete  des  Ingur,  öffnet  sich  im  Sagar-Pass  eine  nur  2646  m  hohe, 
aber  schwer  gangbare  Lücke,  über  die  man  in  die  pfadlosen  Wildnisse  hohen 
Buschdickichts  und  geschlossenen  Urwaldes  gelangen  kann,  welche  dort  das 
oberste  Üuellgebiet  des  Zchenis-Zchali  umgeben.  Im  Westen,  in  der  Durch- 
bruchsschlucht des  Ingur,  durch  welche  kein  für  Saumtiere  gangbarer  Weg 
führt,  machen  die  abfallenden  Steilwände  den  Durchpass  zu  einem  schwierigen. 
Nur  ein  einziger,  auch  nur  streckenweise  gebahnter  Weg,  der  für  Saumtiere 
während  des  grössten  Teiles  des  Jahres  gangbar  ist,   führt  aus  dem  obersten 

—     148    — 


Das  Volk  dkk  Swankn. 

Int^ur- Tale  nach  tleni  Süden,  die  einzige  Verbindung  des  Hochtales  mit  den 
blühenden  Gefilden  Mingreliens.  In  der  noch  immer  bedeutenden  Höhe 
von  2800  m  überschreitet  derselbe  den  Ostabschnitt  der  Leila- Kette  am 
Latpari-Passe. 

So  sehen  wir  im  Längenhochtale  des  Ingur,  von  seinem  Ouellbezirke 
bis  zum  Durchbruche  in  der  Ssuntari-Schlucht,  auf  eine  Länge  von  65  km, 
die  Reliefform  eines  typischen  Kesseltales,  wie  diese  in  solcher  Vollkommen- 
heit kaum  in  einem  andern  Gebirge  der  Erde  getroffen  werden  dürfte. 
Dieser  orographische  Bau  des  Ingur-Hochtales  ist  von  bedeutendem  Einflüsse 
auf  die  biologischen  und  klimatologischen  Verhältnisse  desselben  und  hat 
auch  gewiss   auf  seine   Bewohner  eingewirkt. 

Das  Hochtal  des  Ingur  wird  vom  Volke  der  Swanen*)  bewohnt.  So 
merkwürdig  die  Konfiguration  der  Landschaft,  so  interessant  ist  auch  das 
V^olk.  Schon  Strabo  erwähnt  die  Soani  und  auch  Plinius  und  Procopius 
sprechen  von  ihnen.  Im  10  Jahrhundert  sollen  die  Swanen  zum  Christen- 
tume  bekehrt  worden  sein.  Ihr  Gebiet  bildete  einen  Teil  des  Reiches  der 
Königin  Tamara,  der  in  den  georgischen  Legenden  und  Gesängen  ge- 
feierten Heldenfürstin.  Abwechselnd  war  Swanetien  ein  mit  Mingrelien  ver- 
einigtes Gebiet,  dann  wieder  eine  durch  besondere  Fürsten  verwaltete  Pro- 
vinz des  grossen  imerischen  Königreichs.  Zu  Anfang  des  1 4.  Jahrhunderts 
gelang  es  den  Swanen,  siegreich  gegen  Süden  vorzudringen.  Auf  einem 
dieser  Züge  verbrannten  sie  die  Stadt  Kutais.  Im  1 5.  Jahrhundert  soll  das 
den  Swanen  gehörige  Gebiet  nicht  nur  die  Hochtäler  des  Zchenis-Zchali 
und  des  Ingur,  sondern  auch  das  üuellland  des  Kion  umfasst  haben,  welches 
ihnen  erst  nach  langwährenden  Kämpfen  von  den  Imeren  abgenommen 
wurde.  Nach  Auflösung  des  imeritinischen  Königreichs  erlangten  die  .Swanen 
wieder  ihre  Unabhängigkeit,  und  die  Bewohner  des  Ingur-Hochtales  wussten 
sich  diese,  begünstigt  durch  die  Natur  des  Landes,  auch  zu  erhalten.  Ihr 
Gebiet  wurde  daher  auch  das  freie  Swanetien-  genannt.  Nur  über  den 
kürzeren  wesdichen  Talabschnitt,  nach  der  Vereinigung  des  nördlichen  Ouell- 
flusses  der  Mulchara  mit  dem  Ingur,  behielten  die  bürsten  Dadischkiliani  eine 
gewisse  Oberhoheit.  Die  das  Hochtal  des  Zchenis-Zchali  bewohnenden  Swanen 
waren  der  mingrelischen  Fürstenfamilie  Dadian  Untertan;  ihr  Gebiet  wird 
daher  auch  als  Dadiansches  Swanetien  bezeichnet.  Die  Gesamtzahl  des 
Swanenvolkes  wird   mit    14000  Seelen   angegeben. 

Im  freien  Swanetien  hatten  sich  zumeist  mehrere  Dörfer  zu  Genossen- 
schaften   vereinigt.      Nur    zu    oft  trat   aber  Widerstreit    von    Interessen    auf, 

*)  Auch  Swaneten   genannt. 


Der  Tvi'Ls  dkk  Swaxen. 

StreitiLjkeilen,  deren  Folge  langjährige,  Ijlutige  l''ehden  zwischen  den  ein- 
zelnen Genossenschaften,  ja  einzelnen  Dörfern  waren.  Den  Beschlüssen, 
welche  den  Beratungen  der  Genossenschaften  entsprangen,  fehlte  jede  gesetz- 
liche Kraft,  so  tlass  wir  uns  die  Verhältnisse  im  freien  Swanetien  als  eigent- 
lich anarchische;  vorstellen  müssen,  in  welchen  Gesetzlosigkeit,  Blutrache  und 
Unsicherheit  des  Lebens  und  des  Eigentums  herrschten,  hi  früheren  Zeiten 
wurden  auch  nach  dem  Norden  der  Hauptkette  Raubzüge  unternommen, 
um  dort  den  mohammedanischen  Tataren  Vieh  zu  stehlen,  wodurch  diese  sich 
gezwungen  sahen,  Wächterposten  gegen  diese  Einfälle  aufzustellen,  wie  wir  einen 
solchen   bei   der  Karaula  im  oberen  Tscherektale  in  Balkarien  gesehen  haben. 

Die  Swanen  gehören  der  Kartwelischen  Völkerfamilie  an;  es  ist 
nicht  endgültig  entschieden,  welchem  Stamme  derselben,  ob  dem  georgischen 
oder  einem  der  westlichen  Zweige.  Wenn  auch  Mischelemente  —  obgleich 
jedenfalls  in  geringer  Anzahl  —  ihren  Weg  in  das  entlegene  Hochtal  der 
Swanen  gefunden  haben  mögen,  so  scheint  bei  Berücksichtigung  der  topo- 
graphischen Lage  ihrer  Bergheimat,  imd  bei  der  Tatsache,  dass  die  Swanen 
aus  ihren  Stamm.sitzen  nie  verdrängt  wurden,  die  Annahme  gerechtfertigt 
zu  sein,  nach  welcher  die  Swanen  des  higur-Hochtales  die  autochthonen  Be- 
wohner desselben  sind.  Die  den  hneren  und  Mingreliern  benachbarten  und 
mit  diesen  in  beständigem  Verkehr  stehenden  Dadianschen  Swanen  im 
Zchenis-Zchali- Gebiete  können  eher  als  ein  Mischvolk  angesehen  werden. 
Ich  habe  Ijei  den  higur-Swanen  Männer  mit  hellblonden,  ja,  rötlichen  Haaren 
und  mit  blauen  Augen  gesehen,  aber  auch  solche,  deren  Haar  und  Augen 
dunkel  waren.  Trotzdem  möchte  ich  sagen,  dass  mir  beim  wiederholten 
Besuche  des  fngur-1  lochtales  und  bei  der  öfteren  Begegnung  mit  .Swanen 
in  den  nördlichen,  von  Tataren  und  Karatschaiern  bewohnten  Tälern  des 
Kaukasus  ein  sofort  erkennbarer,  swanetüscher  Typus  aufgefallen  ist  (  )ft 
sieht  man  unter  den  Swanen  jüdische  Physiognomien,  und  sie  selbst  halten 
die  Bewohner  des  Dorfes  Lachmuli,  welches  den  geringen  Handel  Swanetiens 
mit  den  südlichen  Gegenden  vermittelt,  jüdischer  Abstammung.  Bei  mittel- 
grossem Wüchse  ist  der  Körperbau  der  -Swanen  meist  kräftig.  Trotzige 
Roheit  und  ein  verwilderter  Gesichtsausdruck  wird  oft  und  insbesondere 
bei  alten  Swanen  bemerkt,  unter  welchen  es  nicht  selten  war,  Leute  zu 
finden,   welche   zehn   und   mehr  Morde   begangen   hatten. 

Die  Sprache  der  .Swanen  ist  eine  Abzweigung  des  Alt-Kartwelischen 
und  jedenfalls   mit  dem   Georgischen   nahe   verwandt 

Die  Swanen  sind  ein  armes  Volk;  im  unteren  Swanetien  wird  zwar 
etwas  Gerste   und  Roggen  gebaut,   im  mittleren  wächst  sogar  in  guten  Lagen 

—     150     — 


SWANEN. 


Das   ClIKTSTEX'll'M    dkk   Swanen. 

und  bei  günstio-en  Wetterverhältnissen  Weizen.  Aber  infol<^e  der  Armut 
der  Swanen  an  \'ieh  bleiben  selbst  gute  Weideplatze  unbenutzt,  und  doch 
wäre  Viehzucht  die  einzige  Quelle  eines  gewissen  W'ohlstandes  gewesen. 
Der  Kampf  ums  Dasein  zwingt  bei  den  Swanen  auch  die  Männer  zum 
Arbeiten,  und  es  ist  nicht  nur  die  Frau  allein,  welche,  wie  bei  den 
meisten  kaukasischen  Völkerschaften,  im  Hause  und  im  Felde  die  schwersten 
Arbeiten  verrichten  muss.  In  jedem  Sommer,  der  mich  in  die  Nordtäler 
des  zentralen  Kaukasus  führte,  sah  ich  bei  den  mohamedanischen  Tataren 
Swanen   mit  Feldarbeiten   beschäftigt. 

Der  heiratslustige  Swane  muss  für  die  Frau  vor  der  Hochzeit  einen 
Kaufpreis  erlegen.  Früher  wurden  unter  den  neugeborenen  Kindern  die 
Mädchen  oft  getötet,  indem  man  ihnen  den  Mund  mit  Asche  vollstopfte  und 
dann  die  Kehle  zusammendrückte.  Von  diesem  entsetzlichen  Gebrauche 
erzählte  mir  noch  in  Urussbieh  der  in  Diensten  Urussbiews  stehende  Swane. 
Diese  mörderische  Unsitte  hatte  ihren  Grund  jedenfalls,  bei  der  in  Swanetien 
herrschenden  Armut,   in  der  Furcht  vor   l'ebervölkerung. 

Das  Christentum  der  .Swanen  artete  wiederholt  in  einen  als  solches 
kaum  mehr  kenntlichen,  von  heidni.schen  Gebräuchen  durchsetzten  Kultus 
aus,  aber  auch  der  Einfluss  des  abwechselnd  in  Transkaukasien  herrschenden 


Alte   Kirche  in  Mu  schal. 


—      131       — 


Dil'-,    liEKESTIfHEX    DÖRFER   DER    SWANEN. 


persischen  Mazdeismus  und  des  durch  die  Araber  eingeführten  Islam  er- 
streckte sich  bis  in  das  Inyurhochtal.  Mit  der  endgültig-en  Herrschaft  des 
Christentums  in  Transkaukasien  befestigte  sich  dasselbe  auch  in  Swanetien, 
blieb  aber  dort  immer  stark  mit  heidnischen  Elementen  vermischt  und  steckte 
voll  aliergläubischer  Gebräuche.  Die  Kirchen  der  Swanendörfer  —  welche 
Fremden  nicht  gerne  geöffnet  werden  —  sind  hochinteressant  und  besitzen 
viele  für  heilig  gehaltene  Reliquien,  sowie  alte,  aus  dem  8.  bis  lo.  Jahr- 
hundert stammende,  meist  in  georgischer  Sprache  auf  Pergament  geschriebene 
Evangelien.  Diese  Kirchen  und  Kapellen  sind  meist  kleine,  unansehnliche, 
aus  regelmässig  behauenen  Steinblöcken  oder  Quadern  bestehende  Gebäude, 
mit  schwachen  Anklängen  an  den  georgischen  Stil,  deren  Apsis  aussen 
oft  .Schnitzwerk  trägt  oder  eine  Säulenarkade  besitzt.  Das  spitze  Giebeldach 
ist  mit  .Schieferi)latten  gedeckt.  Oft  findet  man  b'resken  oder  doch  alte 
.Spuren   derselben   in   primitivster  Ausführung. 

In  der  swanetischen  Landschaft  sind  es  die  befestigten  Dörfer,  welche 
den  Reisenden  ganz  besonders  überraschen.  Hohe  viereckige  Türme  ragen 
inmitten   der  .Steinhütten  auf.     Diese  Türme   sind   zwanzig  bis  dreissig  Meter 

hoch  und  haben  drei  bis  vier  Meter 
im  Ouadrat,  die  Mauern  sind  bis  zu 
einem  Meter  dick  und  oben  mit  Schiess- 
scharten versehen.  Im  Dorfe  Mestia 
stehen  allein  bis  zu  siebzig  solcher 
Türme.  Die  Eingangsöffnung  liegt  hoch 
und  ist  nur  über  angelegte  hohe  Baum- 
pfosten zu  erreichen ,  welche  im  Ver- 
teidigungsfalle  natürlich  entfernt  werden. 
In  den  langjährigen  Fehden  der  swa- 
nischen  Genossenschaften  machten  diese 
Türme  die  einzelnen  Dörfer  zu  be- 
festigten Plätzen.  An  diese  Türme  ist 
die  Steinhütte,  das  Wohnhaus  des 
Swanen  angebaut  oder  mittels  Stein- 
bogens  verbunden.  In  einem  einzigen 
Gemache  wohnen  die  I""amilie  und  der 
meist  geringe  Viehstand  des  Swanen 
zusammen.  Das  Material  der  Bauten 
bilden     mit    Mörtel     aneinandergefügte 

Turm   in    einem  swanetischen   Dorfe.         Steinblöcke,    oft  aUch  geschichtete  Schie- 


—      152      — 


Die  russische  Herrschaft  in  Swaxetien. 

ferplatten.  Aus  solchen  besteht  auch  das  Dach.  Als  Fenster  dienen  kleine 
Löcher  in  der  Höhe.  Der  Rauch  entsteigt  dem  g-eschwärzten  Innern  durch 
eine  kleine  Oeftliung  in  der  Ecke  des  Daches.  In  den  Türmen  werden 
Hörner  und  Schädel  der  Steinböcke  und  wilden  Schafe,  die  Trophäen  der 
Jäger,  aufbewahrt.  In  Kriegsfällen  oder  wenn  Blutrache  heraufbeschworen 
war,   flüchtete   die  ganze  Familie   in   den  Turm. 

Eigentümlich  berühren  die  Gesänge  der  Swanen,  welche  meist  mehr- 
stimmig sind  und  mit  einem  kurzen  und  tiefen  Tonfall  endigen.  Ihre  Lieder 
besingen  die  Königin  Tamara,  die  Taten  ihrer  Jäger  und  die  Kriegszüge 
längstvergangener  Zeiten.  Beim  Priester  des  Dorfes  Muschal  sah  ich  die 
swanetische  Harfe  aus  Kiefernholz  geschnitzt,  mit  aus  Pferdehaaren  gedrehten 
Saiten  bespannt.  Das  Spiel  auf  derselben  war  jedoch  arm  an  Modulation, 
ohne  eigenthchen  Abschluss  der  Perioden  und  sehr  eintönig.  Auch  bei 
Todesfällen  werden  Trauergesänge  und  Klagelieder  angestimmt  und  begleiten 
das   übliche  Totenmahl. 

Schon  anfangs  der  dreissiger  jähre  hatte  Rus.sland  die  Herrschaft 
über  Swanetien  erlangt,  aber  viele  Jahre  hindurch  war  die  russische  (3ber- 
hoheit  nur  eine  nominelle.  Unruhen  und  lokale  Revolten,  zuletzt  noch  acht 
Jahre  vor  meiner  Reise,  1876,  als  der  russische  Oberst  Grinawsky  er- 
mordet wurde,  zwangen  die  Russen  zu  militärischen  E.xpeditionen  nach 
Swanetien,  und  es  wurden  mit  der  Errichtung  eines  Administrationszentrums 
in    Betscho    die    ersten    Anfänge    einer   geregelten   Verwaltung    niedergelegt. 

Manches  hat  sich  in  den  letzten  Jahren  in  Swanetien  zum  Bessern 
geändert.  Die  russische  Regierung  scheint  dem  verlorenen  Erdenwinkel 
nunmehr  erhöhte  Aufmerksamkeit  zu  schenken.  In  jeder  Gemeinde  wurden 
verantwortliche  Dorfschulzen  (Starschina)  angestellt,  mehrere  Priester  wurden 
hingeschickt,  in  den  grösseren  Dörfern  wurden  Häuser  als  Gemeindekanzleien 
eingerichtet  und  fast  scheint  es,  als  ob  diese  Aenderung  der  Verhältnisse 
sich  auch  äusserlich  zu  erkennen  gibt,  denn  in  der  jüngeren  Bevölkerung 
zeigte  sich  nicht  mehr  jener  verwilderte  Gesichtsausdruck,  wie  ihn  die  älteren 
Swanen   zur  Schau   trugen. 

5.  .September.  Es  war  ein  kaltes  Lager,  das  wir  unterhall)  des  Latpari- 
Passes  bezogen  hatten.  Nachts  hei  das  Minimum-Thermometer  auf  —  1,5"  C. 
Aber  der  Himmel  klärte  sich,  und  am  frühen,  frostigen  Morgen  hatten  wir 
einen  überwältigenden  Anblick  des  Uschba,  dessen  Doppelgipfel  mit  seiner  herr- 
lichen Pelsarchitektur  wie  die  Türme  eines  gotischen  Domes  sich  erhebt,  die 
ganze  Bergwelt  Swanetiens  beherrschend  —  ein  .Anblick ,  der  unver- 
gesslich   bleibt. 

—      153     — 


Aussicht  vom  LATrAKi-PAss. 

Man  niuss  an  steilem  Gehänoe,  das  mehrmals  von  terrassenförmigen 
Absätzen  unterbrochen  wird,  ansteigen.  Dichtem,  vertrocknetem  Rhododen- 
drongebüsch  folgt  kurznarbiger  Graswuchs,  der  sich  die  verwitterten  Schiefer- 
halden erobert.  Das  schlechte  Wetter  der  letzten  läge,  der  gestrige 
Schneefall  und  Nachtfrost  hatten  die  schöne  Alpenflora,  die  sich  auf  denselben 
entwickelt,   geknickt,   und   weisser  Reif  deckt  weite  Strecken. 

In  anderthalb  Stunden  sind  wir  auf  der  Höhe  des  Latpari-Passes 
(2800  m),  welcher  in  der  im  Süden  des  Ingurhochtales  sich  erhebenden 
.Schieferkette  eingeschnitten  ist.  Der  gewellte,  von  Gräben  zerrissene  Hoch- 
rücken des  Latparizuges  ist  stellenweise  von  Schneelagern  bedeckt.  Zwischen 
den  grossplattigen  Schiefern  nistet  schon  verblühtes  Pflanzengestrüpp,  dessen 
Arten   der  nivalen   Region  angehören. 

Die  Lage  gegenüber  dem  in  gleicher  Richtung  streichenden  kauka- 
sischen Hauptkamme  hat  am  Latpari-Pass  ein  natürliches  Belvedere  für  eine 
der  schönsten  Ansichten  desselben  geschaften.  Die  mächtige  Mauer  der 
kaukasischen  Hauptkette,  welche  in  einer  Rie.senlinie  das  swanetische  Hochtal 
im  Norden  begrenzt,  i.st  aus  Graniten  aufgebaut  und  zeigt  die  scharf 
geschnittenen  Umrisslinien,  die  kühn  aufstrebenden  Gipfel,  welche  diesem 
Gestein  eigen  sind.  Der  Reiz  der  Aussicht  liegt  in  der  Gegenüberstellung 
der  eisumgürteten,  schroffeisigen  Höhen,  mit  den  Wäldern  und  Wiesen  der 
Tiefen,  und  zwischen  und  ineinander  übergreifend,  dringen  majestätische 
Eisströme  abwärts,   blinken   die  Silberadern   der  Bergbäche. 

Leider  trieben,  als  wir  die  Höhe  erreichten,  grausame  Nebel  ihr 
Spiel,  hingen  sich  an  die  Berge  und  verdeckten  bald  den  einen,  bald  den 
andern  Teil  der  Aussicht.  Enthüllte  sich  dann  aber  wieder  eine  Partie 
derselben,  schoss  plötzlich  über  die  wogenden  Wolkenburgen  eine  wilde 
Zinne  in  die  Lüfte,  dann  wurde  vielleicht  durch  die  Lösung  jeden  Zusammen- 
hanges, durch  die  hierdurch  geschaffene  Isoliertheit  der  Berggipfel,  der 
hindruck  des  grossartigen,  den  sie  hervorrufen,  nur  noch  erhöht.  So  sahen 
wir  den  herrlichen,  vielgipfligen  Bau  der  .Schchara,  die  wir  im  Norden  über 
dem  Firnmeere  des  Dychssu-Gletschers  bewundert  hatten,  dem  Monte  Rosa, 
von  Macugnaga  gesehen,  gleichend.  Dann  erblicken  wir  die  Firnpyramide 
des  Tetnuld,  ein  Bild,  das  an  den  Anblick  des  Weisshorns  von  Norden 
erinnert.  Zwischen  beiden  erscheint  plötzlich,  in  wallende  Nebel  gehüllt, 
der  prächtige,  gleichfalls  vielgipflige  Flrnwall  der  Dschanga,  und  über  dem 
riesigen  Eisfall  des  Adisch-Gletschers  blickt  die  feingeschnittene  F'irnspitze 
der  Gestola  herüber.  Und  dann  ist  es  wieder  Uschba,  dessen  Doppel- 
gipfel  in   der  westlichen   Hälfte   des    Aussichtsbildes    sich    aufschwingt.      Die 

—     154     - 


l\i:|(  IIK    l'.N'lWUKl.rXG    OEK    SlliAl.liMA    \Vli:SI',\l''l,OKA. 


herrliche  helsarchitektur  des  Beroes  kommt  von  hier,  aus  grösserer 
Entfernung  gesehen,  weniger  zur  Gehung,  und  die  näher  gelegenen  Hoch- 
gipfel machen  ihm  in  ihrem  glänzenden  Firnkleide  den  Preis  der  Schönheit 
streitig.  Die  wilde  Region  steiler  Eisfassaden  und  abbrechender  Felsen  des 
granitischen  Hauptkammes  verbindet  sich  in  der  westlichen  Ecke  mit  den 
sanften  Formen  der  Schiefer,  aus  welcher  die  Gipfelreihe  der  Leila  auf- 
gebaut ist.  l'nd  als  wir  nach  langem  Aufenthalte  auf  der  herrlichen  Höhe 
weiterzogen,  schrieb  ich  in  mein  Reisenotizbuch:  -Der  Latpari-Pass  ist 
die  Touristenroute  der  Zukunft,  und  sein  Panorama  wird  eines  Tages  mit 
Recht  in   Poesie  und   Prosa  gefeiert  werden. 

Steil  senkt  sich  der  Weg  vom  Latpari-Pass  gegen  Süden  in  die  Tiefe.  Er 
wird  von  einzelnen  Schneefeldern  gekreuzt  und  das  schlechte  Wetter  der  letzten 
Wochen  hat  den  weichen  Schieferboden  aufgewühlt.  Lange  ziehen  wir  in  steilen 
Zickzacks  an  diesen  öden  grauen  Abhängen  abwärts,  bis  sie  zu  grünen  be- 
ginnen. Rasch  nimmt  der  Reichtum  der  subalpinen  W'iesenflora  zu,  die 
weiter  unten  in  grösster  Ueppigkeit  sich  entfaltet  und  sich  zu  überraschen- 
der Höhe  entwickelt.  Die  P'arbenpracht  dieser  Vegetation  zur  Zeit  ihrer 
Blüte  muss  einen  herrlichen  Anblick  gewähren,  und  auch  jetzt  fesselte 
uns  die  staunen.swerte  Grösse  die.ser  hochstämmigen  Arten  breitblättriger 
Gräser  und  Kräuter.  .Stechend  brechen  durch  die  Wolken  die  .Sonnen- 
strahlen, aber  der  schöne  Laub- 
wald, der  uns  später  aufnimmt, 
Birken,  dann  Buchen  und  luchen, 
labt     mit    kühlendem    .Schatten. 

hl  3^',  Stunden  von  der 
Passhöhe  sind  wir  in  der  Tal- 
sohle des  Zchenis-Zchali  (der 
Hippus  der  Alten),  überschreiten 
den  Strom  aul  schwanker  Brücke 
und  kommen  in  etwa  looo  m 
Höhe  zu  den  obersten  Höfen 
der  Dorfgenossenschaft  Tscholur 
im    Dadianschen   Swanetien. 

Da  es  noch  früh  am  Tage 
war,  entschloss  ich  mich,  rasch 
noch  eine  Strecke  Weges  zurück- 
zulegen.    Die  Ausführung  dieser 

Absicht      wurde      noch      dadurch  Tal  des  Zchenis-Zchali. 


Das  Tal  des  Zciienis-Zchai.i. 


erleichtert,  dass  der  Starschina,  dem  ich  meine  Papiere  vorzeigte 
und  der  dieselben,  umgeben  von  einer  lebhaft  gestikulierenden  und  schreien- 
den Rotte,  einer  umständlichen  Prüfung  unterzog,  sich  nicht  besonders 
beeilte,  uns  ein  Nachtquartier  anzubieten.  Trotz  der  verhältnismässig 
grossen  Mühe  dehnen  sich  überall  in  Tscholur  Ackerfelder  und  Pruchtgärten 
aus,  schon  mit  den  gelben  Tinten  des  Herbstes.  Dazwischen  stehen  Häuser- 
gruppen. Von  allen  Seiten 
entrieseln  den  Berghängen 
!>  '^^^^^^^^^H        Wasseradern  und  Bäche,   und 

IT  jj^^^^^l^^^l        dieser  Wasserreichtum  scheint 

auch  die  Vegetation  des  in 
die  Tonschiefer  gesenkten 
Tales  zu  fördern.  Nach  einer 
kurzen  Enge  folgt  ein  weites 
Pal,  und  der  Weg  zieht  durch 
schonen  Wald.  Schon  früher 
haben  sich  an  der  Sonnen- 
seite zwischen  die  Stämme  der 
Nordmannstannen  Laubhölzer 
gedrängt.  Herrliche  Baum- 
riesen entsteigen  dem  üppig 
wuchernden  Unterholz,  von 
hoch  sich  emporrankenden 
Schlingpflanzen  umhüllt.  P)er 
.Abend  naht,  und  man  kann 
sich  keinen  schöneren  Ort  für 
ein  Nachtlager  denken ,  als 
die  schwellende  Alpenmatte, 
an  welche  wir  gelangen.  Dich- 
tes Gebüsch  immergrüner 
Sträucher  und  hohe  Farn- 
kräuter umsäumen  sie.  Im 
Rücken  erhebt  sich  das  waldbe.standene  Talgehänge,  und  unfern  strömt  ein 
klarer    Bergbach. 

6.  Sejjtember.  L^m  6  Uhr  morgens  sind  wir  auf  dem  Wege, 
der  durch  prächtige  vegetationsreiche  Schluchten  des  Zchenis-Zchali  führt.  Vor 
Lentechi  liegt  auf  einem  vom  Bache  umspülten  P'elswerke,  zwischen  grünem 
Geheofe,   das  halb  zerfallene  Schloss  der  Dadianfürsten.      Das  Tal  um  Lentech 


Schluchten  de.s  Zchenis-Zchali. 


—      156 


Üii'KiE  Vki'.ktation  der  südlichen  KaükasustAder. 

(726  m)  ist  breit  und  fruchtbar;  es  wird  Mais  und  Getreide  gebaut,  und 
«rosse  Obstgärten  sollen   reiche  Ernten  geben. 

Die  landschaftliche  Szenerie  dieser  südlichen  Kaukasustäler  bleibt 
immer  schön.  Reicher,  üppiger  wird  die  Vegetation  bis  man  in  die  Region 
des  Lorbeers,  des  wilden  Weines  gelangt.  Dem  Tonschiefer  um  Lentechi 
folgt  die  Juraformation,  durchbrochen  von  zahlreichen  Eruptivgesteinen,  und 
bei  Muri  erreicht   man   die   Kreidekalke. 

Das  Uebersteigen  der  den  Zchenis-Zchali  und  die  Nebenflüsse  des 
Rion   trennenden,    niedrigen    Kammrücken     mit    ihren    wechselnden    Blicken 


Burg   der    Dadiaiif  ürsten    am   Zchenis- Zcliali. 

auf  Berg  und  Tal,  die  Reihenfolge  von  Schluchten,  welche  die  Elüsse  durch- 
brechen, gestalten  den  Weg  abwechslungsreich.  Im  Defih-  vor  Muri  nähern 
sich  steile  Eelswände  bis  auf  etwa  25  .Schritte;  der  .Saumpfad  musste  ihnen 
abgetrotzt  werden,  und  über  die  brausenden  Wasser  führen  kühn  ges[)annte 
Brücken.  Auf  hohem  Eelsen  stehen  die  Mauern  einer  zerfallenden  Burgwacht. 
Aus  der  Engschlucht  tretend,   sind   wir  in  Mingrelien. 

Zageri,  unterhalb  Muri,  ist  der  .Sitz  eines  Kreischefs,  damals  Oberst 
Rodsiewitsch,  bei  dem  wir  gastfreundlich  aufgenommen  wurden.  Nach  einem 
selten  unterbrochenen  Lagerleben  von  zwei  Monaten  bin  ich  plötzlich  in 
voller   eurojaäischer  Zivilisation. 


157 


DTK    SclIl.rCHTEX    VON    MlKI    IXO    DES    LAnSCllANURI. 


Defik-  vor  Muri. 

enge  Torötfnuno-  tritt.  Der  Weg 
setzt  an  mehreren  Stellen  das 
mächtige  Blöcke  hemmen.  Die 
umflorte  Mondsichel  warf  ein 
bleiches  Irrlicht  bald  aufschäu- 
mendes Wasser,  bald  auf  das 
weisse  Kalkgestein,  um,  bei 
einer  Biegung  des  Pfades  ver- 
schwindend, alles  in  mystische 
F'insternis  fallen  zu  lassen. 
Diese  nächtliche  Wanderung 
durch  die  Schluchten  des  Lad- 
schanuri  übte  einen  geheim- 
nisvollen Reiz  aus  und  war 
die  Ursache,  dass  sie  mir  die 
schönsten  zu  sein  schienen, 
die  ich  im  Kaukasus  gesehen 
hatte. 

Vor  Alpana,  wo  wir  gegen 
Mitternacht  ankamen,  fällt  der 


Der  folgende  I  ag  —  der 
7.  September  —  war  ein  Sonn- 
tag. \\  ir  ruhten  lange.  Von 
Zageri  wurden  die  braven  Swanen 
nach  Hause  geschickt  und  es 
mussten  wieder  Pferde  gemietet 
werden,  die  erst  am  späten  Nach- 
mittag erschienen.  Wir  hatten 
einen  niedrigen,  der  Kreide- 
formation angehörigen  Berg- 
rücken nach  Orbeli  zu  über- 
steigen und  durchritten  schon 
bei  eintretender  Nacht  die 
Schluchten  des  Ladschanuri. 
Glatte,  lichte  Kalkfelsen  erheben 
sich  in  nahezu  senkrechten  Wän- 
den zu  beiden  Seiten  des  Dehle, 
in  welches  man  ilurch  eine 
ist  meist  in  den  Felsen  gehauen  und  über- 
stürnu'sch    brausende  Wasser,    dessen    Lauf 


.'\usgang    des    Defile    von   Muri. 


158 


üh'.M    RtoN    KNTLAXC    nach    KlTAlS. 

I.adschanuri  in  den  Rioii.  Hier  geht  der  Sauniprad  in  eine  schmale  und 
nicht  besonders  knnstvoll  angelegte  Fahrstrasse  lil)er.  Ich  halte  nach  Alpana 
Wagen  bestellt  und  es  blieb  uns  erspart,  die  lange  Tagestour  nach  Kutais 
auf  staubiger  Strasse,  durch  die  heisse  Rion-Niederung  reitend,  zurücklegen 
zu    müssen. 

8.  September.  Am  frühen  Morgen  wieder  reisebereit,  brauchten  wir 
acht  -Stunden  Pahrens,  immer  dem  Laufe  des  Rion  folgend,  bis  nach  Kutais. 
Im  unteren  Teile  des  Riontales  fesselt  die  Aufmerksamkeit  des  Reisenden 
in  erster  Reihe  die  reiche  Vegetation,  welche,  je;  mehr  man  sich  Kutais 
mit  seiner  auch  für  uns  fühlbaren,  feuchten  Hitze  nähert,  tropischen  Charakter 
und  die  grösste  l^eppigkeit  annimmt.  In  mächtiger  .Steigerung  hat  sich 
dieselbe  entwickelt;  in  die  Baumbestände  \<)n  Ulmen,  Eschen  und  Birken 
sind  süsse  Kastanien  getreten,  mischen  sich  die  roten  Blüten  des  Ciranat- 
baumes.  Feigen,  .Stechpalmen,  Lorbeer,  und  I{])heu  umwindet  dieselben. 
Die  hochemporragende  Rebe  umschlingt  die  Stämme  von  Bäumen,  zwischen 
deren  Geäste  die  herrliche,  blauschwarze  Traube  hängt.  Es  war  ein  packender 
-Schluss  des  langen  Niedersteigens  aus   nordischen   Höhen. 

In  Kutais,  der  alten  Hauptstadt  Imeriens,  trennte  ich  mich  von  meinen 
.Schweizern.  Ich  wandte  mich  ostwärts,  um  noch  Tiflis  imd  die  Darielstrasse 
kennen  zu  lernen.  Burgener  und  Rüp[)cn  hihren  nach  Batum,  wo  sie  sich 
nach  Odessa  einschifften,  um  von  dort  mit  der  Eisenbahn  heimzukehren. 
Ein  Händedruck,  und  wir  schieden.  Ich  sollte  Peter  Ruppen,  der  in  jener 
denkwürdigen  Nacht  am  Elbruss,  in  4000  Meter  Höhe,  an  den  glatten  Eis- 
hängen mutig  und  mit  bewundernswerter  Energie  durch  lange  .Stunden 
Stufen  schlug,  nicht  wiedersehen.  Am  Lyskamm  in  den  Walliser  Alpen 
fand  er  einige  Jahre  später  mit  einem  Reisenden  und  einem  andern  Führer 
durch  das  Abbrechen  einer  Schneegewächte,  über  furchtbare,  fast  senkrechte 
Felshänge   abstürzend,   einen   frühen   Tod. 

Mit  dem  Abschiede  vom  Hochgebirge  sind  wir  in  bekanntes,  viel  be- 
gangenes und  beschriebenes  Terrain  gelangt.  Meine  Aufgabe  ist  zu  Ende. 
Und  obgleich  ich  auf  der  Heimkehr  nochmals  auf  der  grusinischen  Heerstrasse 
die  kaukasische  Wasserscheide  überschreiten  sollte,  so  war  dieser  Rest  der 
Reise  doch  nur  eine  schöne  Touristenfahrt.  Etwas  abgespannt  blickte  ich 
durch  die  Waggonfenster  auf  das  waldreiche  Mittelgebirge  der  Suramhöhen, 
welche  die  Bahnlinie  \on  Kutais  gegen  Tiflis  übersteigt.  In  scharfem 
Kontraste  zu  demselben  stellt  sich  dann  die  steinige,  sonnverbrannte  Tal- 
lancl.schatt  des  Kur-Beckens  bei  Tiflis  dar.  Dennoch  fesselte  der  fremdartige 
Anblick   mein   Interesse.      Man   muss  diese   nackten  Felsen   mit  dem   Farben- 

—      159     — 


Von  Tiflis  üukk  die  grusinisciik  heekstrassk  nach  Wladikawkas. 

spiele  ihrer  i^rauen  Tüne,  die  feinen  Nuancierungen  ihrer  Oberflächen- 
gestaltung genau  betrachten,  in  die  WasserschiUnde  blicken,  die  in  denselben 
erodiert  sind,  um  das  eigentümliche,  packende  Gepräge  dieser  Formationen 
zu  erfassen. 

9.  bis  20.  September.  Von  Tiflis  geht  es  nordwärts  durch  alle 
Stufen  des  bis  zur  Schneeregion  ansteigenden  Alpengebirges  auf  die  Pass- 
hohe der  berühmten  grusinischen  Heerstra.sse.  Die  wilden  Szenerien  der 
Darielschlucht  und  den  herrlichen  Blick  auf  den  hart  an  der  Strasse  sich 
erhebenden  Kasbek  sollte  ich  diesmal  bei  trübem,  regnerischem  Wetter  nur 
zum  Teil  würdigen  können,  das,  je  näher  wir  gegen  Wladikawkas  kamen, 
in  sündflutartige  Güsse  ausartete,  als  oIj  noch  am  Schlu.sse  meiner  Reise 
der  abnorme  Sommer  des  Jahres  1S84  im  Kaukasus  sein  Werk  ganz  und 
recht  vollenden   sollte. 

Man  benötigte  einer  Eisenbahnfahrt  von  vier  Tagen  und  vier  Nächten, 
um  von  Wladikawkas  über  Rostow,  Charkow  und  Elisabethgrad  nach  Odessa 
zu  gelangen.  Die  X'erbindungen  waren  schlecht  und  die  Fahrgeschwindigkeit 
eine  langsame.  L^nd  noch  einmal  48  Stunden  währte  es,  bis  die  Heimat, 
Budapest,   erreicht  war. 


Der  südliche  Teil  der  Adai-Choch-Gruppe  vom   Mamisson-Pass. 


XII.  KAPITEL. 


Das  obere  Ardontal,  der  Mamisson-Pass  und  das 
östliche  Quellgebiet  des  Rion. 

Die   erste  Forderung  an   iWv  W'tssensihaft 
ist  die  treue  Beobaclituiig  der  Natur. 

Friedridi   Ratzel. 

Meine  erste  Reise  im  Kaukasus  hatte  in  mir  den  Wunsch  nach  Ver- 
tiefung der  gewonnenen  Kenntnisse,  der  empfangenen  Eindrücke  hervor- 
gerufen, die  Absicht,  manches  nur  flüchtig  durchstreifte  Gebiet  genauer 
kennen  zu  lernen,  unbetretene  Wege  einzuschlagen,  nahegelegt,  und  ich 
beschloss,  im  folgenden  Jahre  das  zentrale  Gebiet  des  Kaukasus  wieder  zu 
bereisen.  Herr  Professor  Hugo  Lojka  hatte  sich  auf  meine  Einladung  der 
Expedition  als  Botaniker  angeschlo.ssen 

Es  war  zum  grossen  Teile  der  wiederholte  Besuch  jener  Punkte  in 
Aussicht  genommen,  welche  ich  schon  1884  berührt  hatte.  Orographische 
Beobachtungen,  Höhenmessungen  und  photographische  Aufnahmen  sollten 
ausgeführt  werden.  Eine  Hauptaufgabe  bildeten  Beobachtungen  an  einigen 
Talgletschern  des  Nord-  und  Südabhanges,  insbesondere  die  Erstellung  von 
Signalpunkten  als  Basis  für  Messung  eines  Vor-  oder  Rückwärtsschreitens 
dieser  Gletscherindividuen. 

Dichy:     Kaukasus.  11 

—        161         — 


I^oTAMSciiE  Sammia  n<;kn  in  ukr  Krim. 

Es  wurden  diesmal  neben  zwei  Aneroiden  von  Cioldschmid,  einem 
Grossen  luul  einem  kleinen  Instrumente,  sowie  einem  Aneroide  von  Hicks 
in  London,  zwei  Kochpunkt-Thermometer  von  Casella  und  zwei  Quecksilber- 
Barometer  von  Kappeller  mitgeführt.  Ein  prismatischer  Kompass  mit  Kugel- 
stativ zum  1  lorizontalschrauben  von  Addie,  Maximal-  und  Minimal-Ther- 
mometer,  Hygrometer,  Clinometer,  Messband  und  rote  Oelfarbe  mit  Pinsel 
(zum   Markieren    von   Fixinmkten    an   Gletschern)    vervollständigten   die  Aus- 


Die   Krimküste   bei  Jalta,   vom  Meere  gesehen. 


rüstung.  Grosse  Aufmerksamkeit  wurde  auch  der  photographischen  Aus- 
rüstung zugewendet. 

Nach  einem  längeren  Aufenthalte  in  der  Krim,  den  wir  insbesondere 
der  Anlage  von  botanischen  Sammlungen  widmeten, '')  gelangten  wir  wieder 
über  Kertsch  in  das  Meer  von  Asow  und  fuhren  dann  von  Taganrog  via 
Roste  »w   am   Don   nach  VVladikawkas. 

Wie  im  Vorjahre  galt  es  auch  diesmal,  mehrere  heisse  Tage  in 
Wladikawkas   durchzuarbeiten   bis  die   Reiseausrüstung  für  das   Hochgebirge 


*)  Unter  den  gesammelten  Crytogamen  wurden  Collema  (Lepidora)  Vamberyi  VVain.  n.  sp., 
Lecanora  Lojkae  Wain.  n.  sp.,  Vlacodiuni  papilliferum  Wain.  n.  6]3.,  Porina  scliizospora  Wain.  n.  sp., 
Pyrenopsis  sphaerospora  Wain  n,   sp.   als  neue  Arten  bestimmt. 


Hisor.AciiTi  \(;  AM  Zki  Gi.i:r.si-iiKK. 

transportfähig  eingeteilt  und  gepackt  war.  Das  Ciepäck  war  diesmal  be- 
deutend angewachsen.  Die  Ausrüstung  wurde  durch  die  grössere  Anzahl 
wissenschaftlicher  histruniente,  durch  einen  grösseren  Vcjrrat  an  photo- 
graphischen Glasplatten  unil  durch  voluminöse  Packe,  welche  das  Papier- 
iiiaterial  meines  Reisegefährten  Hir  seine  botanischen  .Sammlungen  enthielt(;n, 
bedeutend  vermehrt.  Die  botanischen  Sammlungen  bildeten  schwere  Lasten, 
die  den  Transport  über  die  langen  Talstrecken  auf  Pferden,  noch  mehr  aber 
auf  dem  Rücken  von  Trägern  über  hohe  Gletscherpässe  zu  einer  schwierig 
zu  lösenden  und  kostspieligen  Aufgabe  gestalteten.  Die  Erfahrung  des 
letzten  Jahres  hatte  mich  gelehrt,  den  essbaren  Vorräten  des  Landes  nicht 
zu  viel  Vertrauen  entgegenzubringen,  da  sie  oft  schwer  und  erst  nach  langem 
Zuwarten  zu  beschaften  sind,  und  mich  veranlasst,  auch  Konserven  in 
grösserer  Quantität   mitzunehmen. 

Dagegen  konnte  ich  in  diesem  Jahre  eines  Dolmetsch  entraten,  der 
unnötig  wurde,  denn  meine  in  der  letzten  Zeit  gewonnene  Kenntnis  der 
russischen  Sprache  sollte  genügen.  In  Wladikawkas  wurde  mir  auch  dies- 
mal ein  offener  Brief  des  General -Gouverneurs  des  Kaukasus,  Fürsten 
Dondukow-Konsakow,  behändigt.  Auch  ein  Milizkosak  ossetischer  Nationalität 
war  mir  zugeteilt  worden. 

So  galt  denn  unser  erster  Weg  wieder  dem  Massiv  des  Adai-Choch, 
insbesondere  dem  Zei-Gletscher.  Alagir  war  auch  diesmal  die  erste  Xacht- 
station,  St.  Nicolai  die  zweite,  und  am  folgenden  Abende,  es  war  der 
2  I .  Juli,  wurde  das  Zelt  am  gleichen  Orte  wie  im  Vorjahre,  am  l-'usse  des 
Zei-Gletschers,  aufgeschlagen. 

Mehrere  Tage  verbrachten  wir  mit  den  programmässig  vorgesehenen 
Arbeiten  in  der  Gletscherregion.  Mit  der  Erstellung  von  Signalen,  der 
Errichtung  einer  kleinen,  aus  Blöcken  aufgeschichteten  Mauer  in  geringer 
Entfernung  vom  Gletscherende  und  der  Bezeichnung  einzelner  gro.sser 
Steinblöcke,  wurde  der  späteren  Kontrolle  der  Messungen  eine  Basis  geboten. 
Die  Höhe  der  Ufermoränen,  der  Neigungswinkel  derselben,  die  Entfernung 
des  Gletscherendes  von  der  äussersten  Stirnmoräne  (dem  Wiederbeginn  der 
Vegetation)  wurden  gemessen  und  Photographien  der  Gletscherzimge,  des 
eisfrei  gewordenen  Terrains  und  aller  für  diese  PVage  charakteristischen 
Merkmale  aufgenommen.  Wir  stiegen  im  Laufe  der  Arbeiten  bis  zum 
Eisfall  empor  und  überschritten  des  öfteren  den  unteren  Gletscher  von 
einem  Ufer  zum  andern.  Reiche  Ausbeute  füllte  das  Herbarium.  Unter 
den  Phanerogamen  wurden  als  neue  Arten  entdeckt:  Delphinium  bracteosum 
S.  et  L.   n.  sp.,    Cirsium     Lojkae    .S.  et  L.  n.  sp.,     Nepeta    caucasica    S.  et 


1  )ii-:  Kassaka-Sciii.ucht. 


L.  n.  s[).  (S.  173)  und   c-inc  Reihe  von   neuen  Varietäten.     Unter  den  Idechten 
war  Sarcogyne   eucarpoides   Wain.   neu.*) 

Da.s  Wetter  war  ziemlich  günstig  und  die.ser  mehrtägige  Aufenthalt 
im  Zejagebiet,  wo  Arbeiten  und  Lustwandeln  wechselten,  war  höchst  genuss- 
reich.     Am    24.  Juli   waren   wir  wieder   in  .St.  Nicolai. 

Die  Fortsetzung  der  Reise  führte  durch  den  oberen  Teil  des  Ardon- 
tales.      Am    Mamissonpasse  sollte   die    Wasserscheide   überschritten    werden, 

um    in    das    östliche    Ouellgebiet 
[  des   Rion   zu   gelangen. 

Bald  hinter  Nicolai  verengt 
sich  das  Ardontal  zur  Kassara- 
schlucht,  welche  die  vorgescho- 
benen Massen  des  Kaltber 
(4409  m)  und  die  Ausläufer  der 
Kette,  welche  Zmiakom-Choch 
und  den  Tepligipfel  (4423  m) 
trägt,  umschliessen.  Der  Ardon 
durchbraust  in  der  Kassara  ein 
Defile  von  hoher  landschaft- 
licher Schönheit.  In  2000  bis 
2500  m  hohen  Granitwällen  er- 
heben sich  diese  Kammzüge, 
und  in  nahezu  senkrechten,  aus 
Ciranit  und  Gneis  gebildeten 
Mauern  steigen  sie  über  dem 
Strombett  auf.  Aus  schlucht- 
artigen Rissen  stürzen  helle 
Wasser  in  Kaskaden  zur  Tiefe, 
und  oben  zwischen  den  ge- 
zackten Graten  blinken  Schnee 
und  Eis.  Dort,  wo  an  der  Kaltberkette  der  Elssabach  hervorbricht,  erhält 
das    Defile    ein    frcuntUiches    Aussehen   —     grüne    Vegetation    bekleidet    das 


K  a  s  s  a  r  a  -  .S  c  h  lii  r  h  t. 


*)  Als  neue  Varietäten  wurden  bestimmt:  Aetheopappus  pulcherrimus  Willd.  var.  foliosus 
S.  et  L.  var.  glabatus  S.  et  L.,  Anaptychia  pulniulata  var.  caucasica  S.  et  L.,  Asperula  cynachica, 
var.  cristata  S.  et  L.,  Geranium  pyrenaicum,  var.  depilatum,  S.  et  L.  Oxytropis  samurensis  Bunge, 
var.  subscricea  S.  et  L.  Psephellus  kacheticus  Rchm.  var.  erectus  S.  et  L.  Primula  cordifolia 
Rupr.  var.  ovalifolia,  Tragopon  filifolius  Rehm.  var.  macrorhizus  S.  et  L.  Neue  Subspecies  unter 
den  Flechten  waren:  Umbilicaria  pennsylvanica,  var.  caucasica  Wain.,  Usnea  reticulata  Wain.  nov. 
subsp.      Enumeratio  und  Abbildungen  siehe   im  Abschnitte:   Botanische  Ergebnisse,  Band   III. 


Al.TF.    Gl.K'lsrilKRSPl'REN    IM    (IHKKKN    Akl  lONTAl.K 


Die  Kaltber-Kette   aus  der  Kassara -Schlucht. 


sanfter  ansteigende  Gehänge, 
und  einzelne  Kiefern  haben  sich 
auf  die  Steihvände  gewagt. 

In  den  westlich  vom  Ardon 
liegenden  Ouertälern  des  zen- 
tralen Kaukasus  durchbrechen  die 
vom  granitischen  Hauptkamm 
niederziehenden  Bergströme,  der 
Uruch,  der  doppelarmige  Tsche- 
rek  und  der  Bakssan,  die  mit 
demselben  parallel  laufenden 
Vorketten.  Im  Ardontale  jedoch 
und  in  den  östlich  von  dem- 
selben gelegenen  Ouertälern 
bahnen  sich,  im  Gegensatze  zu 
den  westlichen,  die  Bergströme 
ihren  Weg  auch  noch  durch  die 
granitische  Fortsetzung  des 
Hauptkammes,    welche    mit    der 

Abzweigung  derselben  vom  Massive  des  Adai-Choch  aufgehört  hat,  die 
Hauptwasserscheide  des  Kaukasus  zu  sein  und  diese  Rolle  vom  Mamisson- 
Passe  an  den  Tonschiefern  überlässt.  Die  granitische  Kette,  welche  der 
Ardon  in  der  Kassaraschlucht  durchbricht,  setzt  sich  weiter  gegen  Osten 
in  mächtigen  Erhebungen  bis  zum  Kasbek  fort.  Das  Massiv  des  Adai- 
Choch  ist  daher  ein  wichtiger  Punkt  im  Bau  des  Kaukasus,  ein  riesiger  PZck- 
pfeiler,  wo  die  Kräfte,  welche  die  Kette  aufwarfen,  sie  auch  zer- 
splitterten. 

Die  Kassaraschlucht  mündet  in  das  weite,  von  Schiefern  gebildete 
Becken  von  Saramag  (1665  m).  Vom  Westen  zieht  tlas  Saramagtälchen 
hierher,  in  dessen  Hintergrund  der  bis  zu  2700  m  herabdringende  Saramag- 
Gletscher  sich  ausbreitet.  Die  Talweite  von  Saramag  muss  einen  günsti- 
gen Raum  für  die  Gletschermassen  geboten  haljen,  welche  von  den  firn- 
bedeckten  Höhen  niederzogen.  Die  Spuren  der  einstigen  grossen  Aus- 
dehnung der  Gletscher,  welche  aus  den  Seitentälern  niederzogen,  sind  in 
Moränenresten,  welche  den  beckenförmigen  Boden  bedecken,  an  den  mächtigen 
Glazialschotterterrassen,  welche  150  bis  200  m  über  dem  Pluss  sich  aus- 
dehnen, an  den  erratischen  Granitblöcken,  welche  in  dieses  Tonschiefer- 
gebiet gebracht  wurden,   mit   Sicherheit  zu   erkennen. 


Dek  Mamissox-Pas.s. 

Oberhalb  der  I  lütten^ruppen  von  Saramas^'^  vereiniy^en  sich  die  Wasser 
des  östliclien  und  westlichen  Ouellflusses  des  Ardon,  des  von  Osten  strömenden 
Nardon  und  des  westlichen,  auch  Mamisson  genannten  Quellflusses.  Der 
Ardon ,  welcher  vom  Einflüsse  des  Ssadonbaches  oberhalb  Nusal  bis  zu 
seinem  Austritte  aus  der  Kassaraschlucht  bei  Saramag  eine  streng  nord- 
südliche Richtung  eingehalten  hat,  wendet  sich  hier  und  durchfliesst  ein 
gegen  Westen  ziehendes  Längental.  Dieses  westliche  Ouellgebiet  bildet 
ein  20  km  langes,  enges,  nahezu  baumloses  Weidenhochtal.  Zahlreiche 
kleine,  oft  nur  aus  wenigen  Hütten  bestehende  Dörfer  haben  sich  in  dieser 
Talstrecke  angesiedelt,  die  natürliche  Folge  des  Weidelandes,  welches  sie 
bietet.  Selbst  Kulturen  von  Getreidearten  sind  hier  noch  bei  günstiger 
Lage  trotz  der  bedeutenden  Höhe  zu  sehen.  Die  grösste  Hüttengruppe, 
Aul  Tib  liegt  in  1S20  m  (.A.  D.)  Höhe.  Das  ganze  Gebiet  ist  eine 
Zone  des  Ueberganges  von  Gneisen  und  granitischen  Gesteinen  zu  den 
verschiedenartigsten  Schiefern,  kristallinischen  und  Tonschiefern.  Hier  ent- 
deckte Professor  Lojka  eine  neue  Blütenpflanze,  Celsia  atro-violacea  S.  et  L. 
nov.  sp.,  und  in  Gesteinsritzen  nistete  Lecidea  Freshfieldi  Wain.  n.  sp.  und 
V'errucaria  Dechyi,  Wain.  n.  sp.,  welche  als  neue  Cryptogamenarten  bestimmt 
wurden.'') 

hl  einer  Höhe  von  2270  m  (B.  D.)  steht  eine  armselige,  jetzt  bau- 
fällige Steinhütte  für  die  Wegaufseher,  die  Mamisson-Kasarma,  neben  welcher 
wir  auf  weichem  Rasen  um  6  Uhr  abends  unser  Zelt  aufschlugen.  Im  Osten 
zeichnete    sich   die   stark  vergletscherte   Teplikette   am    klaren   Abendhimmel. 

26.  Juli.  Aiu  frühen  Morgen  wanderten  wir  in  streng  nördlicher 
Richtung  auf  den  obersten  Talboden,  über  welchen  steile,  zirkusförmige 
Wände  aufragen.  An  denselben  zieht  der  Weg  in  grossen  Kehren  zur 
Höhe  des   Mamissonpa.sses  empor. 

Die  kaukasische  Hauptwasserscheide,  die  Scheide  zwischen  Ardon  und 
Rion,  besitzt  am  Mamisson-Pass  eine  Höhe  von  2825  m  (2842  m  B.  D.). 
Jenseits  liegt  das  östliche  Ouellgebiet  des  Rion.  Die  IVIamissonhöhe  ist  eine 
schneefreie,  stellenweise  noch  begrünte,  im  Tonschiefer  liegende  PLinsattlung 
des  kaukasischen  Hauptkammes,  welcher  von  hier  gegen  Westen  bis  zu  den 
Ouellflüssen  des  Kuban  auf  einer  Länge  von  über  150  km  keine  Einsenkung 
besitzt,  die  nicht  3000  m  überstiege  und  welche  nicht  unter  weiten  Schnee- 
und   Firnfeldern   beoraben   wäre. 


*)  Neue  \'arietäten   waren  unter  den  Phanerogamen:   Draba   ossetica  Kupr.  var.  columnaris 
S.  et  L.   und   Dianthus   montanus   M.  Bieb.  var.  laxiflorus  .S.  et  L. 


^       166 


Das  östliciik  Oi-ei.i,(;kiiii;t  des  Rion. 


Trotz  des  ziemlich  klaren  Morgens  hatte  sich  das  Wetter  so  rasch 
verschlechtert,  dass,  als  wir  zwei  Stunden  nach  X'erlassen  der  Mamisson- 
Kasarma  auf  die  Passhöhe  gelangten,  man  kaum  die  nächste  Umgebung 
unterscheiden  konnte  und  Wind  und  Wetter  uns  sofort  von  der  Passhöhe 
südwärts  trieben.  Dort  war  es  heller;  durch  die  wallenden  Nebel  hindurch 
leuchteten  Eis  und  Schnee,  durch  die  Wolkenrisse  wurden  Felsgrate  und 
Spitzen  sichtljar.  Es  sind  die  südlichen  Abhänge  des  Adai-Choch-Massivs, 
welchem   wir  uns  genähert  haben. 

Die  Westseite  des  Mamison  fällt  nach  dem  auf  der  Rionseite  sich 
ausdehnenden  Kesseli)oden  in  steilen  Wänden  ab.  Auf  demselben  steht  in 
2525  m  (B.  D.)  Höhe  ein  Wegräumerhaus.  Nur  wenig  höher  liegen  die 
Endmoränen  des  Gletschers,  welchem  der  Tschantschachi-Bach  entfliesst  — 
ein  Ouellfluss  des  Rion,  welcher  nach  dem  Durchströmen  des  fast  ebenen 
Talbodens   mit  starkem   Gefäll   der  Tiefe  zustürzt. 

W^eite  Plateauflächen  ziehen  dem  Tale  entgegen.  Eine  mächtige 
Geröllanhäufung,  eine  alte  Stirnmoräne  aus  Granit  und  Protogyn,  lagert  sich 
quer  durchs  Tal,  ein  prächtiges  Denkmal  einstiger  Gletschergrösse.  Alles 
ist  öde  und  wüst,  und  er.st  wenn  die  tiefere  Talstufe  erreicht  ist,  ergreift 
den  vom  ernsten  Norden  kommenden  Wanderer  die  Schönheit  mächtiger 
Waldungen,  und  eine  neue  üppige  Vegetation, 
welche  bald  den  Pfad  umsäumt,  entrollt  all 
die  Reize  des  Südens,  die  mit  dem  Namen 
des   Rion  verknüpft  sind. 

.Schon  auf  den  obersten  Matten, 
selbst  auf  den  wenigen  begrünten  Mächen 
der  Passhöhe  hatten  uns  blühende  Alpen- 
pflanzen begrüsst:  Anemonen,  Gentianen, 
Primeln,  eine  Reihe  von  Sa.xifragen,  Ranun- 
keln, Draben,  Silenen,  Alchemillen,  Vale- 
rianen,  Campanulen  mit  all  ihrem  P'arben- 
reiz.  Unter  den  gesammelten  Phanerogamen 
wurden  als  neue  Art  bestimmt:  ein  Ranun- 
culus  Lojkae  n.  sp.  S.  et.  L.  und  unter  den 
Chryptogamen  eine  Lecanora  .Szechenyii 
Wain.  n.  sp.  Im  Walde  stehen  Tannen  in 
riesigen  -Stämmen,  dann  folgen  prächtige 
Ahornbäume,  Paschen  und  Kiefern,  hnmer 
üppiger   wird    die  Vegetation,    insbesondere      Kanunculus  Lojkae  s.  et  L.  nov.  sp. 


RlESEN.STAUDF.XFl.DKA. 

auf  den  sonnigen  Hängen  erreichen  die  Bodenkräuter  überraschende  Höhe 
und  Grösse.  Dort  breiten  sich  die  mächtigen  Blätter  der  Telekia  ovata, 
die  gelben  Sonnen  der  Telekia  speciosa,  die  grossen  Blumen  der  Inula 
grandiflora,  der  Potentilla  elatior,  der  Cephalaria  Tatarica  und  des  Aconitum 
Orientale  aus ;  hohe  Anemonen  (narcissiflora  und  speciosa),  Primula  auri- 
culata,  durch  mächtigen  Stengel  ausgezeichnete,  prächtige,  in  ihrer  Blatt- 
form  vielgestaltige  Cirsien,  Orchis  latifolia  und  eine  Reihe  anderer  Blüten- 
pflanzen  stehen   in   prächtiger   Entwicklung. 

Oberhalb  einer  tiefen  Schlucht,  welche  der  Tschantschachi-Bach 
erodiert  hat,  am  linken  Ufer,  liegen  auf  einer  Talterrasse  die  armseligen 
Hütten  von  Gurschewi  —  1928  m  —  (1920  m  B.  D.).  Hier  schlugen  wir 
unser  Zelt  auf.*) 

Am  Morgen  des  27.  Juli  war  ich  früh  wach  und  zog  aus,  um  eine 
iler  Höhen  im  Süden  der  Gurschewiterrasse  zu  erklettern,  welche  einen 
l'eberblick  über  die  südlich  gegenüber  derselben  aufsteigende  Hauptkette 
versprach.  Wir  bogen  in  die  von  prächtigen  Nordmannstannen  umstandene 
Schlucht  des  Chamzela-Baches  (auch  Chami-dschauri)  ein,  in  deren  Hintergrund 
ein  kleiner  Gletscher  leuchtete,  und  begannen  dann  das  Gehänge  zur  Linken 
durch  dichtes  Rhododendrongebüsch  anzusteigen.  Feuchte  Morgennebel 
lagen  noch  in  der  Tiefe,  aber  in  der  Höhe  war  es  klar,  und  am  farblosen 
Firmamente,  das  sich  langsam  aufzuhellen  begann,  war  keine  Wolke  .sichtbar. 
Während  wir  uns  rasch  erhoben,  begannen  auch  im  frühen  und  unsicheren 
Lichte  des  anbrechenden  Tages  über  den  vorlagernden,  niedrigen  Rücken 
die  Linien  der  höchsten  Gipfel  der  Hauptkette  zu  erscheinen.  Nun  stürmte 
ich  über  die  pfadlosen  Halden  empor,  befürchtend,  dass  die  Sonne  Nebel 
mit  sich  ziehen  und  die  Berggipfel  verhüllen  könnte,  welche  jetzt  das  erste 
Leuchten   des  strahlenden  Tagcsgestirnes  umspielte. 

Als  ich  dann  eine  Höhe  erreichte,  welche  die  umliegenden  Kamm- 
züge überragte  und  behernschte,  einen  Gipfel  in  den  nördlich  verlaufenden 
Graten  des  Kosi-Choch  —  nach  meiner  Messung  etwa  500  m  über  Gur- 
schewi —  war  ich  von  Staunen  und  Bewunderung  überwältigt.  Hier  er- 
hoben sich  vor  meinen  .Augen  die  mächtigen  Hauptketten  und  die  .sich  in- 
einanderschlingenden     Ouerjoche     des     Kaukasus     mit     ihren     Gipfeln     und 


*)  Unter  den  in  der  Umgebung  von  Gurschewi  gesammelten  Phanerogamen  waren  neue 
.Subspezien:  Cephalaria  tatarica  Sehr.  var.  brevipalea  S.  et  L.,  Delphinium  bracteosum  S.  et  L. 
var.  macranthum  S.  et  L.,  Nonnea  intermedia  Ledeb.  var.  viscida  S.  et  L.,  Primula  auriculata  Lam. 
var.  macrantha  S.  et  L.,  Silene  fimbricata  (MB.)  Sims  f.  glandulosa  S.  et  L.,  und  unter  den  Flechten 
eine  neue  Art:   Laestadia  solarinae  Wain.  n.  sp. 

—       168      — 


AUSSICiri'    VOM    RnoDODFAIlROXirÜGKI.. 

Gletschern  von  den  Ouellcn  des  Ingur  und  des  Zchenis-Zrhali  bis  zur  lü'ii- 
sattlung  des  Mamisson.  Am  meisten  zog  meine  Aufnierksanikeit  die  zunächst 
liegende  Berggruppe  des  Adai-Choch  auf  sich,  ein  herrlicluT  Wall  von  Fels- 
wänden und  Eisfällen,  gekrönt  von  prächtigen  Gipfeln.  Langgezogene, 
gegen  Südwesten  verlaufende  Gratzüge  lösen  sich  von  demselben  und  um- 
schliessen  eine  Reihe  von  auf  das  oberste  Ouellgebiet  des  Rion,  auf  das 
Tal  des  Tschantschachi  mündende  Schluchten.  Ihre  obersten  Stufen  sind 
von  Gletschern  erfüllt,  die  sich  mit  ihren  Firnfeldern  in  die  Faltungen  des 
Gebirges  legen.  Von  Ost  nach  West  folgen  dem  Tschantschachi-Gletscher 
die  Eisströme,  welche  ich  nach  den  ihnen  entspringenden  Bächen  Tbilissa-, 
Bubiss-  und  Bokoss-Gletscher  nenne.  Unter  den  Gipfeln  fesselte  vor  allem 
den  Blick  das  herrliche,  mit  eisbepanzerten  Felswänden  aufstrebende  Hörn, 
welches  jetzt  den  Namen  Tschantschachi- Choch  trägt  und  als  der  Eiger  der 
Gruppe  bezeichnet  wurde.  Durch  eine  tiefe  Einsattlung  von  demselben  ge- 
trennt, erhebt  sich  der  schöne,  mit  Piz-Palü  vergleichbare,  mehrgipflige  Eiswall 
des  Bubiss-Choch.  Nun  streicht  der  Kamm  in  langem  Zuge  über  glänzende 
Schneekuppen  und  über  firngekrönte  Felsgrate  zum  keck  aufstrebenden  Eis- 
haupte des  Burdschula  (4385  m).  Lage  und  Höhe  der  Gipfel  dieses  süd- 
lichen Kammverlaufes  der  Adai-Choch-Gruppe  bis  zum  Burdschula  sind 
nicht  endgültig  festgelegt  und  fordern  fernere  eingehende  Untersuchung. 
Vom  erreichten  Gipfel  stieg  ich  auf  die  untere  Grathöhe  wieder  herab  — 
die  Kuppe  eines  von  dichtem  Rhododendrongebüsch  bestandenen  Hügels  — , 
wo  die  mich  begleitenden  Eingeborenen  mit  Kamera  und  Instrumenten  meiner 
warteten.  Rasch  verflossen  nahezu  zwei  Stunden  mit  photographischen  Auf- 
nahmen und   Kompasspeilungen. 

Als  ich  ins  Lager  zurückkehrte,  emi)fing  mich  eine  unangenehme 
Nachricht.  Mein  Reisegefährte  war  krank.  Das  ungewohnte  Lagerleben, 
die  Konservenkost,  die  Strapazen,  welche  das  ununterbrochene  Vorwärts- 
dringen und  die  auszuführenden  Arbeiten  mit  sich  brachten,  schienen  dem 
sonst  so  kräftigen  Manne  arg  mitgespielt  zu  haben.  Ein  fieberischer,  mit 
Dysenterie  verbundener  Zustand  mahnte  zur  Vorsicht.  Das  Liebersteigen 
des  Hauptkammes,  welches  nach  meinen  Plänen  in  das  im  Norden  liegende 
Uruch-Tal  hätte  ausgeführt  werden  sollen,  konnte  jetzt  meinem  in  Gletscher- 
wanderungen unerfahrenen  Reisegefährten  nicht  zugemutet  werden.  Einen 
Augenblick  dachte  ich  daran,  den  Uebergang  über  tien  Gurdsivcek-Pass 
allein  auszuführen  und  Professor  Lojka  über  St.  Nicolai  und  Kamunta  dort- 
hin gehen  zu  lassen,  bald  aber  gab  ich  diese  Absicht  auf,  da  ich  meinen 
kranken   Reisegefährten,    der  nicht   russisch  sprach,    gleich    am   Beginne   der 

^      169     — 


Aussicht  vom  Grate  des  Bubu-Chdch. 

Reist-  nicht  allein  zurücklassen  wollte.  So  miisste  denn  zu  meinem  lebhaften 
Bedauern  jetzt  bei  schönstem  Wetter  dieser  Plan  fallen  gelassen  und  der 
Rückzug  in  kleinen  Etappen  über  den  Mamisson-Pass  in  das  Ardon- Tal  be- 
schlossen werden. 

Um  Mittag  wurde  das  Lager  abgebrochen,  und  wir  wählten  die 
Rion-Kasarma  —  das  Wegräumerhaus  —  am  Fusse  der  letzten  Zickzacks,  die 
zum  Mamisson-Passe  emporführen,  zum  Nacht(]uartier.  Kaum  eine  halbe 
Stunde  von  derselben  gelangt  man  an  die  aus  Graniten  und  Protogyn  be- 
stehenden Moränen  des  Tschantschachi- Gletschers,  zu  dem  ich  noch  am 
Nachmittage   wanderte 

Das  Staunen  und  Verwundern  der  armen,  grenzenlos  einfältigen 
Leute,  welche  das  Wegräumerhaus  bewohnten,  über  unser  Treiben  und 
unsere  Ausrüstung  wollte  kein  Ende  nehmen.  Wäre  mein  armer  Gefährte 
nicht  von  einem  Fieberanfall  geplagt  gewesen,  der  Abend  wäre  ganz  ge- 
müdich  verlaufen.  Wir  hatten  nämlich  ein  Schaf  erstanden,  das  Steinhaus 
mit  einem  Feuerherde  bot  denn  doch  eine  gewisse  Ber]uemlichkeit,  und 
alles  war  geschäftig  und  guter  Laune,   um  den  grossen  Schmaus  vorzubereiten. 

Prachtvoll  brach  der  Morgen  des  28.  Juli  heran.  Früh  waren  wir 
auf  dem  W'ege.  Ich  trennte  mich  von  den  andern.  Nur  von  einem  Ein- 
geborenen begleitet,  der  die  Kamera  trug,  verliessen  wir  die  Zickzacks  des 
Mamissonpfades  und  wandten  uns  gegen  Südosten,  lim  9  Uhr  stand  ich 
auf  dem  Grate  des  Bubu-Choch,  etwa  400  m  höher  als  der  Mamisson-Pass. 
Das  Panorama,  welches  vor  mir  lag,  war  nahezu  gleich  mit  dem  Ausblicke, 
den  ich  vom  Rhododendronhügel  bei  Gurschewi  gehabt  hatte,  nur  an 
Ausdehnung  hatte  es  gewonnen;  die  niedrigen  Vorketten  waren  in  die  Tiefe 
gesunken,  das  Auge  drang  mehr  in  das  Innere  der  Berge,  und  wenn  viel- 
leicht einzelne  Teile  desselben  etwas  an  pittoresken  Details  des  Vorgrundes 
verloren  hatten,  so  gewann  der  ganze  Rundblick  an  Klarheit  und  Voll- 
ständigkeit. 

In  unmittelbarer  Nähe  liegt  die  Gruppe  des  Adai-Choch.  Ihre  ganze 
südliche  Abdachung  ist  enthüllt.  Der  Doppelgipfel  Hegt  von  hier  gesehen 
zurück  und  bringt  seine  Höhe  weniger  zur  Geltung.  Als  beherrschender 
Gipfel  schwingt  sich  die  Pyramide  des  Tschantschachi-Choch  in  die  Lüfte. 
Es  ist  der  Gipfel,  der  die  Bewunderung  Freshfields  und  seiner  Gefährten 
herausgefordert  hatte,  als  sie  ihn  vom  Mamisson-Pass  zuerst  erblickten. 
Damals  hielt  man  ihn  für  den  Kulminationspunkt  der  Gruppe.  Ein  neidisches 
Geschick  hat  den  herrlichen  Berg  entthront.  Andere  Gipfel  haben  ihm  seitdem 
mit    so    und    so    viel    Metern    den    Platz    in    der    Gruppe    streitig    gemacht, 


Am;I,KK    des    TSCHANTSIIIACIII-CIIOCU. 


den  er  einen  Augenblick 
sich  zu  erobern  schien, 
seiner  Schönheit  Iconnte 
aber  dies  keinen  Eintrag 
tun.  Zersägte  Felsgrate 
und  scharfe  Schneiden 
ziehen  zu  seiner  Spitze 
empor.  Die  in  grösster 
Steile  abstürzendenWän- 
de  sind  mit  abbrechen- 
den Firnfeldern  gepan- 
zert, und  die  prächtigen 
Eisgebilde  des  Tschan- 
tschachi- Gletschers  um- 
gürten den  Fuss  des 
Berges.  Xahe  im  Nord- 
osten liegt  der  Knoten- 
punkt, von  welchem  der 
Zug  sich  loslöst,  der, 
über  die  Einsenkung  des 
Mamisson  streichend,  die 
wasserscheidende  Ton- 
schieferkette bildet,  wäh- 
rend der  Granit  sich 
weiter  Kasbekwärts  mit 
den  schönen  Spitzen  der 
Tepligruppe  fortsetzt. 

Sobald  sich  der  Blick  von  dieser  fesselnden  Nähe  loslöste,  überflog 
er  im  Westen  eine  Welt  von  Bergen.  Wie  von  der  Gratschneide  des  Kosi- 
Choch,  vom  Rhododendronhügel,  nur  freier  entwickelt,  entrollt  sich  vor  uns 
die  Riesenkette  des  Kaukasus  in  den  mannigfachsten  Verschlingungen,  mit 
vorgelagerten  Nebenketten  und  abzweigenden  Ouerjochen.  So,  und  nicht 
in  einer  einförmigen  Kette,  wie  man  es  uns  bis  jetzt  gelehrt  hatte,  stellt 
sich  der  zentrale  Kaukasus  dar.  Alle  Formen  des  Hochgel n'rges,  Firn- 
pyramiden und  Felshörner,  breite  Schneedome  und  gezackte  Grate  sind 
dort  vertreten,  und  die  eisigen  Ströme,  die  von  den  Höhen  niederziehen, 
verschmelzen  mit  den  griuienden  Talsohlen.  Im  Gewirre  dieser  Bergwelt 
raoften    die    Granitriesen    .Schchara,    Koschtan-Tau    untl   D\ch-Tau    auf,   und 


Tschantschachi-Choch. 


Fortschreitende  Kenntnis  vom  Kaikasus. 

etwas  näher  glaubte  ich  in  einer  getjen  Süden  vorgeschobenen  Firnpyramide 
Tetinild  zu  erkennen.  Am  llschba,  dem  lierrlichen  Berg  Swanetiens,  war 
die  Eisrinne  zwischen  beiden  Gipfehi  diirclis  Fernrohr  klar  zu  unterscheiden,  und 
in  grosser  Ferne  noch  erschien  die  breite,  vielgipflige  Gestalt  des  Dongusorun. 
Vielleicht  ist  die  Zeit  nicht  mehr  fern,  in  welcher  Reisende  in  aller 
Bequemlichkeit  den  edeln  Mamisson-Pass  in  ihren  Wagen  befahren  und 
Exkursionen  auf  die  umliegenden  Höhen  machen  werden,  um  dieses  Panorama 
zu  geniessen,  unterstützt  durch  Zeichnungen  und  Karten,  welche  die  vor- 
geschrittene Erforschung  dieses  mächtigen  Gebirges  ermöglichen  wird,  und 
kundige  Bergbewohner  werden  ihre  P'ührer  sein.  Für  jetzt  aber  muss  der 
Reisende,  welcher  in  diese  weltentrückte  Bergwildnis  eindringt,  auf  sich  selbst 
angewiesen,  ihre  Gipfel,  Pässe  und  Gletscher  angreifen.  Der  Charakter 
der  noch  unzivilisierten  Völkerschaften  vermehrt  die  Schwierigkeiten,  erhöht 
aber  zugleich  auch  das  Interesse  der  Reise.  Unter  den  Männern ,  welche 
ihren  Mut  und  ihre  Energie  in  der  Eroberung  der  Hochgipfel  der  Alpen 
bewiesen  haben,  wird  es  auch  solche  geben,  welche  nicht  zurückweichen 
werden  vor  den  Schwierigkeiten,  welche  mit  der  Erforschung  der  entfernteren 
Berge  untrennbar  verbunden  sind.  Langsam,  aber  sicher,  werden  dann 
einer  nach  dem  andern  auch  die  Bergriesen  des  Kaukasus  fallen;  der 
gigantische  Dych-Tau,  der  höchste  Granitgipfel  des  Kaukasus,  die  firnbedeckte 
Pyramide  des  Koschtan-Tau,  die  mächtige  Schchara,  die  Dent-Blanche  des 
Kaukasus,  Tetnuld,  Swanetiens  schönster  Firngipfel,  Uschba,  des  Kaukasus 
doppelgipfliges  Matterhorn  und  manche  andere,  die  ihre  Häupter  längs  der 
grossen  Kette  in  die  Wolken  erheben.  Neue  Pässe  über  den  Eiswall  der 
Hauptkette  werden  eröffnet  werden,  und  die  kühnen  Bergsteiger,  indem 
sie  die  unbetretenen  Pfade  durch  die  eisige  Wildnis  verfolgen,  werden 
lächeln  —  oder  vielleicht,  wenn  der  Schnee  weich  ist,  murren  —  über  die 
bis  jetzt  in  allen  geographischen  Handbüchern  festgehaltene  Vorstellung, 
dass  der  Kaukasus  nur  wenige  und  kleine  Gletscher  besitzt.  All  die  Namen, 
welche  jetzt  in  unsern  Ohren  so  fremdartig  klingen,  wie  jene  der  Alpen 
den  Leuten  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  werden  vielleicht  bedeutsame 
werden  und  mit  sich  Begriffe  von  Schönheit  und  Grossartigkeit  verbinden, 
so  wie  sich  solche  durch  die  Worte  Jungfrau  und  Val  Anzasca,  Ortler  und 
Primiero,  Matterhorn  und  Courmayeur  unseren  Sinnen  darstellen,  und  dann 
wird  auch  die  Wissenschaft  gefördert  sein,  und  mit  dem  Fortschreiten  der 
Kenntnis  vom  kaukasischen  Hochgebirge  werden  Materialien  gesammelt 
werden  zu  dessen  vollständiger  Beschreibung  und  dessen  Vergleichung  mit 
andern   Hochgebirgen   der  Erde. 

—      172     — 


1)i:K    KaI'KASUS    ri.AVOKOL'XD    PlUROPAS. 

Dies  waren  die  Ciedankeii,  welche  mich  bewegten,  als  ich,  nach 
Beendigung  der  photographischen  Aufnahmen  und  Messungen,  auf  den  Höhen 
oberhalb  des  Mamisson-Passes  im  warmen  Sonnenschein  ruhte  und  bestrebt 
war,  in  meinem  Gedächtnis  die  herrliche  Berglandschaft  festzuhalten,  welche 
in  glänzender  Klarheit  vor  meinen  Augen  lag.  Nur  ungern  wandte  ich 
den  Blick  von  den  dunkeln  Klippen,  den  blendenden  Schneegehängen  und 
den  scharfen  Graten,  welche  der  Berggruppe  angehörten,  deren  stolzen 
Gipfel  ich  zuerst  betreten  hatte,  hi  der  Erinnerung  stiegen  die  Details 
dieser  Ersteigung  auf,  und  ich  schmeichelte  mir  mit  der  Hoffnung,  dass 
sie  dereinst  zu  den  kleinen  Anfängen  gerechnet  werden  dürfte,  welche  jene 
Zeit  einleiteten,  ermöglichten ,  von  welcher  ich  träumte  —  wenn  der 
Kaukasus  zu  den    »playgrounds«    von   Europa  gehören   wird. 


Nepeta  caucasica  S.  et  L.  nox.  sp. 


Hütten    im  Aul   Urussbich. 


XIII.   KAPITEL. 


Durch  die  Kabarda  und  das  Bakssan-Tal 
zu  den  Gletschern  am  Südfusse  des  Elbruss. 

(Ilaiiirs   colli  and   ifstlcss   mass 
M()\  es   oinvarils   i]av   by   <lay. 

Byion. 

Vier  Tage  benötigten  wir,  um  vom  Mamisson-Pa.s.s  nach  Naltschik 
zu  gelangen,  die  letzten  zwei  Tage  eine  Fahrt  auf  rüttelnder  Telega, 
grösstenteiLs  durch  die  heisse  staubige  Steppe.  Dem  Elbrussmassive  zu- 
strebend, war  Naltschik,  die  einzige  grössere  Ortschaft  am  Fusse  der  nörd- 
lichen Vorberge  des  zentralen  Kaukasus,  unser  nächstes  Ziel.  Die  nach 
Norden  ausstrahlenden  Ausläufer  des  zentralen  Kaukasus  bilden  ein  meist 
waldbedecktes,  mit  breiten  Vorterrassen  sich  aufliauendes  Hügelland,  welches 
sich    in    die   Talebene    des   Terek,    in    die    nordkaukasische    .Steppe   verliert. 

Die.se  Landschaften  gehören  zum  Gebiete  der  Kabarda,  welche,  jetzt 
vielfach  von  russischen  Kosakenansiedlungen  durchbrochen,  von  einem  der 
Tscherkessenstämme,  den  Kabardaern,*)  bewohnt  ist.  Diese  .sollen  eigentlich 
tatarischer  Abstammung  sein  und  haben  sich  dem  Volke  der  Tscherkessen 
erst  später  angegliedert.  Die  Kopfzahl  der  Kabardaer  wird  mit  80000  an- 
genommen.     Ihre   Religion   ist  der  Islam,   obgleich   sie   wie   die  Tscherkessen 

*)   Auch  Kabardiner. 


DiK  K.\i;aktX'\  uNii  iiiki-;  Hk\v(.)Iiner 


angeblich  ihr  früheres  Christentum  erst 
vor  verhältnismässig  kurzer  Zeit,  im 
Anfange  des  i8.  Jahrhunderts,  mit 
dem  Islam  vertauscht  haben  sollen. 
Die  Sprache  der  Kabardaer  ist  der 
tscherkessischen  verwandt,  von  der 
sie  sich  jedoch  nicht  unwesentlich 
unterscheidet.  Als  Schriftzeichen  wer- 
den die  arabischen  benutzt.  Unter 
den  Stämmen ,  welche  zum  Tscher- 
kessenvolke  gehören,  waren  die  Ka- 
bardaer die  vornehmsten,  gebildetsten 
und  friedlichsten.  Sie  be.sitzen  die 
gleichen  körperlichen  Vorzüge  wie 
die  Tscherke.ssen :  hohe,  ebenmässige 
Gestalt,  stolze  Haltung,  edle,  scharf 
eeschnittene  Gesichtszüee.     Ihre  Klei- 


Kabar  da -Mädchen. 


Kabardaer. 

düng  und  gewisse  Regeln  des  Au- 
slandes und  des  ISenehmens  gelten 
noch  heute  für  die  Kaukasier  als 
mustergültig.  Die  Tracht  der  Frauen, 
die  auch  von  den  P)ergtataren,  ilen 
Karatschaern  und  Abchasen  ange- 
nommen wurde,  ist  eine  besonders 
reiche.  Sie  und  die  ihnen  nahe- 
stehenden Bergtataren  (auch  Berg- 
kabardaer  genannt)  sind  —  wie  ein 
gu^er  Beobachter  dieses  Volkes  sagte 
—  die  gewandtesten  und  geschniei- 
digsten  Kaukasier,  aber  es  fehlt 
ihnen    oft    an     Wahrheitsliebe,     in 


Ueher  DiK  Stepi'KN  der  Kaharda. 

Uebereinstimmung  mit  einem  gewissen  Scheinwesen  und  gesuchter 
Aeussei'Hchkeit,  so  sehr  auch  dabei  vornehmes  Bewusstsein,  Rassenstolz 
und  Tradition  eine  Rolle  spielen. 

Nach  Beendigung  der  Kriege,  welche  Russland  durch  mehr  als  ein 
halbes  Jahrhundert  gegen  die  Bergvölker  Kaukasiens  geführt  hatte,  begann 
die  Massenauswanderung  des  Tscherkessenvolkes.  An  derselben  haben  sich 
jedoch  die  Kabardaer  und  auch  die  Bergtataren  wenig  oder  gar  nicht  be- 
teiligt. Das  Gebiet  der  Kabarda  bildet  ein  offenes,  verhältnismässig  zu- 
gänglicheres Gebiet  als  das  der  anderen,  g<'gen  die  Russen  kämpfenden 
Bergvölker,  es  liegt  nahe  an  der  grossen  und  einzigen  Verbindungsstrasse 
des  Nordens  mit  Tiflis  und  war  Russland  schon  seit  Beginn  seines  Vor- 
dringens  in   Kaukasien   unterworfen. 

In  Naltschik  hatten  wir  uns  der  tatkräftigsten  Unterstützung  von 
Seiten  des  Kreischefs,  Obersten  Brakker,  bei  unsern  Vorbereitungen  für 
die  Bergreise  zu  erfreuen.  An  die  Stelle  des  ossetischen  Milizkosaken 
trat  jetzt  ein  Kabardaer. 

6.  August.  Wieder  in  einer  Telega  in  westlicher  Richtung  durch 
die  Steppe,  aber  an  einem  klaren  Tage  und  im  Anblicke  des  fernen  Hoch- 
gebirges. Bis  in  die  Nähe  des  Bakssanflusses  war  es  eine  Art  Land- 
strasse, die  wir  verfolgten.  Weiter  fehlte  aber  jede  Spur  eines  Weges, 
und  bis  zu  dem  am  Bakssan  gelegenen  Dorf  Ataschukin  musste  querfeldein 
gefahren  werden,  zuerst  über  das  lehmige  Diluvium  der  Steppe  und 
dann    durch    ein    tertiäres    Hügelland. 

Das  Gepäck  war  auf  Pferden  unter  der  Aufsicht  des  uns  als  Eskorte 
beigegebenen  kabardischen  Kosaken  vorausgeschickt  worden;  Instrumente  und 
photographische  Ausrüstung  führten  wir  jedoch  mit  uns.  Unbarmherzig 
wurden  wir  in  der  Telega  herumgerüttelt,  was  um  so  unangenehmer  war, 
als  ich  das  Ouecksilberbarometer  vorsorglich  halten  musste  und  auch  sonst 
noch  zwischen  unsern  Beinen  Taschen  und  kleine  Koffer  mit  photographischen 
Apparaten  und  Instrumenten  placiert  waren.  Die  Telega  wurde  gerade  am 
Steilhange  eines  kleinen  Hügels  dahingeschleppt,  als  die  Neigung,  in  welcher 
das  Gefährte  sich  befand,  sich  plötzlich  vergrösserte.  Im  nächsten  Augen- 
blicke schon  schlug  es  gänzlich  um,  und  Insassen  und  Gepäckstücke  lagen 
zerstreut  auf  dem  glücklicherweise  weichen  Lossboden.  Die  Telega  war 
bald  aufgerichtet,  weder  wir,  noch  das  Gepäck,  noch  merkwürdigerweise  das 
Barometer,  hatten  Schaden  genommen.  Bald  ist  wieder  alles  aufgepackt 
und  wir  setzen  die  Fahrt  durch  die  reizlose,  sonndurchglühte  Landschaft 
der  Kabarda   fort. 


ElMMiKMlCl-:    I.ANDSCIIAI'T    IM    UNTEREN   BAKSSAN-TAI.. 

Bei  Naurusowa  beginnt  das  tertiäre  Terrain,  welchem  Neokom-  iintl 
miocäne  I-'ormationen  folgen.  In  letzteren  liegt  der  kabardische  Aul  Ata- 
schukin  (581  m  B.  D.)- 

Hier  sollten  unser  die  Reitpferde  warten,  welche  sciion  früher  von 
Naltschik  aus  bestellt  waren.  Die  etwas  kühle  Aufnahme,  welche  wir  an- 
fangs beim  Kabardaer-Fürsten  Ataschukin  fanden,  wich  bald  einer  geradezu 
rührenden  Herzlichkeit,  als  er  erfuhr,  dass  wir  Ungarn  seien.  Auch  hier 
fand  ich,  sowie  im  Vorjahre  in  Urussbieh,  zu  meiner  grössten  Ueberraschung 
die   Tradition  einer  Stammesverwandtschaft  mit  den  Magyaren.*) 

Nach  der  helssen  Steppenfahrt  ruhte  es  sich  wohlig  auf  den  mit  kost- 
baren Teppichen  bedeckten  Sofas,  in  den  kühlen  Zimmern  des  nach  russi- 
scher Art  gebauten  Hauses  des  Fürsten  Ataschukin.  Ein  reiches  Mittag- 
essen wurde  uns  ganz  nach  der  bei  den  tatarischen  Bergstämmen  üblichen 
Weise  vorgesetzt,  und  wir  zum  Bleiben  über  Nacht  eingeladen.  Leider 
konnten  wir  dieser  freundlichen  Einladung  nicht  Folge  leisten,  da  schon  in 
Naltschik  viel  Zeit  verloren  gegangen  war.  Der  Knjas  selbst  sorgte  dann 
für  unser  Fortkommen  und  liess  gute  Pferde  satteln,  welche  uns  zur  freien 
Verfügung  gestellt  waren,  da  keine  Bezahlung  angenommen  wurde.  Beim 
Abschiede  liess  es  der  Fürst  sich  nicht  nehmen,  uns  einige  Andenken  mit- 
zugeben. Eine  schwarzseidene,  mit  Silber  ausgenähte  Tasche  wird  für 
mich   immer  eine  wertvolle  Erinnerung  bleiben. 

Die  Nacht  verbrachten  wir  in  einer  Käserei,  welche  Aslambeg,  einem 
Mitgliede  der  Familie  Urussbiew,  gehört.  Hier  trafen  wir  Naurus,  den 
Sohn  Ismael  Urussbiews,  der  sofort  erklärte,  uns  nach  Urussbieh  begleiten 
zu  wollen. 

7.  August.  In  landschaftlicher  Beziehung  bietet  der  Ritt  durch  das 
Bakssan- Tal  sehr  wenig.  Stellenweise  wird  die  Szenerie  abwechslungsreicher, 
kurze  Engen  unterbrechen  die  langen,  nahezu  ebenen  Talstufen.  Oft  ent- 
behrt das  breite  nackte  Felsental  mit  dem  rasch  dahinfliessenden  Strome 
nicht  einer  gewissen  Grossartigkeit,  oder  es  bietet  sich  höher  oben,  durch 
waldige  Seitenschluchten  ein  Blick  auf  schneebedeckte  Gipfel,  ohne  jedoch 
im  Ganzen  den  Eindruck  der  Einlörmigkeit  bannen  zu  können.  Nirgends 
in  den  Alpen  findet  man  landschafdich  so  unschöne  Talpartien,  wie  sie  der 
Kaukasus  auf  langen   Strecken   bietet. 

Geologi-sch  wiederholt  sich  im  Bakssan -Tale  dieselbe  Reihenfolge  der 
Formationen,   wie  wir  diese   auf  der  Wanderung  durch  das  östlicher  gelegene 

*)  Siehe  hierüber  die  Anmerkung  auf  Seite  99. 

Dc?chy;  Kaukasus.  12 

—       177       — 


DiK  Gkstki\s1'(.)KM.\'|[()\k\  im  15akssan-Ta[,e. 

Ouertal  des  Ardon  näher  beschrieben  haben.  Auch  im  Bakssan-Tale  folgt 
auf  die  Kreideformation  die  Jurakalkkette.  Vor  Osrokova  kommen  wir  in 
eine  fast  ebene,  zum  Teil  begrünte  Talweitung,  wo  der  obere  Jura  mit  der 
unteren  Jura-I'ormation  zusammenstösst.  Bald  darauf  treten  wir  in  das  Ge- 
biet der  kristallinischen  Schiefer,  welche  hier  jedoch  mit  den  Graniten  der 
oberen  Talstufe  eine  breitere  Zone  einnehmen,  als  im  Aufbaue  der  weiter 
gegen   Osten   liegenden  Teile   des  zentralen   Kaukasus. 

In  ( )srokova,  einem  aus  wenigen  elenden  Hütten  bestehenden  Dorfe, 
war  es  unmöglich,  Pferde  aufzutreiben.  Bis  hierher  hatten  uns  die  Pferde 
des  P^ürsten  Ataschukin  bringen  sollen,  um  noch  am  selben  Tage  zurück- 
zukehren. Da  es  jedoch  keine  Möglichkeit  gab,  in  anderer  Weise  vorwärts- 
zukommen, mussten  wir  die  Pferde  noch  bis  Korchoschan,  dem  nächsten 
Dorfe,   benutzen. 

Wir  waren  gegen  lo  Uhr  vor  Osrokova,  ritten  mittags  über  die 
Brücke  des  Gestendi- Baches,  wo  wir  im  Vorjahre,  von  Tschegem  kommend, 
zuerst  das  Bakssan-Tal  betraten,  und  erreichten  eine  Stunde  später  das 
etwas  seitwärts  vom  Wege  liegende  armselige  Dorf  Korchoschan  (1380  m), 
im  Ganzen  ein  Ritt  von  etwa  6 — 7  Stunden  ab  Käserei  Aslambeg.  Hier 
erfuhren  wir  nur  zu  rasch,  dass  —  was  wir  eigentlich  befürchtet  hatten  — 
auch  hier  keine  Pferde  zu  haben  sind.  fetzt  war  wirklich  guter  Rat  teuer. 
Die  Pferde  des  Pursten  Ataschukin  noch  länger  zu  behalten,  wäre  ein  Miss- 
brauch des  uns  erwiesenen  gütigen  Entgegenkommens  gewesen.  Ander- 
seits jetzt,  noch  früh  am  Tage,  in  verhältnismässiger  Nähe  von  Urussbieh, 
wo  ein  gutes  Unterkommen  winkte,  hier  in  diesem  elenden  Orte  lange 
Stunden  und  die  Xacht  zu  \erbringen,  bis  Pferde  von  Urussbieh  uns  ent- 
gegengeschickt würden  —  war  mehr,  als  ich  hätte  ertragen  können.  Nach- 
dem alle  Versuche,  die  Karawane  flott  zu  machen,  fehlgeschlagen  waren,  wurde 
endlich  beschlossen,  das  Gepäck  unter  der  Aufsicht  des  Ko.saken  in  Korchoschari 
zu  lassen,  um  es  dann  am  nächsten  Tage  nach  Urussbieh  zu  befördern. 
Naurus  hatte  sein  eigenes  Pferd,  das  er  mir  grossmütig  zur  Verfügung 
stellte,  aui  dem  Pferde  des  Kosaken  wurde  mein  Reisegefährte  beritten  ge- 
macht, während  Naurus  selbst  sich  mit  einem  endlich  zum  Vorschein  ge- 
brachten elenden  Gaul  und  einem  Packsattel  begnügte.  Ab'ttlerweile  war 
es  4'/^  Uhr  geworden  und  man  musste  rasch  vorwärtskommen,  um  noch 
vor  Einbruch  der  Nacht  Urussbieh  zu  erreichen.  Leider  war  Freund  Lojka 
kein  grosser  Reiter  vor  dem  Herrn,  es  gab  Aufenthalte  und  Verzögerungen, 
und  sowohl  Pferd  als  Sattel  mussten  öfters  gewechselt  werden.  Ein  Ritt  von 
3'A   Stunden   brachte   uns   nach   Urussbieh. 

—     178    — 


Zu  DEN  Bakssan-Quellkn. 

Wie  im  \'or jähre,  wurden  wir  auch  diesmal  von  Ismael  Urussbiew 
herzlich  empfangen.  Die  hervorragenden  Bewohner  des  Auls,  die  Aeltesten, 
langbärtige  Gestalten,  beturbant  oder  mit  hohen  Pelzmützen,  kamen,  ver- 
neigten sich  oder  reichten  die  Hand  zum  Grusse.  Als  Erinnerung  an  unsere 
Elbrussexpedition  hatte  ich  Ismael  und  Hamsat  Urussbiew  aus  Ungarn 
goldene  Taschenuhren  geschickt,  mit  einigen  auf  den  Anlass  bezüglichen, 
auf  den  inneren  Deckelseiten  eingravierten  Worten.  Das  Geschenk  bereitete 
viel  Freude  imd  wurde  stolz  getragen. 

Der  8.  August  war  ein  Regentag,  den  ich  dazu  benutzte,  um  unsere 
Weiterreise  zu  besjirechen,  Pferde  und  Träger  zu  bestellen  und,  was  die 
Hauptsache  war,  die  Route  festzusetzen,  auf  welcher  wir,  meinem  Plane  nach, 
die  Hauptkette  überschreiten  wollten,  um  nach  dem  Süden  derselben,  nach 
Swanetien  zu  gelangen.  Als  es  sich  am  Nachmittage  klärte,  machten  wir 
einen  Ausflug  auf  die  Höhen  nördlich  von  Urussbieh,  wo  Prof.  Lojka  eine 
neue   Blütenpflanze,   Rhamnus  tortuosa  S.  et  L.  n.  sp.,   entdeckte. 

Der  9.  August  brachte  schönes  Wetter,  aber  keine  Pferde.  Armer 
Knjas*)  Ismael!  Wie  oft  mag  ich  an  diesem  Tage,  bald  bittend,  bald  vor- 
wurfsvoll, an  ihn  herangetreten  sein!  Ismael  war  ein  Bergenthusiast,  wie 
wohl  keiner  der  Bergbewohner  des  Kaukasus,  allein  sein  guter  Wille  war 
selbst  seinen  eigenen  Leuten  gegenüber  nicht  stark  genug,  um  rasch  alles 
Nötige  herbeischaffen  zu  können.  Spät  am  Nachmittage  gelang  es  endlich, 
die  grosse  Karawane  beritten  zu  machen,  und  auch  diesmal  Hess  es  sich 
Ismael  nicht  nehmen,  uns  zu  begleiten,  und  mit  einem  Tross  von  Pack- 
pferden und  Trägern  zogen  wir  aus  Urussbieh.  Bei  den  Hütten  des 
Irik-Kosch   nächtigte   man. 

10.  August.  Beim  schönsten  Wetter  setzten  wir  den  Weg  durch  das 
obere  Bakssan-Tal  fort,  nicht  ohne  wieder  dem  Bilde,  welches  in  der  Oeff- 
nung  des  Adylssu-Tales  sichtbar  wird,  den  Zoll  der  Bewunderung  abzu- 
statten.     Am   Abende   bezogen    wir    das    vorjährige   Lager    bei   Kosch-Asau. 

Die  folgenden  Tage,  der  11.  bis  14.  August,  waren  den  Arbeiten 
und  Sammlungen  im  Gebiete  des  Asau-Gletschers  und  des  Tersskol- 
Gletschers  gewidmet. 

Am  Tersskol-Gletscher  wurden  vier  Meter  vom  Eise  entfernt  eine 
Mauer  errichtet  und  einzelne  Steinblöcke  mit  Zeichen  versehen.  Die  Se?- 
höhe  des  Gletscherendes   wurde   mit   2654,8  m   (B.  D.)  gemessen. 

Vom  Kosch-Asau  gelangt  man  in  einer  starken  Stunde,  meist  durch 
Wald,     zum    grossen   Talgletscher,    zum  Asau-GIetscher,    dem    die   Bakssan- 

*)  Knjas  ist  das  russische  Wort   für  Fürst,   wahrscheinlich  tatarischen   Ursprungs. 

12* 
—      179     — 


Di;k  AsAL'Gi>ET.sriiF.R. 

(lucllen  entrinnen.  In  schönem  Absturz,  mit  präcluii^en  Klüften,  wirft  sich 
das  reine  Kis  des  (iletschers  über  die  letzte  Terrainstufe.  Seine  End- 
moränen sind  nicht  weit  vor^-eschoben,  das  eisfrei  gewordene  Terrain  ist 
in  kurzer  luitfernung  schon  mit  Vegetation  bedeckt.  Der  Rückzug  scheint 
in  den  letzten  Jahren  nicht  bedeutend  gewesen  zu  sein.  Die  Basismauern 
des  Elbruss  im  Norden,  der  Gratzug,  welcher  den  Elbruss  mit  dem  Haui)t- 
kamme   verbindet   im   Westen   und    im   Süden    der  1  lanptkamm    selbst,    um- 


Der   .\sau-Gle tscher. 


schliessen  das  Eisgebiet  des  Asau-Gletschers,  welcher  von  diesen  Bergen 
Zuflüsse  erhält  und  von  den  Firnregionen  des  Elbruss-Stockes  genährt  wird. 
Der  Asau-Gletscher  bedeckt  mit  seinem  Firngebiete  eine  Fläche  von  27  qkm 
und  besitzt  eine  Länge  von  nahezu  1 3  km,  gehört  also  zu  den  grössten 
Gletschern  des  Kaukasus.  Die  Gletscherzunge  endigt  in  einer  Seehöhe  von 
2330  m  (2352  m  B.  D.).  Das  Ende  des  Gletschers  muss  sich  über  eine 
steile  Bodenwelle  hinabschwingen  und  bildet  so  die  zerklüftete  Zunge.  Auch 
am     Asau  -  Gletscher    wurden      einige     Meter     vom     Eisende      eine     Mauer 


GLETSCHERBEOliACIITUNCEN    UNI)    SAMMLUNGEN. 

aufgeführt  und  grosse  Blocke  als  Signale  bezeichnet.  Der  lüul])unkt 
der  Seitenmoränen,  sowie  die  Entfernung  zwischen  dem  Wieder- 
beginn der  Vegetation  und  dem  Gletscherende  wurde  gemessen. 
Von  fixierten  Punkten  wurden  photographische  Aufnahmen  der  Gletscher- 
zunge gemacht. 

Unterdes  nahmen  die  botanischen  Sammlungen  einen  guten 
Fortgang,  und  Prof.  Lojka  entdeckte  eine  Reihe  von  neuen  Arten 
und  neuen  Varietäten,  so  am  Gehänge  unterhalb  des  Asau- Glet- 
schers: Heracleum  Freynianum  S.  et  L.  nov.  sp.  und  zwei  neue  Flechten- 
arten Lecidea  s)'ntrophica  Wain.*)  und  Pharcidia  [oeltideae  Wain.  (ad 
fungos  pertinet). 

Während  dieser  Tage  wurden  im  Lager  auch  regelmässige  meteoro- 
logische Beobachtungen  angestellt.  Es  wurden  Ouecksilberbarometer, 
Aneroid  Hicks,  Aneroid  Goldschmid  und  Lufttemperatur  beobachtet,  be- 
feuchtetes imd  trockenes,  sowie  Maximal-  und  Minimalthermometer  ab- 
gelesen. 

Das  Wetter  war  an  diesen  Tagen  gut,  die  Barometer  hatten  eine 
steigende  Tendenz,  und  es  war  höchste  Zeit,  unsern  Plan,  den  Hauptkamm 
zu  überschreiten,  in  Angriff  zu  nehmen.  Allein  die  Ausführung  war  damals 
nicht  so  leicht.  Die  erste  Schwierigkeit  lag  in  der  Beschaftung  von  Trägern. 
Wie  ich  schon  im  Vorjahre  bemerkt  hatte,  vermeiden  es  die  Bakssantataren, 
wenn  nur  irgend  möglich,  nach  Swanetien  zu  gehen,  ausserdem  sind  sie  zu 
mühevollen  Dienstleistungen,  wie  das  Tragen  schweren  Gepäcks  über 
Gletscherpässe,  nicht  zu  haben.  Es  waren  also  wieder  die  berg-  und  weg- 
kundigen Swanen,  kräftige  Leute,  die  den  Sommer  über  nach  dem  Bakssan 
als  Feldarbeiter  kommen,  zu  welchen  wir  unsere  Zuflucht  nahmen.  Wir 
sehen  hier  einen  Pall,  welcher  der  allgemeinen  Annahme,  dass  die  Bevölke- 
rung im  Norden  arbeitsamer  ist  als  der  Südländer,  widerspricht.  Aller- 
dings sind  die  Bewohner  der  Nordseite  des  Kaukasus  Asiaten,  wenn 
diese  Abdachung  auch  nach  der  Ansicht  vieler  Geographen  zu  Europa 
zu  rechnen  ist.  Dabei  sind  die  mohammedanischen  Bewohner  des 
Karatschaigaues  und  der  Ouertäler  des  Bakssan,  T.schegems  und 
Tschereks,    verhältnismässig  wohlhabentl,    während    die    armen    Swanen    der 


*)  Unter  den  im  Tersskoltale  gesammelten  Phanerogamen  wurden  als  neue  Varietäten 
bestimmt:  Aetheopappus  pulcherrimus  Willd.  var.  foliosus  S.  et  L.  a  tomentellus  S.  et  L.,  Oxytropis 
samurensis  var.  subsericea,  forma  longifolia  S.  et  L.,  Trifolium  polyphillum  var.  ochroleucum  S.  et  L. ; 
um  Kosch-Asau  und  am  Gehänge  an  der  Seite  des  Asau-Gletschers :  Axyris  sphaerospernia  var. 
caucasica  S.   et  L.,   Silenc  saxatilis  var.   stenophylla  S.  et  L. 


Unsere  swane'iisciiex  Tracer  und  Rusticm  Chan. 

bitteren  Not  gehorchen  müssen,  wenn  sie  tlie  beschweriiche  Reise  nach 
dem  Norden  der  I  lauptkette  unternehmen,  um  tlort  einen  Verdienst 
zu   suchen. 

Ismael  Urussbiew,  der  auch  den  Swanen  gegenüber  Autorität  besitzt, 
brachte  die  nötige  Anzahl  Leute  zusammen.  Schon  vor  unserer  Abreise 
von  Urussbieh  waren  acht  Swanen  in  meine  Dienste  getreten.  Eine  bunte 
Reihe  der  verschiedensten  Physiognomien  und  Gestalten,  von  welchen  ich 
einige  photographierte,  die  jedoch  alle  ein  gemeinsames  Merkmal  trugen; 
den  reinen  Typus  des  Wegelagerers.  Jeder  der  Träger  sollte  zehn  Rubel 
erhalten,  ausserdem  hatte  ich  ihnen  einen  Betrag  für  die  Beschaffung  der 
nötigen  Provisionen  für  die  Reise  zu  übergeben.  Die  Leute  waren  ver- 
pflichtet, ims  bis  in  das  erste  Dorf  Swanetiens  zu  begleiten  und  das  Gepäck 
zu  tragen.  Jedoch  schon  im  Kosch-Asau  traten  sie  mit  Mehrforderungen 
an  mich  heran,  und  schon  jetzt,  noch  vor  Antritt  der  Gletscherreise,  war 
ihnen  das  Gepäck  zu  schwer,  und  trotz  der  ihnen  iibergebenen  Provisions- 
gelder herrschte  Mangel  an  Nahrungsmitteln.  Es  gärte.  Ismael  machte 
der  kleinen  Revolution  ein  Ende.  Drei  Swanen  wurden  mit  Entgelt  von 
je  drei  Rubeln  in  Ungnaden  entlassen  und  vier  andere  an  Stelle  derselben 
beschafft.  Mit  diesen  Leuten  nun  wollte  uns  Ismael  nicht  allein  ziehen 
lassen.  Ein  Swane,  fürstlicher  Abkunft,  jedoch  unterschiedlicher  Morde 
und  hochromantischer  Liebesabenteuer  wegen  gezwungen,  Swanetien  zu 
verlassen,  stand  in  Diensten  Ismaels.  Er,  Rustem  Chan  —  von  ims  inuiier 
kurzweg  der  Knjas  genannt  — ,  und  ein  anderer  Diener  Ismaels,  Mohammed, 
der  schon  im  Vorjahre  mit  uns  in  Swanetien  war,  sollten  uns  begleiten  und 
brachten   die   Zahl   unserer  Träger  auf  elf  Mann. 

Der  Knjas  sollte  während  unseres  Aufenthaltes  in  Swanetien  unser 
ständiger  Begleiter  sein  und  seinen  Einflu.ss  dort  aufbieten,  um  es  uns 
möglich  zu  machen,  auch  den  Rückweg  über  den  gletscherbedeckten  Haupt- 
kamm nach  Norden  auszuführen.  Selbstverständlich  sollte  er  auch  eine 
grössere  Bezahlung  als  die  andern  gewöhnlichen  Menschenkinder,  welche 
als  Träger  in  unsern  Diensten  standen,  erhalten.  ¥.r  sollte  so  eine  Art 
Reisemarschall  sein.  Seiner  fürsdichen  Stellung  entsprechend,  durfte  er 
nur  geringe  Lasten  tragen,  Gepäck  von  nicht  plebejischem  Aussehen,  also 
meine  Barometer,  Instrumente,  Revolver,  b'eldflaschen  und  ähnliches.  Im 
bewohnten  Swanetien  jedoch  sollte  seine  Eürstlichkeit  sich  nur  hoch 
zu  Ross  den  profanen  Augen  seiner  Stamme.sgenossen  zeigen.  Keiner 
von  allen  den  Leuten  sprach  russisch,  und  der  Knjas  konnte  sich 
mit     uns    in    keiner     andern    Sprache     als    svvanetisch    oder     tatarisch    ver- 


Aufi;rucii  von  Koscii-Asau. 

ständigen,    Idiome,     aus   welchen     mir    nur    einige    wenige   Worte    zur  Ver- 
fügung standen.*) 

Endlich  waren  die  Gepäckslasten  unter  die  Träger  verteilt  und  wir 
verliessen  das  Lager  am  Kosch-Asau.  Ismael,  die  Büchse  auf  dem  Kücken, 
von  seinem  Diener  gefolgt,  begleitete  uns. 


*)  Rüstern  Chan  befindet  sich  auf  dem  Bilde  meines  Standquartieres  bei  Kosch-Asau 
vor  der  Ersteigung  des  Elbruss:  »Meine  Gastfreunde  im  Standquartier  bei  Kosch-Asau« 
Seite    1  13. 


Tasche  aus  der  Kabarda. 


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Unsere  Karawane  am  Asau-Gletscher. 


XIV.  KAPITEL. 


lieber  Gletscher-Pässe  nach  Swanetien 
(Dschiper-Pass  und  Bassa-Pass). 

lis   ist  ein    ijrossri    Kfi/,    zu   wissen,    ilass   mau  der 
erste  ist,   der  über  diese  Berge   wauilert. 

Sven  von   Ilediu. 

Als  wir  am  15.  Aiigu.st  das  Lager  am  Kosch-Asau  verliessen,  war 
es  eine  Reise  ins  Unbekannte,  die  wir  antraten.  Meine  Absicht  war  es, 
nachdem  ich  im  Vorjahre  zuerst  am  Betscho-Pass  einen  Uebergang  über  die 
Hauptkette  aus  dem  Bakssan-Tale  nach  Swanetien  ausgeführt  hatte,  nun- 
mehr im  Firngebiete  des  Asau  mich  bis  zum  Hauptkamm  zu  erheben  und, 
diesen  überschreitend,  zum  Ingur  zu  gelangen.  Fürst  Ismael  und  den 
Swanen  war  dort,  wie  es  schien,  ein  Gletscher-Fass,  wenn  auch  seit  Jahren 
unbetreten,  bekannt,  nur  konnte  ich  aus  den  mir  gemachten  Mitteilungen 
und  den  mir  unbekannten  Benennungen  über  die  Topographie  desselben 
nicht  klar  werden,  insbesondere  nicht  enträtseln,  in  welches  Tal  an  der  süd- 
lichen Abdachung  des  Hauptkammes  der  Liebergang  führen  sollte.      Nur  die 

—     184     — 


Die  Umrandung  des  Asau-Gi.ktschers. 

Wanderung-  selbst  konnte   mir  die  Antwort  geben.     Die  Firnregion  des  Asau- 
Gletschers  war  damals   terra  incognita. 

An  der  linken  Seite  des  Asau-Gletschers,  den  Absturz  umgehend, 
stiegen  wir  empor.  Dann  betraten  wir  das  obere  Eisfeld.  Eine  wenig-  an- 
steigende Fläche  grobkörnigen  gefrorenen  Schnees  ohne  Moränen  breitet 
sich  vor  uns  aus.  Grossere  und  kleinere  Felsblöcke  und  Trümmerhaufen 
liegen  auf  derselben  zerstreut.  Einige  offene,  oft  tiefe  Klüfte  durchbrechen 
die  Oberfläche.  Zur  Rechten  —  im  Norden  —  erhebt  sich  das  mit  phan- 
tastischen Klippen  bestandene  Gemäuer,   welches  das  Firnplateau  des  Elbruss 


■Vom  Elbruss-Plateau  niederziehender  Gletscher. 


begrenzt  und  zwischen  Asau  und  Tersskol  sich  aufbaut.  In  wilder  Zer- 
klüftung fällt  hinter  demselben  ein  Zufluss  des  Asau-Gletschers  auf  den 
ebenen  Gletscherboden.  An  diese  Seracpartie  schliesst  sich  eine  Bergkette, 
die,  vom  Kosch-Asau  gesehen,  den  Hintergrund  des  Asau-Gletschers  bildet. 
Im  Süden  zieht  in  sanftem  Falle  ein  mit  blendend  weissem  Firnschnee  be- 
deckter Eisstrom  zum  Asau-Gletscher.  Es  ist  ein  Gletscherrund  am  Asau, 
wie  es  schöner  nicht  gedacht  werden  kann.  Unvermittelt  fällt  der  Blick 
hinaus  auf  die  grünen,  waldumstandenen  Hänge  des  Bakssan -Tales,  dessen 
rechte  Talwandung  in  der  Höhe  die  schneebedeckten  Gipfel  sehen  lässt, 
welche   die   Ouerschluchten   des  Adyr-Ssu   und  Ad)-1-Ssu   umschliessen.      Eine 


Der  Lackki'i  .\-iz  Ismaels-Kosch. 

Reihe  von  photographischen  Aufnahmen  wurde  gemacht,  darunter  auch 
eine  solche  unserer  Karawane,  und  es  gelingt,  Ismael,  meinen  Gefährten  und 
mich  auf  diesem  Bilde  gleichfalls  zn  fixieren,  indem  einer  meiner  Träger, 
nachdem  ich  alles  zur  Exposition  vorbereitet  hatte,  den  ( )bjektivdeckel  hebt 
und   wieder  schliesst. 

Wir  wanderten  über  die  wenig  ansteigende  Mäche  des  Asau-Gletschers, 
seiner  felsigen  Umrandung-  im  Westen  entgegen.  Als  wir  diese  erreicht  hatten, 
stiegen  wir  an  einem  Felsbollwerk  empor,  welches  dem  Kammzuge  vor- 
gelagert ist.      Nachdem  die  Höhe  erstiei^^en  war,   sahen  wir  eine  kleine,   kreis- 


Am  Asau-Gletscher. 

förmige,  im  Rücken  \on  hohen  Mauern  umgebene  Fläche  vor  uns.  Hier 
pflegte  Ismael  bei  seinen  Jagdzügen  zu  ruhen,  und  der  (  )rt  hatte  —  wie  er 
mir  sagte  —  auch  die  Benennung  Ismaels-Kosch  erhalten.  In  ernster  Schnee- 
wildnis ein  prächtiger  Lagerplatz.      (2839  m  B.  D.) 

Da  es  noch  früh  am  läge  war,  begann  ich  ohne  Aufenthalt  sofort 
am  Felsgehänge  emporzudringen,  lun  \on  der  Grathöhe  den  Blick  über  die 
Umgebung  zu  erringen.  Ein  Swane  trug  die  photographische  Kamera. 
Rasch  kamen  wir  über  geröllbedeckte  Felskanten  aufwärts.  Dann  wird  an 
den  Wänden  das  Geklippe  steiler  und  es  folgt  ein  scharfes  Klettern.  Mit 
seinen  Ledersandalen  findet  der  Swane  an  den  kleinsten  \'orsprüngen  des 
Felsens  sicheren  Stand  und  mit  Leichtigkeit  und  Behendigkeit  zieht  er  sich 
von  Stufe  zu   Stufe.      Im   prachtvollen   Rundgemälde    des  Asaugebietes,    das 


—       186      — 


DiK    IM.IIKL'SSKFXJEL    VON    DEX    ASAU-I  irniKN. 

sich  uns  von  der  Kammliühe  erschliesst,  schwingen  sich  gerade  vor  uns, 
über  weite  Firnflächen,  von  welchen  das  Eis  zerschellt  und  zerborsten  über 
die  Randwände  stürzt,  die  Elbrusskegel  in  die  Lüfte.  Im  weiten  Umkreise 
liegt  um  uns  die  Berg-  und  Talwelt  des  Bakssan.  Kein  Wölkchen  ist  am 
Himmel,  hell  und  warm  strahlt  die  Sonne  an  diesem  Nachmittage.  Ach, 
wenn  meine  Kassetten  Dutzende  von  Platten  enthielten,  ich  fände  hier  Bilder 


Saxifraga    scleropoda  Somm.   et  Lev.    nov.   sp. 

für  sie!  Aber  die  Grenzen,  in  welchen  wir  uns  so  oft  im  Leben  bewegen 
müssen,  sie  sind  mir  auch  hier  gezogen.  Nur  drei  unexponierte  Platten 
sind  noch  zu  meiner  Verfügung.  Zwei  derselben  wurden  dem  Elbruss  ge- 
weiht, die  dritte  der  schönen  Firnszenerie  im  Süden  des  Asau- Gletschers. 
Dort  fliessen  demselben  Eisströme  zu,  welche  von  prächtigen,  felsdurch- 
brochenen Firnkuppen  gekrönt   werden. 

Indes  ich  auf  der  Höhe  ruhte  und  photographierte,  hat  mein  Gefährte 
das  Felsgemäuer  nach  Phanerogamen  und  blechten  durchstöbert  und  eine 
schöne  Sammlung  der  nivalen  Region  angehörender  Blütenpflanzen  zusammen- 
gebracht. Als  neue  Arten  wurden  bestimmt:  Astragalus  Levieri  S  et  L, 
Poa    imeretica    S.    et    L.   var.    nivalis,     Saxifraga    scleropoda    S.    et  L.    und 


Im  Lager  Ismakls-Kosch. 

ein  Taraxacuin  tenuissetum  S.  et  L.'")  Ismael  war  ausgezogen,  den  Stein- 
böcken nachzu.si)üren,  nachdem  er  uns  schon  früher  am  Felsrande  des  El- 
bruss-Plateau einige   der  prächtigen   Grattiere  gezeigt  hatte. 

Es  war  Abend  geworden,  bis  ich  zurückkehrte.  Am  Lagerplatz  lagen 
die  Lasten  durcheinander  geworfen  am  Boden  umher.  Es  war  höchste 
Zeit,  das  Lager  wohnlich  zu  machen,  aber  dieses  Jahr  fehlte  die  Mithilfe 
meiner  Schweizer  und  ich  musste  mich  tüchtig  alMiiühen.  Die  Swanen  sollten 
mithelfen,  und  ich  verteilte  die  Arbeiten  zwischen  ihnen.  Unter  meiner  Auf- 
sicht wird  von  zweien  das  Zelt  aufgeschlagen.  Die  innere  Einrichtung  be- 
sorgen wir  selbst,  da  ein  Eindringen  unserer  Leute  auch  das  anderer  Wesen 
im  Gefolge  haben  könnte.  Ein  Swane  muss  im  zusammenlegbaren,  aus 
wasserdichtem  Stoff  gefertigten  Eimer,  den  wir  mitführen,  Wasser  holen, 
das  eine  nahe  Quelle  bietet,  der  andere  den  P^euerherd  aus  Steinen  er- 
bauen und  ein  Feuer  anzünden.  Wieder  andere  sind  schon  früher  aus- 
geschickt worden,  um  zwischen  den  P"elsklippen  stehendes,  trockenes  Gestrüpp 
als  P^euerungsmaterial  zu  sammeln.  Die  Säcke,  welche  das  Küchengeräte 
und  die  Provisionen  enthalten,  werden  geöffnet.  Es  ist  kein  Leichtes,  unter 
dieser  Unmasse  von   Gegenständen  das  Gesuchte   zu   finden. 

Mittlerweile  war  die  Stunde  herangekommen,  zu  welcher  gewöhnlich 
die  Beobachtungen  an  den  Instrumenten  vorgenommen  wurden,  indes  mein 
Reisegefährte  die  botanischen  Schätze  versorgt,  unter  welchen  nicht  nur  die 
neu  gesammelten  Pflanzen  eingelegt  werden  müssen,  sondern  auch  die  älteren 
mit  unerbitdicher  Tyrannei  des  Wechsels  der  feuchten  Papierlagen  harren. 
Wenn  dies  alles  vollendet  ist,  muss  ein  Teil  des  Gepäcks  über  Nacht  gegen 
Feuchtigkeit  und  eventuelle  Niederschläge  geschützt  werden.  Pflanzenpakete, 
Instrumente,  photographische  Kofter  werden  zusammengetragen  und  mit 
Kautschuktüchern  zugedeckt. 

Jetzt  erst  kann  das  Abendessen  bereitet  werden.  Es  bestand  wie 
zumeist  aus  einer  Erbswurstsuppe,  einer  Büchse  Konservengulyasch,  in  welche 
wir  uns  teilen  und  Brot  verschiedener  Qualität.  Ein  Schluck  Cognac  und 
heisser  Tee  schlössen  das  Abendmahl. 

Es  ist  Nacht  und  kalt  geworden.  Wie  Vermummte  lagern  wir  umher. 
Noch  eine  grosse  Arbeit  wartet  wie  immer  meiner,  wenn  nach  den  Mühen 
des  Tages  man  sich  nach  Ruhe  sehnt.  Ist  die  Nacht  vollkommen  herein- 
gebrochen, so   müssen   die  Feuer  gelöscht  werden   und   im  Innern  des  Zeltes, 


*)  Neue  Subspezien  waren:  Astragalus  oreades  C.  A.  ^I.  var.  stipulario  S.  et  L.,  Campanula 
petrophila  Rupr.  var.  exappendiculata  S.  et  L.,  Poa  alpina  L.  var.  glacialis  S.  et  L.,  Sisymbrium 
Hiietii  Boiss.  var.  elatum  S.  et  L. 

—      188      — 


Anstiki.  i  ni'.K  iii;\  ])s(  iiii'KR  Gi.k'isciii'.k. 

über  welches  bei  hellem  IMonclschein  noch  Decken  o;-e\v()rf(;n  werden,  niiiss 
die  Auswechslung-  der  exponierten  photographischen  Platten  gegen  un- 
exponierte vorgenommen  werden.  Es  ist  eine  Arbeit,  die  meist  eine  halbe 
Stunde  währt,  oft  auch  mehr  Zeit  in  Anspruch  nimmt,  und  inuner  gehört  für 
den  müden,  sich  nach  Ruhe  und  Schlaf  sehnenden  Reisenden  eine  ziemliche 
Willenskraft  dazu,  um  sich  dazu  zu  entschliessen.  Erst  wenn  sie  erledigt 
ist,  können  wir  an  die  Nachtruhe  denken.  Auch  die  Nachttoilette  ist  nicht 
leicht  gemacht,  das  Zelt  ist  klein  und  niedrig.  Einer  nach  dem  andern 
kriechen  wir  in  dasselbe.  Es  währt  lange,  bis  mein  Gefährte  fertig  wird;  die 
Nacht  droht  in  der  Höhe  von  nahezu  3000  m  kalt  zu  werden,  und  alles,  was 
er  an  Wäsche  und  Kleidern  besitzt,  wird  angelegt.  Endlich  ist  das  Zelt  ge- 
schlossen, eine  Pracht.  Nur  heute  wird  es  wohl  enger  werden,  da  wir  den 
ziemlich  beleibten  Fürsten  Ismael  zu  Gast  haben.  Lojka  wird  in  die  Mitte 
gelegt;  ich  empfehle  ihm  diesen  Platz,  wo  er  am  wenigsten  frieren  dürfte. 
Auch  die  Häringe  frieren  nicht!  Die  fremdartigen,  mehrstimmigen  Gesänge 
der  Swanen,  die  zuvor  an  die  Felswände  der  einsamen  Einöde  schlugen, 
sind  verstummt.  Nichts  stört  mehr  die  Stille  der  schweigenden  Nacht,  und 
Friede  liegt  über  der  müden   Welt. 

16.  August.  Langsam  zieht  am  Morgen  unsere  Karawane  den 
Schutthalden  entlang,  welche  den  Fuss  des  Felsbollwerkes  umgeben,  an 
dem  wir  nächtigten.  Sie  sinken  zum  linken  Ufer  des  gegen  Süden  ziehenden 
Gletschers,  dessen  steil  abschiessenden,  fast  schneefreien  unteren  Teil  wir 
umgehen.  Wir  hatten  unser  Lager  um  3  Uhr  30  Min.  morgens  verlassen, 
überschritten  zuerst  Geröllhänge  und  betraten  bald  darauf  das  Eis  des  vom 
Süden  vom  Hauptkamme  niederziehenden  Zuflusses  des  Asau- Gletschers, 
den  ich  später  nach  der  Passeinsattlung  an  seiner  Spitze  Dschiper-Gletscher 
nannte.  Im  Rückblick  waren  die  Bergketten,  welche  das  Bakssan-Tal  um- 
stehen, erschienen,  aus  einem  Nebelmeer  ragend,  welches  über  der  Flucht 
des  Tales  wogte. 

Scharf  prägte  sich  am  Gletscher  die  Linie  aus,  wo  sich  die  Firn- 
felder von  der  Eiszunge  des  Gletschers  trennen.  Die  Firnlinie  wurde  hier 
mittels  Ouecksilberbarometers  mit  3109  m  (B.  D.)  gemessen.  Die  Luft- 
temperatur betrug  um   6   Uhr  40  Min.   1,3"  C. 

Im  Weitermarsche  traten  einige  Spalten  auf,  und  ich  hielt  es  für 
angezeigt,  uns  Vorangehende  mit  dem  Seile  zu  verbinden.  Der  Schnee 
war  von  vorzüglicher  Beschaffenheit,  und  rasch  gewannen  wir  an  Höhe. 
Von  dunkeln  P>lsklippen  umstanden,  hob  sich  die  schneeige  Einsattlung 
unseres  Passes  scharf  \om  tiefblauen  Firmamente  ab. 

—      189     — 


AlSSK'IIT    V(IM   Dschipkr-Pass. 

Um  S  L'hr  war  die  Passhöhe  erreicht;  3267  m  (3323  ni  B.  D.).  Ich 
nannte  die  Einsattking  nach  der  im  Süden  hegenden,  von  den  Eingeborenen 
üschiper  bezeichneten  obersten  Talstufe  Dschiper-Pass.")  Als  ich,  der  erste, 
einige  Schritte  bis  an  den  Rand  des  Passes  vorgetreten  war,  um  hinüber 
nach  dem  jenseits  zu  blicken,  da  entrang  sich  ein  Ausruf  der  Bewunderung 
meinen  Lippen.  Wie  sich  die  Formen  des  hrn-  und  eisbedeckten  Hoch- 
gebirges in  vollendeter  Schönheit  hier  darstellen!  Zuerst  zur  Linken  ein 
felsiger,  unter  Schnee  und  Eis  begrabener  Kammzug  (Kuarmasch),  Aus- 
läufer der  Ilongusorun-Kette,  unter  dessen  Steilwänden  sich  die  Firnmassen 
angesammelt  haben.  In  blendender  Weisse  strahlt  der  Schnee,  bald  sanft 
gewellt  dahinflutend,  bald  vom  Spaltengewirr  durchbrochen.  In  kaukasischer 
Steile  fallen  die  eis.starrenden  Felshänge  zu  dem  sie  umsäumenden  Berg- 
schrunde. Mit  eisbeladener  Fassade  erhebt  sich  der  Gipfel  des  Gwergischer 
(3376  m).  Nun  folgt  eine  tiefe  Senke,  von  welcher  der  Bergkamm  wieder 
ansteigt,  gekrönt  von  der  feinen,  nadeiförmig  zugespitzten  Firnpyramide  des 
Schtawler  (3995  m).  Der  Fuss  dieses  Bergzuges  verliert  sich  .schon  in  den 
uns  verdeckten  Gründen  des  dort  nach  Südwesten  ziehenden  Tales.  \'on 
der  Passhöhe  zieht  gegen  Südwesten  eine  Firnbucht  mit  dunkeln  Uferrändern. 

Noch  liegt  Halbdunkel  in  der  Tiefe,  Schatten  fallen  noch  auf  die 
Bergwände,  aber  um  so  glänzender  leuchtet  in  der  Höhe  der  von  den 
Sonnenstrahlen  getroffene  Firn.  Ein  wolkenloser  Himmel  war  über  diese 
Welt  von  Pracht  und  Schönheit  gespannt.  Ueber  der  Flucht  des  zu  unsern 
Füssen  liegenden  Tales,  in  weiten  Fernen,  sah  man  Bergketten  auftauchen, 
von  violetten  Farbentönen  umhüllt.  P~s  schien,  als  sei  dort  dem  Blicke  keine 
Grenze  gesetzt,  so  klar  und  durchsichtig  war  die  Luft;  es  schien,  als  ob 
dort  die  Leere  folge  und  dann  erst  das  Himmelsgewölbe  abschliesse. 
Und  wenn  man  das  Auge  von  diesem  mit  dem  Reize  der  Neuheit  fesselnden 
Bilde  abzog,  so  haftete  es  im  Norden  staunend  am  grossen  und  erhabenen 
Massiv  des  Elbruss.  Jenseits  der  Schneefläche  unseres  Standpunktes,  .scheinbar 
in  grosser  Nähe,  zieht  eine  gezackte  Felsbastion,  Trachytgebilde,  welche 
den  Rand  der  Eisumwallung  des  Vulkanriesen  bildet.  Die  P21brussgipfel 
wirken  hier  nicht  nur  durch  ihre  Grösse  und  Höhe,  sondern  auch  durch 
das  schöne  Plbenmass  ihrer  P'ormen.  Von  entfernteren  Standpunkten  gelangt 
das  Beherrschende  ihrer  Höhe  vielleicht  mehr  zur  Geltung,  indes  sie  aus 
grösserer  Nähe  gesehen  wieder  mehr  den  Eindruck  des  Ma.ssigen  hervor- 
bringen.     Vom  Dschiper-Passe  jedoch  vereinigt  sich   im  Anblicke  des  Elbruss 


*)  Da    dorthin    auch    ein   Uebergang    aus  dem    Karatschaigebiete   führt,  empfiehlt  es  sich, 
den  aus  dem  Bakssan-Tale  kommenden   Uebergang  als  Dschiper-Asau-Pass  zu  unterscheiden. 

—      190      — 


LösuNd  toi'()(;kaimiisc'iikr  Ratski.. 

das  Ueberwalti>;ende  der  iiuiclitigen  Erhelniiii^  mit  der  FormvolUMidung, 
der  erhabenen  Ruhe  der  Linien  und  mit  der  blendentlen  Schönheit  seines 
Firnmantels. 

Es  hatten  sich  mir  vom  1  )schiper-Passe  Blicke  in  Landschaften  er- 
öffnet, die  in  ungeahnter  Schiinheit  prangten,  und  ich  gab  mich  ganz  der 
Freude  an   der  herrlichen   Schöpfnng   hin,   die  vor  mir  lag. 

letzt  erst  konnte  ich  die  topographischen  Verhältnisse  dieses  Gebiets 
enträtseln.  Das  Tal  zu  unsern  Hissen  —  obgleich  die  Eingeborenen 
dasselbe  immer  nur  Dschiper  nannten  —  war  das  Nenskra-Tal,  das  wesdich.ste 
der  vom  Hauptkamme  niederziehenden  Seitentäler  des  Ingnr,  das  weit 
draussen,  nahe  seiner  Durchbruchsschlucht,  in  denselben  mündet.  Die  rechte 
Talwandung  im  Norden  trennt  uns  von  den  Ouellflüssen  des  Ullukafn 
(Kubansystem),  vom  Karatschai.  Der  das  Elbrussmassiv  mit  der  Hauptkette 
verbindende  Kamm  ist  kürzer,  als  damals  angenommen  wurde,  indem  die 
Hauptkette  dort  nach  Norden  ausbiegt,  und  das  Ursprungsgebiet  der  süd- 
lichen Zuflüsse  des  Asau-Gletschers  stösst  an  die  das  Nenskra-Tal  überragende 
Hauptkette.  Das  im  Norden  liegende  Seitental  des  Bakssan,  welchem  der 
Dongusorun-Bach  entströmt,  nimmt  seinen  Ursprung  an  jenem  Teil  der 
Hauptkette,  welcher  im  Süden  in  das  Nakra-Tal  fällt.  Zwischen  der  Ein- 
sattlung des  Dschiper-Passes  und  des  Dongusorun-Passes,  die  beide  im 
Hauptkamme  liegen,  löst  sich  von  tliesem  der  das  Nenskra-  und  Nakra-Tal 
trennende   Bergzug. 

Zwei  Stunden  verweilten  wir  auf  der  Höhe  des  Dschiper-Passes,  ein 
Zeitraum,  der  mit  Arbeiten  und  Geniessen  rasch  verstrich.  Die  Temperatur 
war  bei  vollkommener  Windstille  angenehm;  obgleich  sie  um  9  Uhr  30  Min. 
a.  m.  nur  5"  C.  betrug.  Das  Ge.stein  der  die  Passeinsattlung  umgebenden 
Felsen  ist  ein  porphyrartiger  Granit.  In  der  bedeutenden  Höhe  von  nahezu 
3400  m  wurden  hochalpine  Pflanzenarten  gefunden,  deren  Existenz  durch 
das  verwitterte  Gestein  der  Passumgebung,  welches  während  des  Tages 
die  Wärme  stark  absorbiert,  ermöglicht  wird.  Eine  Saxifraga  mit  kleinen,  gold- 
gelben Blüten  klammerte  sich  an  die  Oberfläche  der  Felsen,  und  zwerghafte 
Alsinen,  I'"ritil]arien,  und  ein   kaukasisches  Carum   nisteten   in  den  Felsritzen.'") 

Ismael  Urussbiew^  war  schon  früher  mit  seinem  Jäger  in  die  links 
von  der  Passeinsattlung  sich  erhebenden  Felsen  geklettert,  um  Steinböcken 
nachzuspüren.  Nach  getroffener  \'erabredung  sollte  er  weiter  unten  am 
Gletscher  mit  uns  wieder  zusammentreffen.   Wir  sahen  uns  jedoch  nicht  wieder. 


*)  Alsine    imbricata   MB.,   Carum    caucasicum    Boiss..    Fritillaria    tenella    MB.,    Heracleum 
villosLim  Fisch.,   Saxifraga  flagellaris  W.,   Saxifraga  muscoides  Vulf.  f.  compacta  Engler. 


Das  N1';nskra-Tal 


Im  Abstiege  verfolgten  wir  die  in  bedeutender  Stt;ilheit  nieder- 
ziehenden und  durch  Schrunde  zerrissenen  Firnflächen  nicht  lange,  sondern 
suchten  unsern  Weg  über  terrassenförmige  Absätze  der  rechten  Talwandung. 
Erst  weiter  unten  stiegen  wir  dann  auf  das  Eisgebiet  des  Gletschers.  Der 
Eisstrom,  welchen  ich  Nenskra-Gletscher  nannte,  erfüllt  den  ganzen  Talhinter- 
grund.  Der  untere  Teil  des  Gletschers  war  glatt  und  schlüpfrig,  wenig  von 
Felsgeröll  bedeckt.  Sein  Ende  wurde  um  i  i  Uhr  erreicht;  es  lag  nach  Baro- 
metermessung in  2569  m  Höhe  (B.  D.).  Auf  der  Endmoräne  wurden  Gneise, 
Glimmerschiefer  und  Pegmatite  (darunter  mit  Cordierit  gemengte)  gesammelt. 
Pfadlos  wanderten  wir  durch  das  unbewohnte,  mit  Geröll  und  .Schutt 
erfüllte  Tal,  welches,  tief  eingeschnitten,  von  hohen,  nackten  Wänden  um- 
schlossen ist.  Zwischen  den  Gesteinstrümmern  wucherte  eine  immer  üjjpiger 
werdende,  hoch  aufschiessende  Vegetation,  welche  dieselben  dem  Blicke  oft 
imsichtbar  machte  und  den  Marsch  ungemein  erschwerte.  Eine  ganze  Reihe 
Kräuter  erreicht  eine  ausserordentliche  Höhe  und  grossblättrige  Pflanzen 
geben  hier  der  Flora  des  Hochgebirges  ein  überraschendes  Gepräge.  Heiss 
brannte  die  Sonne.  Stunde  um  Stunde  verfloss,  und  es  zeigte  sich  kein 
schattiger  Ruhepunkt,   kein   Quellwasser,   das  Labung  versprach. 

Wir  waren  eine  kurze  Steilwelle  des  Talbodens  abgestiegen,  als 
sich  plötzlich  da,  wo  das  Nenskra-Tal  einen  längentalartigen  Lauf  zu  nehmen 
beginnt,    ein  weiter    Blick   hinaus   durch    die  Talflucht    und   auf  einige  dort 

erscheinende  Schneegipfel  im 
.Scheiderücken  zwischen  Nenskra 
und  .Seken  erschloss,  der  wie 
eine  Befreiung  nach  der  langen 
Wanderung  durch  das  eng 
umschlossene,  aussichtslose  Tal 
wirkte. 

Ich  hatte  eine  photogra- 
phische Aufnahme  gemacht, 
und  da  abge- 
packt war,  be- 
schloss  ich,  hier 
kurze    Zeit    zu 

rasten    und 
meinen     Reise- 
gefährten    und 
Nenskra-Tal.  einen  Teil    der 


'V^"-- 


—     1 92    — 


WlCHTICKKII     ll(i|l|-,l<    HlWAKS    1!KI    BERCKAHRTICX    IM    KAUKASUS. 

Trailer,  die  etwas  zurlickg'eblieben  waren,  zu  erwarten.  l'nter  dem 
Schatten  eines  mächtigen  Steinblocks  lagerte  ich  mich  zu  kurzem 
Schlummer,  der  jedoch  nicht  lange  währte,  da  eine  Art  Stechfliegen  und 
Mücken,  das  erste  Mal  im  Kaukasus,  mir  hart  zusetzten.  Später  kamen 
mein  Reisegefährte  und  die  Träger,  und  es  wurde  der  Proviantsack  hervor- 
geholt. Der  Rastplatz  lag  in  etwa  2200  m  (A.  D.)  Höhe,  unfern  eines  sich 
an  der  linken  Talwand  emporziehenden  Grabens,  durch  welchen  meine 
Swanen  aufsteigen  wollten,  um  den  Bergzug  zu  überschreiten,  welcher 
zwischen   Nenskra  und   Nakra  streicht. 

Schon  auf  der  Höhe  des  Dschiperpasses  war  es  mir  klar  geworden, 
dass,  um  in  das  Längenhochtal  des  Ingur  zu  gelangen,  die  Ueberschreitung 
eines  gewiss  hohen  Passes  in  der  zwischen  dem  Nenskra-  und  Nakratale 
streichenden  Kette  notwendig  sei.  Es  war  noch  früh  am  Nachmittage  und 
daher  selbstverständlich,  dass  das  Nachtlager  über  der  Talsohle  aufgeschlagen 
werden  sollte,  diesmal  nicht  nur,  um  dem  Ziele  des  morgigen  Tages  näher 
zu  sein,  sondern  um  den  Moskito-  und  Fliegenschwärmen  und  auch  den 
vielleicht  schädlichen  Miasmen,  welche  die  üppige  Vegetation  des  Talbodens 
zu  bergen  schien,  zu  entgehen.  Aber,  wie  fast  immer,  kostete  es  mich 
auch  diesmal  einen  harten  Kampf,  um  die  Leute  noch  heute  zu  einem 
weiteren  Anstiege  zu  bewegen,  und  nur  eiserne  Energie  konnte  ihren  Wider- 
stand besiegen.  Grundsätzlich  schenkte  ich,  wie  immer,  auch  diesmal  all 
den  Vorstellungen  der  Leute,  dass  es  keinen  Lagerplatz  weiter  oben  gebe, 
kein  Wasser,  kein  Holz,  dass  man  erfrieren  müsse,  keinen  Glauben.  Ein 
hohes  Biwak  ist  bei  allen  grösseren  Bergfahrten  im  Kaukasus  von  Wichtigkeit, 
in  höherem  Masse  als  bei  solchen  in  den  heimischen  Alpen.  Die  Unkenntnis  des 
Terrains,  die  erhöhten  Anforderungen  an  die  Zeit  des  Reisenden  durch  Aut- 
nahmen oder  andere  wissenschaftliche  Arbeiten,  die  grösseren  Distanzen,  welche 
bei  allen  Wanderungen  im  kaukasischen  Hochgebirge,  sei  es  bei  Ersteigung 
der  Hochgipfel,  sei  es  bei  Ueberschreitung  der  Gletscherpässe,  zurückzulegen 
sind,  begründen  dies,  wozu  sich  noch  der  Umstand  gesellt,  dass  im  Kaukasus 
auch  bei  schönem  Wetter  oft  schon  früh  Höhenrauch  und  Nebel  auftreten 
und  daher  ein   möglichst  frühes  Erreichen  der  Höhe  erstrebt  werden   muss. 

Endlich  war  eingepackt,  die  Lasten  wurden  geschultert.  Bei  meiner 
Ankunft  am  Rastplatze  hatte  ich  das  Ouecksilberbarometer,  das  ich  selbst 
trug,  neben  mir  an  einen  Block  gelehnt.  Als  ich  es  jetzt  aufnehmen  wollte, 
bemerkte  ich  sofort,  dass  seine  Lage  verändert  worden  war.  Eine  un- 
angenehme Ahnung  beschlich  mich.  Hastig  öffnete  ich  das  Futteral;  ach  — 
in  hellen   Tropfen   entrann    demselben   das   glänzende  Metall!      Eine    namen- 

Dichy:   Kaukasus.  13 

—        193       — 


MosKi'iosciiwÄKMK  IM  Nen.skka-La(;er. 

lose  Traurigkeit  überfiel  mich.  Gehütet  wie  ein  geliebtes  Kind,  waren  auf 
der  ganzen  Reise  zu  Wasser  und  zu  Lande  die  Ouecksilberbarometer  Gegen- 
stände der  ersten  Fürsorge.  Wir  selbst  bereiteten  ihr  Lager,  und  unsern 
Begleitern  wurden  zuerst  sie  als  ein  noli  me  tangere  ans  Herz  gelegt.  Meist 
mussten  sie,  die  Diener  der  Wissenschaft,  es  sich  gefallen  lassen,  als  eine 
.\rt  Hüllenmaschine  zu  gelten,  nur  um  Unberufene  von  ihnen  fernzuhalten. 
In  meinen  Armen  hatte  ich  sie  vor  den  unbarmherzigen  .Stössen  der  russischen 
Telega  gehütet,  sie  zu  Pferde  und  zu  Fuss,  über  Fels  und  Eis  heil  und 
unversehrt  getragen,  und  immer  hatte  der  helle  Klang  des  an  die  Rühre 
schlagenden  Quecksilbers  mein  Ohr  erfreut.  Und  jetzt  musste  durch  eine 
mir  unbekannt  gebliebene  Ursache,  Unvorsichtigkeit  oder  Neugierde  eines 
meiner  Leute,  mein  bestes  Instrument  ein  vorzeitiges  Ende  finden.  Es  währte 
lange,  bis  der  lebhafte  Schmerz  trauriger  Ergebung  Platz  machte!  Wir  waren 
in  Asien,   im   Orient:   es  stand   so   geschrieben! 

Am  Abend  hatten  wir  nach  kurzem,  aber  steilem  Aufstiege,  der 
manchen  Schweisstropfen  entlockte,  in  2416  m  (A.  D.)  Hühe  eine  Terrasse 
an  der  Talwand  erreicht.  Es  gab  ebenen  Raum  für  das  Zelt,  Wasser, 
trockenes  Strauchholz  und  auch  einen  sehr  schönen  Blick  auf  die  Elbruss- 
gipfel, welche  über  P'elswände  zur  Seite  der  schneeigen  Hühe  des  Dschiper- 
Passes  lugten,  zu  welcher  wir,  den  Nenskra-Glctscher  entlang,  emporsehen 
konnten.  Leider  fehlten  auch  hier  die  INloskitoschwärme  nicht,  die  den  Auf- 
enthalt im  Breien  zu  einem  qualvollen  machten.  Vermummt,  um  Kopl  und 
Hals  Tücher  geschlungen,  verzehrten  wir  hastig  das  Abendessen,  um  rasch 
in  das  Zelt  zu  kommen,  welches  wir  sorgfältig  geschlossen  hielten.  Schwere 
Regentropfen  schlugen  in  der  Nacht  an  das  Zeltdach.  Dem  schünen  Tage 
war  ein   rascher  Umschlag  des  Wetters  gefolgt. 

17.  .August.  Am  frühen  Morgen  hatte  der  Regen  aufgeh(>rt.  Ich 
Hess  das  Lager  abbrechen  und  wir  alle  arbeiteten,  um  rascher  fortzukommen. 
Als  wir  marschbereit  waren,  begann  es  wieder  zu  regnen.  Dennoch 
brachen  wir  auf,  da  ein  längeres  Zuwarten  in  dieser  gänzlich  unbewohnten 
Gegend  infolge  des  Mangels  an  Lebensmitteln,  insbesondere  für  meine 
swanetischen   Träger,   unmüglich  gewesen   wäre. 

Wir  .stiegen  durch  eine  üde  Steinregion  steil  empor.  Nach  einer 
halben  .Stunde  gelangten  wir  auf  ein  kleines,  von  hohem,  schneebedecktem 
Gewände  zirkusförmig  umschlossenes,  muldenfürmiges  Plateau,  dessen  Rand 
nur  an  der  Seite  unseres  Anstieges  offen  war.  Am  Fusse  des  Bergrundes 
lagen  die  Trümmermassen,  welche  herabgestürzt  waren  und  vielleicht  ein 
einst   hier  befindliches   .Seebecken    auseefüllt    hatten.      Das  B!nde    eines    steil 


ÜBER   DEN    BASSA-PASS. 

abfallenden  Gletschers  zieht  von  der  Höhe  nieder;  es  ist  der  T\]his  eines 
Kargletschers,  eine  jener  Eisbildungen,  welche  in  den  kurzen,  nicht  zu  eigent- 
lichen Tälern  entwickelten  Mulden,  die  an  den  Bergrücken  liegen,  sich  aus- 
breiten.    Das  Gletscherentie  lag  in  einer  Höhe  von  beiläufig  2610  m  (A.  D.). 

Die  nahezu  schneefreie  Eisfläche  des  Gletschers,  welche  der  Regen 
glatt  und  schlüpfrig  gemacht  hatte,  wurde  betreten.  In  schwachem  An- 
stiege kamen  wir  schon  nach  40  Minuten  an  die  Firngrenze,  die  ich  hier 
mit   2744   ni  (A.  D.)   mass. 

Längst  schon  hatte  sich  der  Regen  mit  Eiskörnern  gemischt,  die  der 
Wind  uns  gerade  ins  Gesicht  trieb.  Dann  gab  es  wieder  Pausen,  in  welchen 
Schnee  und  Regen  aufhörten  und  wallende,  feuchte  Nebel  uns  umhüllten. 
Ein  unangenehmes  Gefühl  der  Kälte  machte  sich  bei  einer  Lufttemperatur 
von  2"  Celsius,  wahrscheinlich  infolge  der  herrschenden  F'euchtigkeit,  geltend. 
Wir  gelangten,  uns  rechts  wendend  und  das  Firngebiet  des  Gletschers  ver- 
lassend, zuerst  an  einige  Felspartien  und  dann  über  Schneehänge  zu  der 
im  Süden  sich  öffnenden  Einsattlung.  Um  9  Uhr  waren  wir  auf  der  Höhe 
des  Bassa-Passes   3034  m  (3125   m  A.  D.).'^') 

Wir  hatten  kaum  einige  Schritte  an  den  mit  Geröll  bedeckten 
Schneehängen  der  Ostseite  getan,  als  ein  fürchterliches  Unwetter  losbrach. 
Ueber  die  Abhänge  und  Grate  des  Gebirges  brauste  der  vSturm  und  fegte 
zischend  den  zu  Körnern  gefrorenen  Schnee.  Auf  dieser  Seite  hatten  wir 
nur  Schneefelder  zu  überschreiten,  über  welche  wir  hinabeilten.  Nirgends 
kam  es  an  diesen  steilen  Abhängen  zu  Gletscherbildungen,  eine  Folge  des 
orographischen  Auf  bans  derselben.  Als  tiefer  unten  der  Schneefall  aufhörte, 
stürzte  die  Sintflut  kaukasischen  Regens  auf  uns  nieder.  Es  währte  jedoch 
nicht  lange;  der  gewitterartige  Sturm  und  Regen  hörte  auf,  die  Wolken 
wurden  lichter,  sie  zerrissen,  und  blauer  Himmel  wurde  sichtbar.  F"reudig 
betrachtete  jetzt  das  Auge  von  einer  Absatzstufe  des  wüsten  Steingehänges, 
an  dem  wir  abstiegen,  das  zu  Fü.ssen  liegende,  grüne  Nakra-Tal,  eine 
tiefe,  enge  Urwaldschlucht.  An  seinem  Ursprünge  wird  es  breiter  und 
gletschererfüllt.  Und  über  die  Talflucht  hinausblickend,  erscheinen  ferne, 
blaue  Bergreihen. 

Die  Talsohle  wurde  vor  Mittag  erreicht.  Die  Swanen  sind  hier  zu 
Hause.  .Sie  führten  mich  an  eine  Felsbalm,  welche  sich  am  Fusse  hoher, 
nahezu  senkrechter  Mauern  befindet.  Vor  derselben  breitet  sich  eine  kleine 
ebene  Fläche  aus,    von   dichtem   Buschwerk    umringt.      Man    erkennt   sofort. 


*)  Von  mir  nach  den  Mitteilungen  der  micii  begleitenden  Swanen,  welche  die  jenseits,  ir 
Nakra-Tale  liegende  Talstufe  Uzchuat  nannten,  zuerst  als  Uzchuat-Pass  bezeichnet. 


Lackk  im  Nakka-Tai.e. 


dass  der  ( )rt  zum  Lagcr|)latz  gedient  hat.  Hier  sollten  auch  wir  unser 
Laq'er  aufschlagen,  da,  wie  die  Swanen  behaupteten,  es  weiter  unten  im 
Tale  keinen  hierzu  geeigneten  Ort  gebe.  Die  Leute  waren  ermüdet  und 
ich  nahm  den  X'orschlag  an.  Auch  ein  anderer  Grund  sprach  dafür.  Das 
Unwetter  hatte  besonders  unserm  Gepäck  arg  zugesetzt,  und  es  erschien 
notwendig,  es  einer  genauen  Besichtigung  zu  unterziehen  und  das  nass  ge- 
wordene zu  trocknen.     So  wurde  denn  abgepackt  und  das  Zelt  aufgeschlagen. 

Das  Lager  im  Nakra  -  Tale  lag 
1943  m  (A.  D.)  hoch.  Die  Bergbewohner 
nannten  die  Gegend  rundherum  Uzchuat. 
Bald  herrschte  geschäftiges  Treiben.  Am 
glimmenden  Feuer  trockener  Rhododen- 
dronsträucher  wurden  Kleider,  botanisches 
Papier  getrocknet,  brodelte  eine  viel- 
versprechende Erbswurstsuppe.  Lojka, 
der  um  seine  Schätze  besorgt  war, 
trocknete  das PapierseinerPflanzenpressen, 
ich  kochte  die  Suppe,  da  auf  dieser  Reise 
ich  auch  das  Amt  des  Koches  versehen 
musste.  Die  gestrickte  Biwakkappe,  welche, 
über  Kopf  und  Hals  gezogen,  nur  einen 
runden  Ausschnitt  für  das  Gesicht  offen 
lässt,  war  jetzt,  in  eine  Zipfelmütze  ver- 
wandelt, Lagerkappe.  Statt  des  Rockes 
trug  ich  die  gestrickte  Jacke,  das  Gardigan- 
jacket,  dazu  Knickerbockers  unddieleichten 
Lagerschuhe,  hi  der  Hand  aber  hielt  ich 
den  Kochlöffel,  und  Lojka  behauptete,  es  wäre  interessant,  diesen  Anblick 
zu  verewigen,  wenigstens  für  Personen,  welche  mich  näher  kennen,  und  die 
gewiss,  wie  er  versicherte,  eine  solche  Szene  für  unmöglich  halten  würden. 
Einige  der  Swanen,  die,  wie  immer,  schon  längst  alles  aufgegessen 
hatten,  waren  mit  dem  Backen  ihres  Brotes,  dünner,  runder,  aus  irgend 
einer  undefinierbaren  Masse  zusammengekneteter  Scheiben,  beschäftigt. 
Andere  sammelten  trockene  Gräser,  um  damit  die  Ledersäcke,  welche  ihnen 
als  P\issbekleiduiig  dienten,  auszustopfen.  Unser  Knjas  jedoch  unternahm 
die  ganze  Zeit  in  seinen  Kleidern  zoologische  Forschungsexpeditionen,  deren 
sichtbare  Resultate  mich  in  Erinnerung  an  vorjährige  Erlebnisse  beben 
machten ! 


Vorberei  t  Uli  K»-' n   zum   IJiucr. 


DKK   SlII.VKKliKDECKTE    llAirTKAMM    VOM    XaKKA-TaL. 


Das  Nakra-Tal  steigt  im  Norden  zu  den  Höhen  der  kaukasischen 
I  Iau|)tkette ;  es  erweitert  sich,  die  aus  kristalh'nischen  Gesteinen,  f|uarz- 
haltiyem  Schiefer  und  porphyrischen  Gneis-Graniten  bestehenden  Wände 
werden  felsig,  nackt,  und  durch  den  wüsten  Talboden  schiesst  der  schäumende 
Nakra-Bach.  Links  sieht  man  zwischen  Berggehängen  die  Zunge  eines 
Gletscherstromes.  Ueber  demselben  erhebt  sich  ein  schöner,  eisbedeckter 
Gipfel.  Zur  Rechten  dehnt  sich  in  der  Höhe  ein  weites  Eisfeld  aus,  von 
dem  zerrissene  Firnhänge  niederziehen.  Es  ist  dies  das  Gebiet  des 
Dongusorun-Passes,  ein  den  Eingeborenen  bekannter  und  von  ihnen  oft  be- 
nutzter Gletscherübergang,  der  3199  m  hoch  in  das  jenseitige  Dongusorun- 
Tälchen  und  an  den  Bakssan  führt.  Talauswärts  verfolgt  der  Blick  die 
kulissenförmigen  Talwände,  welche,  in  der  Tiefe  nahe  zusammentretend,  die 
Windungen  des  Baches  umschliessen,  und  trifft  tier  Talflucht  quer  vorliegende 
Reihen   von   Bergketten,    die   schon    dem   Haupttale,   dem  Ingur,   angehören. 

20.  August.  Am  folgen- 
den Tage  wanderten  wir  tal- 
auswärts. Das  IJebersetzen 
des  Baches  mittels  eines  run- 
den, glatten  Baumstammes, 
welcher  über  zwei  riesige 
Blöcke  gelegt  war  und  unter 
welchem  in  ziemlicher  Tiefe 
der  Bergstrom  brauste,  leitete 
den  Tag  in  etwas  aufregen- 
der Weise  ein.  Landschafdich 
bietet  das  Tal  wenig;  die 
Vegetation  jedoch,  mit  welcher 
es  sich  schmückt,  der  Wald, 
der  tiefer  unten  es  umsteht, 
nimmt  den  Wanderer  gefangen. 

Der  W'eg  folgte  den  He- 
bungen und  Senkungen  der 
Talsohle,  trat  dann  hinaus  auf 
eine    herrlich    grüne,    Ijlumen-  Nakra-Tal. 

bestandene  Aue  und  führte  zum  Bache,  der  hier  in  etwa  1000  m  Höhe 
von  Riesengräsern,  weiss  und  blau  blühenden  Aconiten,  Heracleen  und 
mannshohen  Farnkräutern  umstanden  ist.  .Schon  höher  oben  waren  unter 
andern!    Crocus    Scharojani    Rupr. ,    das   hochaufgeschossene   Colchicum    spe- 


Blick  auf  das  Hochtal  des  Ingur. 

ciosum  Stev.,  Kirschlorbeer  (Prunus  laurocerasus  L.)  und  Rosa  Boissieri 
Crep.   in   herrlicher   Blütenentwicklung-    zu   sehen.*) 

Viele  Stunden  lang  wanderten  wir  dann  im  Walde,  im  kaukasischen 
Urwalde  hochstämniiger  Buchen,  Erlen  und  lüchen.  Baumstämme  lagen 
in  unentwirrbarem  Chaos  umher,  das  sie  im  krachenden  Falle  aufgebaut 
hatten.  An  den  gegenüberliegenden  Talwänden  .stehen  in  der  Höhe  Koni- 
feren,  prächtige,   kerzengerade  Tannenschäfte. 

Wir  verliessen  den  Lauf  des  Baches,  der  sein  Bett  zwischen  ungang- 
baren, waldbedeckten  Steilwänden  eingegraben  hat,  um  über  einen  hohen 
Bergriegel  in  das  Hochtal  des  Ingur  zu  gelangen.  Es  war  ein  langer, 
steiler  Anstieg,  immer  durch  denselben  herrlichen  Laubwald,  in  welchen 
sich  Birken  mischen,  wo  hie  und  da  Ahorn  auftritt  und  dann  höher  oben 
mächtige  Nordmannstannen  (Abies  Nordmanniana)  und  Picea  orientalis  mit 
ihrem   grauen,   plattigen   Nadeldache  die   Herrschaft  gewinnen. 

Und  als  wir  mit  etwa  1760  m  (A.  D.)  die  Hohe  erreicht  hatten,  da 
lag  wieder  eine  neue  Welt  vor  uns.  Zu  unscrn  Pässen  dehnen  sich  weit 
gegen  Osten  grünende  Talschluchten  und  sich  kreuzende  Bergrücken  aus. 
Die  Sonne  steht  tief;  ihre  schräg  fallenden  Strahlen  vergolden  gelbe  Acker- 
felder, welche  mit  grünen  Wiesen  wechseln,  und  beleuchten  an  den  Berg- 
lehnen kleine  Hüttengruppen.  Zwischen  endlos  verschlungenen  Bergreihen, 
von  dichten  Wäldern  umstanden,  sehen  wir  die  Engschlucht  des  Ingur 
gegen  .Südwesten  ziehen.  Im  Süden  umrahmt  die  Leilakette  das  Ingur- 
Hochtal;  die  mir  vom  vorigen  Jahre  bekannten,  schön  geformten  Gipfel  er- 
heben sich  in  sanften  Linien  über  die  gletscherumflo.ssenen  Hänge.  Im 
fernen  Osten  lassen  sich  durch  den  Schleier  der  sie  umhüllenden  Dünste 
mächtige  Berge  in  gewaltiger  Erhebung,  von  welchen  weithin  leuchtendes 
Eis  glitzert,  ahnen.  In  die  dunkeln  Wälder,  in  die  Schluchten,  die  in  die 
Tiefe  ziehen,  dringen  die  Schatten  des  Abends.  Nur  in  der  Höhe  bleibt 
es   noch  lange   hell,   glüht  es  an  den  Schneefeldern   der   Leila. 

Wir  sind  in  Swanetienl 


*)   Im  Nalcra-Tale  sammelte  Prof.  Lojka  die   für  den  Kaukasus  neue  Gypsophila  glandulosa, 
eine  Sileneart 


1  n  g  u  r  t  a 1    bei  E  z  e  r  i . 


XV.  KAPITEL. 


Wanderungen  in  Swanetien. 

.   .    .    bat    rarely    .ire    inoimtaiDS    Seen 
in   siuh   combineil   inajesty  .'iiul  grace 

as  heie 

Cailyle. 

Unser  erstes  Nachtlager  in  Swanetien  schlugen  wir  etwas  unterhalb 
des  Dorfes  Laschchrasch,  im  Dorfe  Taurar  auf,  welches  auf  einer  etwa 
1600  m  (A.  D.)  hohen  Bergterrasse  liegt,  welche  unmittelbar  zu  dem  tief 
unten  strömenden,  von  hier  unsichtbaren  Ingur  abfällt.  Der  Pristaw  von 
Betscho   war  \on    unserer  bevorstehenden  Ankunft  unterrichtet  und  hatte  in 


Etwas  entfernt  von  den  Häusern  des  Dorfes  liegt  am  Rande  einer 
ebenen,  begrünten  Fläche  die  Kirche,  ein  kleines  steinernes  Gebäude,  an 
welche  aus  Holz  ein  jetzt  leerer  Viehstall  angebaut  war.  Auf  der  andern 
Seite  schlugen  wir  das  Zelt  auf.  Eine  Menge  Leute,  ich  glaube  die  ganze 
männliche  Einwohnerschaft  des  Dorfes,  gross  und  klein,  umlagerte  uns. 
Der  .Starschina,   ein   kleiner    Mann   mit  einem   dichten,    schwarzen   Vollbarte, 


Zudringliche  NEUCiiKRDK  der  Doreüewohxek. 

die  Kette  der  Gemeindevorsteher  mit  der  INIedaille  am  Halse  tragend,  hatte 
uns  begrüsst.  Die  Zudringlichkeit  und  etwas  geföhrliche  Neugierde  der 
Leute  —  Laschchrasch  steht  im  Rufe,  die  grössten  Diebe  Swanetiens  zu 
besitzen,  was  dort  wohl  etwas  sagen  will  —  kannte  keine  Grenzen.  Wir 
hatten  dem  Starschina  unsere  Papiere  gezeigt,  die  Gegenstand  eifriger  Studien 
und  Uebersetzungen  von  selten  des  russisch  sprechenden  Gemeindeschreibers 
von    Pari,    eines    benachbarten    Dorfes   bildeten.      Die   Unterschrift    und    der 


Neugierige    in    einem    swaneüschen    Uorfe. 


Name    des     Generalgouverneurs     von    Kaukasien,    des    F"ürsten    Dondukow- 
Korsakow  erregten   Ausrufe   des  Staunens. 

Sofort  gab  ich  Auftrag,  dass  vier  Pferde  am  frühen  Morgen  bereit 
sein  sollten.  Der  Starschina  versicherte  mich,  dass  er  sofort  Leute  aus- 
schicken werde,  um  nachts  die  Pferde  von  den  Weideplätzen  zu  holen,  dass 
wir  jedoch  in  Pari  andere  Pferde  nehmen  müssten.  Da  der  Starschina  von 
Pari  mit  seinem  Schreiber  gerade  anwesend  waren,  beauftragte  ich  die- 
selben, die  Pferde  für  9  Uhr  vormittags,  der  voraussichtlichen  Zeit  unseres 
P^intreffens,  bereit  zu   halten. 


KÄ.MI'l  K    MIT    rFKKIiETKEIBF,RN. 

Endlich  kam  tue  Nacht:  die  zudrinyHche  Menge  der  Gaffer  verlief 
sich.  Wir  stapeUen  unser  Gepäck  zwischen  Zeh  und  Kirchenniauer  auf 
und  Hessen  bei  demselben  den  Milizsoldaten  mit  seiner  Berdanbüchse  und 
unsern  Knjas  laoern.  Unsere  scharf  geladenen  Revolver  hatten  wir 
früher  schon   ostentativ  zur  Schau   getragen. 

2  2.  August.  Prachtvoll  brach  der  Morgen  an.  Wir  waren  früh  auf. 
Mein  Reisegefährte,  der  am  Abend  vorher  Entdeckungsfahrten  nach  einem 
( )fen  gemacht  hatte,  um  seine  Pflanzen  zu  trocknen,  setzte  dieselben  fort, 
ich  bezahlte  die  Leute,  welche  mit  uns  aus  dem  Bakssan-Tale  gekommen 
waren,  und  dann  machten  wir  uns  zur  Abreise  fertig.  Um  5  Uhr  schon 
war  das  Gepäck,  nunmehr  für  den  Transport  auf  Pferden,  in  .Satteltaschen 
und  kaukasischen  Sumchas  verpackt,  zum  Laden  fertig.  Aber  weder  Pferde 
noch  .Starschina  waren  sichtbar.  Dem  Kosaken,  der  leider  nur  swaneti.sch 
sprach  —  trotzdem  aber  meinen  Unwillen,  dass  die  Pferde  nicht  zur  Stelle 
waren,  begriff  — ,  gelang  es,  den  Starschina  herbeizuschaflen,  nicht  aber 
die  Pferde.  Ich  will  mich  kurz  fassen.  Ich  bat,  ich  drängte,  ich  drohte. 
Umsonst.  Wieder  hatte  sich  eine  Menge  Gafter  zusammengefunden.  Es 
verging  .Stunde  um  Stunde.  Endlich  kamen  Pferde.  Es  gab  einen  Heiden- 
lärm. Was  ich  demselben  entnehmen  konnte  war,  dass  die  Pferdebesitzer  die 
Werstzahl  und  die  Beträge,  welche  der  .Starschina  festsetzte,  nicht  annehmen 
wollten.  Ich  bat,  die  letzteren  zu  erhöhen.  Nun  begann  das  Beladen  der 
Pferde.  Neue  Streitigkeiten.  Bald  war  dem  einen  das  Pferd  zu  schwer 
beladen,  bald  hatte  der  andere  wieder  zu  wenig  genommen.  Dem  einen 
fehlte  ein  Packsattel,  das  Pferd  des  andern  war  für  den  Transport  von 
Lasten  zu  schwach.  Der  Starschina  schien  machtlos.  Nun  warfen  die 
Pferdeinhaber  das  Gepäck  wieder  auf  die  Erde  und  führten  die  Pferde 
fort.  Man  denke  sich  dabei  den  Reisenden,  der  voll  Ungeduld  ist,  vorwärts 
zu  kommen,  um  den  schönen  Pag  —  wie  selten  doch  im  Hochgebirge!  — 
auszunützen.  Das  Gepäck  liegt  auf  dem  Boden.  Umschwärmt  von  einer 
Menge  schreiender,  streitender,  wilder  Menschen  steht  der  Reisende  hilflos 
da.  Der  angebliche  Einfluss  unseres  Reisemarschalls,  des  swanetischen 
Knjas,  in  .Swanetien,  war  nicht  zu  bemerken.  Ich  machte  den  Kosaken 
auf  seine  Pflicht  aufmerksam,  mir  beizustehen.  PIr  .scheint  es  herau.s- 
zufühlen,  dass  er  etwas  tun  müsse,  und  wie  ich  sehe,  sucht  er  seine 
Autorität  geltend  zu  machen.  Doch  diese  kennt  der  .Swane  nicht, 
und  einer  der  Pferdetreiber  fällt  den  Kosaken  mit  dem  Knüttel  an. 
Einen  Augenblick  später  ist  das  lange  .Schwert  gezückt,  mit  welchem 
der  Kosak    auf   den     Swanen    eindringt.      Nun     fallen    ihm,    der    bleich    vor 

—     201     — 


Dl-RClI    DAS    INGUR'IAI,    NACH    EZERI. 

Erregung,    Leute   in   den    Arm.      Der  Szene    folgte   eine  lange  Pause   —   es 
trat  Ruhe  ein. 

Endlich  gelang  es  dem  Starschina,  zwei  Pferde  zurückzubringen.  Ein 
zufallig  durch  Laschchrasch  reitender  Bakssantatare,  der  in  I^iensten  Ismael 
Urussbiews  steht  und  den  wir  von  Urussbieh  kennen,  bietet  uns  sein  Pferd 
an.  Vier  der  gestrigen  Träger,  welche  noch  bis  Me.stia  wandern,  sind  gewillt, 
die  vierte  Pferdelast  unter  sich  zu  teik;n  und  bis  Pari  zu  tragen,  und  so 
reisen  wir  endlich,  ich  ersclu')[)ft  vom  langen  Kampfe,  vier  Stunden  später, 
um    9   Uhr    ab. 

Der  Weg,  welchen  wir  von  Taurar  verfolgten,  zieht  über  eine  Reihe 
der  vom  Norden  niederziehenden  Bergrippen,  zwischen  welchen  die  Bäche 
sich  tiefe  Gräben  erodiert  haben,  die  zu  steilen  Anstiegen  und  zumeist  noch 
steileren  Abstiegen  zwangen.  \'on  einer  eigentlichen  Weganlage  ist  keine 
Spur  zu  sehen.  Die  Pferde  wurden  oft  nur  mit  grosser  Mühe  von  den 
Treibern  vorwärts  gebracht.  Unzählige  Male  geriet  hierbei  tlie  Ladung  in 
Unordnung,  und  das  fortwährende  Packen  und  Schnüren  veranlasste  ärgerliche 
Aufenthalte. 

hl  rascher  Aufeinanderfolge  passieren  wir  die  um  einzelne  Türme  ge- 
scharten  Häusergruppen  von  Di)rfern,  die  auf  Talterrassen,  hoch  über  dem 
entfernt  in  der  Tiefe  strömenden  higur,  liegen.  Die  Türme  sind  jedoch 
hier  im  westlichen  Abschnitte  des  Hochtales  seltener  als  im  mitderen  und 
im  ostlichen  Tale.  Ueberall  an  den  Hängen  breiten  sich  grünende 
Wiesen  aus,  unterbrochen  von  gelben  PVuchtfeklern.  Der  Wald  liegt  höher, 
nahe  den  Graten  der  Bergrücken.  Die  Bewohner  der  Dörfer  waren  meist 
auf  den  Eeldern  mit  dem  Einheimsen  des  Getreides  beschäftigt.  Entgegen 
dem,  was  ich  ein  Jahr  früher  in  Swanetien  erfahren,  als  ein  kalter  regne- 
rischer Sommer  das  Getreide  auf  den  P'eldern  erfrieren  liess,  schien  dieses 
lahr  eine  gute  Ernte,  die  frülizeitig  begonnen  hatte,  Ersatz  zu  bieten,  hi 
manchen  Höfen  sahen  wir  das  Dreschen  des  Getreides  in  folgender  Eorm  ; 
das  Getreide  wird  auf  die  Erde  gestreut  und  ein  flaches  Brett,  welches 
noch  mit  Steinen  beschwert  ist,  wird  von  zwei  (~)chsen  im  Kreise  über  das- 
selbe gezogen.  Ein  der  jüngsten  .Swanengeneration  angehörender  Knabe 
steht  gewöhnlich   auf  dem   Brett  uml   lenkt  das   Gefährt. 

Gegen  Mittag  waren  wir  in  Pari,  in  der  Höhe  von  1400  m  (A.  D.V 
Die  für  9  Uhr  beorderten  Pferde  waren  nicht  da.  Um  4  Uhr  nachmittags, 
als  trotz  Bitten  und  Drohungen  noch  immer  keine  Pferde  kamen,  zog  ich 
voraus,  um  vom  Wege  vielleicht  noch  einige  Aufnahmen  zu  machen,  meinen 
Reisegefährten   mit   dem    Gepäck   zurückla.ssend. 


Bki  den  Fürstex  Dadischkiliax  ix  F.zeri. 

Von  der  Höhe  des  hinter  Pari  aufsteigenden  [^erorückens  erlilickte 
ich  Ezeri,  die  nächste  Ortschaft  vor  mir,  malerisch  am  begrünten  Talgehänge 
gelegen.  In  einer  Lücl<e  der  hinter  Ezeri  niederzielienden  Bergwand  erscheint 
Uschba,  ganz  in  Nebel  gehüllt  luul  kaum  seine  Grösse  verratend.  Hohes  Ge- 
birge .steht  im  Osten;  durch  das  Dunstgewölk,  welches  sich  nach  dem  schwülen 
Tage  um   dasselbe   ballt,   leuchten  im    Abendlichte   glimmende   Schneefelder. 

Erst  gegen  7  L'hr  abends  stiess  mein  Reisegefährte  mit  den  Last- 
pferden zu  mir.  Der  Plan,  heute  noch  Betscho  zu  erreichen,  musste  auf- 
gegeben werden.  Wir  verbrachten  die  Nacht  in  Ezeri,  im  Hause  des 
Eürsten  Dadischkilian.-')  Tengis  Dadischkilian,  der  Chef  tlcr  Familie,  welche 
über  den  westlichen  Teil  des  Ingurhochtales  —  über  das  Dadischkilianische 
Swanetien  —  eine  gewisse  Oberhoheit  ausübt,  war  im  Winter  gestorben. 
Einer  der  Söhne,  der  nachts  von  einer  Reise  heimkehrte,  machte  die 
Honneiu's. 

20.  August.  Wir  waren  spät  zur  Ruhe  gekommen  imd  waren  s|)ät 
wach.  Die  Pferde  warteten  unser;  doch  gerne  weilten  wir  noch  eine  Stunde 
vor  dem  Hause  des  gastfreundlichen  Fürsten  imter  prächtigen,  hohen  Bäumen, 
in  köstlicher,  frischer  Morgenluft.  Die  Höhe  von  Ezeri  wurde  mit  i  590  m  (A.  D.) 
bestimmt. 

Man  kommt  nach  einer  Wanderung  von  zwei  Stunden,  zuletzt  ziemlich 
ansteigend,  auf  einen  breiten  Bergrücken,  von  welchem  sich  schon  der  Blick 
auf  das  Gebiet  von  Betscho  erschliesst,  dessen  W^ahrzeichen,  die  Uschba- 
gipfel,  nunmehr  unmittelbar  vor  uns  liegen.  Wie  sich  an  diesem  herrlichen 
Berge  die  Erhabenheit  der  .seine  Umgebung  beherrschenden  Grös.se  mit  der 
Zartheit  seiner  Konturlinien,  mit  der  vollkommenen  Harmonie  seines  Auf- 
baues vereinigt!  Neidisches  Gewölk  umwogte  leider  wieder  die  Gipfel,  um 
die.selben  bald  darauf  ganz  zu  verhüllen.  In  der  Ferne  war  die  Tetnuld- 
gruppe,  von  bläulichem  Dufte  umflossen,  erschienen.  Wir  hielten  unter  dem 
Schatten  einer  Gruppe  hoher  breitästiger  Bäume  Rast.  In  der  Stille  der 
sonnigen  Landschaft  lauschte  ich  dem  Rauschen  der  Baumkronen,  dem 
Rieseln   der  hellen   W^asser. 

In  Betscho  wurden  wir  vom  Pristaw  freundlich  empfangen.  Unser 
Aufenthalt  gestaltete  sich  unerwarteter  W-^eise  zu  einem  höchst  angenehmen 
und  interessanten.  Der  Gouverneur  von  Kutais,  General  Alexei  Michailowitsch 
Smekalow,  unter  dessen  Gouvernement  Swanetien  stand,  sollte  am  nächsten 
Tage  in  Betscho  eintreffen.     Schon  am  Abend  brachte  eine  berittene  Estafette 

■■■■)  .A.uch   Dadisch-Kiliani. 

—      203      — 


ÜKR    GOLVKKNKUR    SWAXKTIKXS    IN    BlC'lSCIIO. 

ein  für  mich  bcstiiiiinlcs  Schreiben,  welches  der  General  che  Güte  hatte, 
mir  zu  senden.  Am  folgenden  Nachmittage  traten  der  General  und  seine 
Begleiter  ein:  eine  malerische  Reitergruppe,  in  welcher  die  russischen 
Uniformen  mit  den  kaukasischen  Trachten  wechselten.  Das  .Streben,  die 
Verhältnisse  der  seiner  Administration  unterworfenen  Gebiete  kennen  zu 
lernen,  war  es,  welches  den  Gouverneur  veranlasste,  die  beschwerliche 
Reise  nach  dem  berüchtigten  Swanetien  zu  unternehmen.  Eine  .Schule  in 
Betscho,  die  erste  in  Swanetien,  sollte  errichtet  und  ein  Kreisarzt  dorthin 
beordert  werden.  Die  Rückreise  sollte  durch  die  Ingurschlucht  genommen 
werden,  um  die  Möglichkeit  der  Erbauung  einer  Strasse  durch  dieselbe  zu 
studieren.  Einer  der  Sekretäre  des  Gouverneurs  war  mit  der  Erstellung 
eines  Zensus  von  .Swanetien  beschäftigt.  in  tler  Begleitung  des  Generals 
befand  sich  auch  Oberst  Rodzewitsch,  der  Bezirkschef  von  Letschgum,  in 
dessen  gastfreundlichem  Hause  in  Zageri  ich  im  X'orjahre  eine  herzliche 
Aufnahme  gefunden  hatte.  Es  tat  wohl,  nach  langer  Zeit  wieder  in 
gebildeter  Gesellschaft  eine  lang  entbehrte  Konversation  führen  zu  können. 
Allerdings  wurde  hierdurch  den  tür  Betscho  [irojektierten  Arbeiten  manche 
kostbare  .Stunde  entzogen,  und  bis  weit  nach  Mitternacht  währte  oft  die 
wohlbesetzte  Tafel.  Auch  einige  einheimische  Eürsten,  zwei  Dadischkilian 
und  ein  mingrelischer  Fürst,  nahmen  an  der  Tatel  teil.  Nach  georgischer 
Sitte  wachte  ein  gewählter  »Tolombasch«  über  das  Leeren  der  Gläser  beim 
Zutrinken  nach  gewissen  Regeln,  die  ich  leider  vergass;  Trinksprüche  folgten 
rasch;  die  mir  geltenden  Hess  ich  natürlich  nicht  unerwidert,  mich  des  besten 
Russisch  bedienend,  dessen  ich  fähig  war,  und  oft  ertönte  fröhlicher  Gesang 
der  Tafelrunde.  Meine  Beobachtungen  Hessen  mich  auch  diesmal  zwei 
Tatsachen  klar  wahrnehmen:  erstens,  dass  die  Russen  sich  ihrer  zivilisa- 
torischen Aufgabe  bewusst  und  bestrebt  sind,  dieselbe  im  Bereiche  des 
für  sie  Möglichen  zu  lösen,  und  zweitens,  dass  sie  einen  engen  Anschluss 
an  die  ihnen  unterworfenen  Völkerschaften  suchen  und  ihre  .Sympathie  zu 
erwerben   trachten. 

Das  Wetter  war  während  der  ganzen  Zeit  unseres  Aufenthalts  in 
Betscho  prachtvoll  gewesen.  Der  Talschluss,  welcher  aus  grünem,  bach- 
durchflossenem  Wiesengelände  zu  waldbedecktem  Gehänge  sich  hebt,  über 
welches  sich  das  granitische,  schneedurchfurchte  Herggerüst  des  Uschba  auf- 
schwingt, ist  berückend  schön,  und  die  märchenhaft  kühne  F"orm  des  Gipfels 
nehmen  Auge  und  Sinn  des  Beschauers  gefangen.  Unter  den  verschiedenen 
Lichteftekten  bieten  sich  inuuer  neue  Bilder:  wenn  morgens  das  klare  Licht 
in   den  Felswänden   neue  Details   hervorzaubert,   oder   wenn   die  Strahlen   der 

—      204     — 


USCHBA 


Hkrrlk'ue  Landschaft  im  Mulciiara-Tal. 

Abendsonne  die  Schneefiirchen  der  höchsten  Zackenkrone  vergoldet.  Dunkle 
Nebelmassen  umhüllten  oft  tagsüber  des  Berges  Scheitel,  und  dann  schien 
das  an  seinen  Flanken  abbrechende  Eisfeld  aus  mystischen  Höhen  zu  dringen. 
In  monderleuchteter  Nacht  sahen  wir  Uschba:  lichte  Schleier  umspielten  die 
graziöse  Gestalt,  welche  aus  ferner  Höhe  auf  das  stille  Talgelände  nieder- 
blickt, ein  Bild  vollendeter  Schönheit,  voll  eigentümlichen  Zaubers,  wie  es 
die  Natur  in  ihren  Schöpfungen  hervorbringt,  aber  weder  Worte,  noch  der 
Stift  wiedergeben  können. 

Am  dritten  Tage  nach  unserer  Ankunft,  am  23.  August,  verliessen 
wir,  am  gleichen  Tage  wie  der  Gouverneur,  aber  in  entgegengesetzter 
Richtung,  Betscho.  Als  wir  schieden,  waren  es  aufrichtige  Gefühle  des 
Dankes,  denen  ich  Worte  lieh,  für  all  die  Freundlichkeit,  welche  General 
Smekalow  sowie   die   ihn   begleitenden  Herren   uns  erwiesen   hatten. 

Nachdem  wir  den  aus  Ouarzschiefer  bestehenden  Rücken,  welcher 
die  westliche  Talwand  Betschos  bildet,  durch  einen  lichten  Wald  von  Buchen, 
Eichen  und  ein  Gehölz  von  Espen  und  Hasel  wandernd,  überschritten 
hatten,  stiegen  wir  unter  glühender  Sonne  nach  Latal  hinab,  wo  wir  unter 
derselben  Linde  wie  im  Vorjahre  Rast  machten.  Unter  den  Dorfbewohnern 
erkannten  mich   einige   sofort  wieder. 

Wir  zogen  talaufwärts  im  nördlichen  Ouellbezirk  des  Ingur,  der 
Mulchara  entlang.  Einen  immerwährenden  Wechsel  prachtvoller  Land- 
schaften bot  diese  Wanderung.  Hatten  wir  im  Vorjahre  unter  der  Ungunst 
des  schlechten  Wetters  nur  zum  Teil  die  Schönheit  derselben  würdigen 
können,  so  kam  sie  diesmal  voll  zur  Geltung.  Auf  hohen  Talterrassen 
liegen  die  turmbewachten  Dörfer  der  Swanen.  Vom  Norden  ziehen  zwischen 
hohen  Bergrippen  enge  wilde  .Schluchten  hernieder.  Ihre  Bäche  haben  tiefe 
Furchen  in  eine  Zone  alter  Tonschiefer  eingerissen.  Durch  diese  Erosions- 
gräben, über  die  mit  Gebüsch  bedeckten  Bergrippen,  führt  der  Weg. 
Gegenüber,  an  der  Leilakette,  liegen  stille  dunkle  Waldtäler.  In  der  oft 
hügeligen,  coupierten  Talsohle  wechseln  blassgrüne  Saatfelder  mit  blumen- 
geschmückten Auen.  Es  sind  lachende  Bilder  südlicher  Natur,  es  weht  ein 
lebenswarmer  Hauch,  es  blüht  eine  lebhaft  gefärbte,  in  vielen  Lagen  üppige 
Flora  in  dieser  Tallandschaft,  indes  in  der  Höhe  der  sie  umschliessenden 
Berge  die  eisumhüllten  Gipfel,  die  weiten  Firnfelder,  in  kalter,  nordischer 
Schönheit  erglänzen. 

In  Mestia  war  unser  Marsch  unliebsam  unterbrochen  worden.  Kaum 
vor  der  Gemeindekanzlei  dieses  Dorfes  angelangt,  hatten  die  Swanen  die 
Lasten  von   den   Tragtieren  gelöst,    auf   den   Boden  geworfen    und    sich  ge- 

—     205      — 


In  der  Kanzeli.aria  von  Mulach. 

weigert,  weiterzugehen.  L'nter  den  Au.spizien  des  Pristaws,  während  der 
An\ve.senheit  de.s  Gouverneurs,  hatten  sich  die  Leute  leicht  bereit  gefunden, 
uns  einige  Tage  auf  unsern  Kreuzzügen  durch  Swanetien  zu  begleiten, 
letzt  wollte  der  eine  nur  bis  Mestia  gedungen  sein,  der  andere  mit  dem 
Weg  bis  Mestia,  etwa  t,\-^  Stunden,  einen  Tagesmarsch  geleistet  haben  und 
das  Pferd  eines  dritten  sollte  lahm  geworden  sein.  Es  war  später  Nach- 
mittag. Auf  dem  freien  Felde  vor  dem  Gemeindehause  von  Mestia,  dessen 
Häuser  h()hcr  oben  am  Hange  liegen,  war  das  Gepäck  abgeworfen,  die 
Pferde  verlaufen.  Unser  Reisemarschall,  Rusteni  Chan,  der  Prinz,  war  un- 
sichtbar geworden;  wie  es  hiess,  war  er  auf  der  Suche  nach  seinem  eigenen 
Pferde,  einem  Wundertier,  von  dem  er  uns  schon  während  der  ganzen  Reise 
erzählt  hatte  und  das  —  Reste  einstiger  Glorie  —  in  Me.stia  sich  befinden 
sollte;  unser  Kosak  aber,  ein  etwas  russisch  sprechender  swanetischer  Miliz- 
soldat, Namens  Mirab,  der  uns  in  Betscho  zur  Begleitung  zugeteilt  worden 
war,  zeigte  schon  jetzt,  dass  auf  ihn  wenig  Verlass  sei.  Kostbare  Zeit 
ging  mit  Unterhandlungen  verloren.  Es  wurde  Abend,  bis  wir  nach  langem 
Kam])fe  endlich  unter  endlosem  Geschrei  und  Lärm  aufbrechen  konnten. 
Es  wäre  bei  so  vorgerückter  Stunde,  insbesondere  im  Hinblick  auf  meine 
photographischen  Arbeiten,  angezeigter  gewesen,  in  Mestia  zu  übernachten, 
aber  ich  konnte  dies  nicht  mehr,  wollte  ich  nicht  eine  für  später  gefähr- 
liche  Nachgiebigkeit  zeigen. 

Die  strahlende  P^irninramide  des  Tetnuld  mit  ihrer  eisigen  Umgebung 
beherrscht  im  Osten  den  Weg.  Die  Spitzen,  am  Tage  durch  schwere 
Wolken  verhüllt,  erschienen  am  lichten  Abendhimmel,  als  wir  den  Berg- 
rücken zwischen  Mestia  und  Mulach  überstiegen.  Auch  Uschba  wurde  im 
Rückblick  sichtbar.  Von  seinen  Planken  und  seinen  Nebengipfeln  dringen 
Eisströme   in   die   Ouerschluchten,   welche   sich   bei   Mestia  öffnen. 

Wir  kamen  in  später  Nacht  in  die  erst  jüngst  erbaute,  einsam 
liegende  Kanzellaria*)  der  Genossenschaften  Mulach  und  Muschal.  In  der 
offenen  F"euerstelle  des  ersten  Raumes  loderte  bald  ein  mächtiges  P'euer. 
Die  Swanen  wurden  wieder  gute  Kerle,  Pferdetreiber  und  Träger  gingen 
aus  und  ein,  machten  sich  geschäftig,  halfen  mit.  Wir  hatten  von  Betscho 
ein  -Schaf  mitgenommen,  das  im  Kessel  brodelte  und  von  dem  sie  einen 
Teil  erhofften.  Im  zweiten  Gemache,  aut  breiten,  längs  der  Wand  lauten- 
den Holzbänken,  schlugen  wir  unser  Nachtlager  auf.  Wenn  auch  weniger 
poetisch    als    das    Zeltbiwak,    ist   di(,'    Unterkunft    unter    festem    Dache,    ins- 


*|   Russisches  Wort   für  Gemeindehaus   i  Dorfkanzlei). 


Ansicht  vom  Wege  nach  Adisc-h. 

besondere    bei    spcäter    Ankunft,    wie    es    heute    der    ball    war,     eine    grosse 
Bequemlichkeit. 

Am  folgenden  Taije,  dem  24.  August,  überstiegen  wir,  zum  Teil  mit 
andern  Pferdetreibern,  den  Scheiderücken,  welcher  zwischen  dem  nördlichen 
und  südlichen  Ouellbe/irke  des  Ingur  streicht,  nonliistlich  vom  Ugür-Pass, 
den  ich  im  Vorjahre,  am  Wege  zum  Latpari-Pass,  überschritten  hatte.  Von 
der  Höhe  bot  sich  ein  herrlicher  Blick  auf  das  sonnenbeleuchtete,   von  hellen 


Uschlja    and   Tschatu  in-Tau. 

(  )rtschaften  belebte,  grüne  Tal  der  Ahilchara.  Gerade  gegenüber  dringt 
vom  Hauptkamme,  der  in  zackigen  Felsgipfeln  aufstrebt,  der  Twiber- 
Gletscher  in  eine  enge  Ouerschlucht.  bn  Talschluss  zieht  vom  Gebiete 
des  Tetnuld  der  Zanner- Gletscher.  Ueber  das  ganze  Tal  herrscht  der 
Doppelgipfel  des  Llschba.  An  ihn  reiht  sich  der  mehrzackige  Bau  des 
Tschatuin  -Tau  (4363  m)  und  die  Felskette,  welche  die  Firnreviere  des 
Tschalaat  und  Leksyr-Gletschers  umrandet.  Bis  auf  die  Höhe  des  in  etwa 
2000  m  (A.  D.)  Höhe   liegenden  üeberganges  reicht   herrlicher  Wald,   dessen 


207      — 


Der  lüsKAi.L  DES  Anisen -Gletschers. 

Reichtum  an  Haumformen  wechselnde  l'arbentinten  in  denselben  mischt. 
Jenseits  blickt  man  nach  den  Tiefen,  welche  der  südliche  Ouellstrom  des 
Ingur  durchrauscht,    überragt  von  dem   östlichen   Kammzuge  der  Leilakette. 

Auf  der  Höhe  des  Bergrückens,  auf  schöner  Alpenwiese,  schlugen 
wir  das  Zelt  auf  Der  Abend  war  wunderbar.  Bei  Sonnenuntergang  be- 
gann sich  der  Nebelschleier,  der  die  Berge  umhüllt  hatte,  zu  lösen,  fiel  und 
enthüllte  langsam  die  Firngipfel,  die  P>lszinnen,  die  klar  und  rein  in  den 
kalten   Abendhimmel  tauchten. 

Als  ich  mit  Tagesanbruch  des  25.  August  aus  dem  Zelte  trat,  wallten 
Nebel  in  den  Tälern,  aus  welchen  die  Bergspitzen  wie  Klippen  aus  der  See 
ragten.  Langsam  vollzog  sich  der  Uebergang  von  der  fahlen  Helle  der 
Nachtgestirne,  von  der  Morgendämmerung  bis  zum  leben.svollen,  farben- 
reichen Lichte  der  siegreichen  Tagesleuchte.  In  Gold  und  Rosa  spielten 
die  aufsteigenden,  zerfliessenden,  durchsichtigen  Nebelschleier,  und  unter 
diesen  begannen,  einer  fata  morgana  gleich,  die  Weiler  und  Türme,  die 
dunkeln  Wälder,  die  grünen  Matten  und  die  Rechtecke  der  reifen,  gelb- 
grünen Saatfelder  im  paradiesischen  Mulchara-Tale  zu  erscheinen.  Das 
Licht  erhellt  die  in  der  Höhe,  oberhalb  Mestia,  zwischen  finsterer  Wandung 
sanft  auslaufenden  grossen  Eisströme,  und  über  den  vorliegenden  Bergrücken 
erhebt   Uschba   in  herrschender  Grösse  sein   doppelgipfliges   Haupt. 

Ein  ziemlich  steiler  Abstieg  brachte  uns  an  den  Bach  untl  bald  darauf 
zu  den  armseligen  Steinhütten  des  Dorfes  Adisch,  in  der  Höhe  von  2040  m. 
Wir  stiegen  im  öden,  waldlosen,  in  alte  Tonschiefer  gesenkten  Tälchen  an 
und  gewannen  plötzlich  den  Anblick  des  Gletschers,  der  dasselbe  schliesst. 
Lieber  den  steilen  Abfall  seines  Bettes  werfen  sich  die  Eismassen  des  Adisch- 
Gletschers  in  die  Tiefe,  ein  Gletscherfall,  wie  er  selbst  in  den  Alpen  kaum 
seinesgleichen  findet,  zerrissen  und  zerschrundet.  Die  Gletscherzunge, 
gleichfalls  zerklüftet,  breitet  sich  fächerförmig  aus  und  erinnert  an  den 
unteren  Teil  des  Rhone- Gletschers  in  den  Schweizer  Alpen,  üestlich  flan- 
kieren den  Gletscher  die  zum  Adisch-Gipfel  gehörenden  Felswände,  und 
westlich  erheben  sich  die  in  der  firnbedeckten  Pyramide  des  Tetnuld  aus- 
gipfelnden  Bergmauern. 

Eine  ebene,  mit  Geröll  bedeckte  und  von  kleinen  Bächen  durch- 
zogene Fläche  breitet  sich  vor  dem  Gletscher  aus.  Das  Ende  desselben 
dringt  bis  zu  2280  m  (2272  m  A.  D.)  herab.  Die  alten  Glazialschutt- 
terrassen im  Adisch-Tale  zeigen,  dass  der  Gletscher  einst  das  ganze  Tal 
durchflutete.  Unter  den  granitischen  Gesteinen  der  Stirnmoräne  machte  sich 
ein     besonders     schöner    P'elsit    bemerkbar.       Nahe    am    Gletscherende     be- 

—     208     — 


Alpine  Flora  am  AniscH-Gr.KTSciiKR. 

zeichnete  ich  einzelne  grosse  Blöcke  als  Signa][)unkte  mit  roter  Oelfarbe, 
deren  Entfernung  vom  Eise  mittels  Messbancles  gemessen  wurde.  Auch  eine 
Mauer  wurde  errichtet  und  in  gleicher  Weise  gemessen.  Die  Entfernung 
\om  äussersten  Punkte,  den  die  Gletscherzunge  erreichte,  bis  zu  jenem 
1 'unkte  des  eisfreien  Terrains,  wo  wieder  die  ersten  Vorposten  zusammen- 
hängender Vegetation  in  Form  von  Sträuchern  sichtbar  werden,  betrug 
96  m.  Photograi)hien  des  Gletscherabsturzes,  der  Zunge  des  Gletschers  und 
des  eisfrei   gewordenen   Terrains   wurden   aufgenommen. 


Eisfall    und    Zunge   des  Adisch-Gle tschers. 


Wir  stiegen  am  linken  Ufer  des  Gletschers  aufwärts.  Zwischen 
grossen  Platten  kristallinischen  Schiefers  wuchert  niedriges  Birkengebüsch, 
höher  oben  sind  die  Hänge  mit  dichten,  dunkeln  Rhododendron-Sträuchern 
bedeckt. 

Eine  reiche  botanische  Ausbeute  wurde  an  diesem  Tage  des  Sammlers 
Teil.*)  Auf  den  Alpenmatten,  bis  an  den  Rand  des  mächtigen  Eisstromes, 
woben  Repräsentanten  der  Hochalpenflora  einen  bunten  Teppich,  und  tiefer 
unten,   auf  den  Talwiesen,   zeigten  in  günstiger  Sonnenlage  die  schönsten,  der 


*)  Anthemis  rigescens  MB.,  Betonica  grandiflora  Willd.,  Cerastium  purpurascens  Adams., 
Chamaemelum  caucasicum  Willd.,  Cirsium  munitum  MB.  und  obvallatum  DC,  Erigeron  pulchellus 
(Willd.)  DC.  in  einer  neuen  Var.  polycephalos  S.  et  L.,  Juncus  alpinus,  Phleum  alpinum  L  ,  Piimula 
auriculata  Lam.,  Silene  saxatilis  Sims.,  Thesium  alpinum  I,.,  Trifolium  (ambiquum  MB.,  canescens 
Willd.,  rytidosemium  Boiss.),  Valeriana  allia  riaefolia  Vahl.  u.  a. 

Vichy.    Kaukasus.  l'l 

—     209     — 


Das  CiiAi.n?:-TAL  und  die  Oiiiu.sciii.urHT  des  Ixgur. 

subalpinen  Region  ange- 
hörenden Blutenpflanzen 
eine  vielgestaltige  Blätter- 
fülle und  hoch  aufstrebende 
Entwicklung.  Im  Adisch- 
Tale  entdeckte  Prof.  Lojka 
/  eine  neue  Art,  welche  Prof. 

Sommier  und  Dr.  Levier 
als  Verbascum  Dech\anum  bestimmten, 
und  in  der  Nähe  von  Muschal  Pyre- 
thrum  glanduliferum  S.  et  L.  nov  sp. 
unicum.*) 

Eine  kurze   Strecke    unterhalb    des 
Gletscherendes  stiegen  wir  zuerst  durch 
ein  kleines  Gehölz,  dann  über  Grashänge 
an  der  orographi.sch  linken  Talseite  auf- 
wärts,  im  Anfange  ohne  jede  Wegspur, 
bis  wir  einen  Pfad   erreichten,  der  in  Kehren  sich 
an  dem  Bergrücken  emporwindet,  der  das  Adisch- 
Tälchen     von     dem     Chalde  -  Tale     trennt.       Ein 
stürmischer  Südwest    empfing    uns   auf  der  Höhe 
und    trieb  wallende   Nebel    vor    sich  her,    die   für 

Verbascum   Dechyanum  .  i  i-   i  i  i  ••it..  r^- 

AuQfenblicke  auch   uns  umhüllten.     Uie  zu   unsern 

So  mm.    et    Lev.   nov.    sp.  "^ 

Flüssen  liegende,  vom  Chaldetschala  durchströmte 
Talschlucht  mündet  bei  Kai,  wo  wir  im  Vorjahre,  auf  unserm  Wege  nach 
dem  Latpari-Pass,  vorbeigekommen  waren,  in  das  Ingur-Tal.  Hinter  Kai, 
bei  der  Hüttengruppe  von  Uschkül  verlässt  der  Ingur  die  Form  des  Längen- 
tales, welche  er  in  seinem  Laufe  durch  Swanetien  bis  zur  Einmündung  des 
Nakra -Tales  eingehalten  hat,  und  sein  kurzer,  oberster  Ouellarm  zieht 
nahezu   senkrecht  zur  Hauptkette. 

In  das  Chalde  -Tal  senkt  sich  der  grosse  Chalde  -  Gletscher,  von 
mehreren  Zuflüssen  gebildet,  die  den  Firnfeldern  an  der  südlichen  Ab- 
dachung der  Dschanga  und  der  Schchara  entspringen,  bis  zu  2460  m.  Die 
Hauptquellen  des  Ingur  entströmen  den  im  Hintergrunde  der  Talschlucht 
oberhalb  Uschkül  sich  ausbreitenden  Gletschern,  dem  an  den  südösdichen 
Flanken  der  Schchara  entströmenden  Schchara- Gletscher  und  dem  Ingur- 
Gletscher,   den   die  Firnreservoire  an  den  Abhängen  des  Nuamquam   nähren. 

*)  Siehe  Bd.  III. 

—      210     — 


Aussicht  vom  BKRCRi'cKEN  zwischen  Adisch  und  Chalde. 

Ueber  den  oben  sich  weitenden  und  von  den  Eismassen  dieser 
Gletscher  erfüllten  Tälern  von  Adisch,  Chalde  und  Uschkül  erhebt  sich  der 
Hauptkamm  von  der  Gestola  bis  zum  Nuamquam  in  einer  einzigen,  steil  ab- 
stürzenden Eismauer,  welche  die  Gipfel  des  Katuin-Tau,  der  Dschanga  und 
der  Schchara  überragen.  Wie  vom  Latpari-Pass,  aber  bedeutend  näher  ge- 
rückt und  damit  seine  Grössenverhältnisse,  die  Details  seiner  Felsarchitektur 
und  ihrer  Schneebedeckung  mehr  zur  Geltung  bringend,  stellt  sich  dieses 
Teilstück  der  kaukasischen   Hauptkette    in    seiner    ganzen   Erhabenheit    dem 


Der  Chalde-Gletschcr. 


Staunenden  Bergfahrer  dar.  Die  Südfassade  des  Monte-Rosa  über  Macugnaga, 
ohne  jede  Einbuchtung,  in  einer  geraden,  vier-  bis  fünffach  längeren  Aus- 
dehnung, nahezu  3000  m  über  den  begrünten  Hügelzügen  sich  erhebend, 
könnte  einen  vergleichenden  Massstab  für  die  Grösse  und  den  steilen  Auf- 
bau dieses  Bergwalles  geben.  Aber  im  Kaukasus  Hegt  mehr  Schnee  in  den 
höchsten,  die  Alpen  überragenden  Regionen,  und  auch  an  den  steilsten 
Felsabstürzen  dieser  Berge  haften  Platten  gefrorenen  P^irns,  deckt  Schnee 
und   Plis   die   .Stufen   und   Absätze   dieser  abbrechenden  Mauern. 

Es  muss  bei   klarem  Wetter  ein    überwältigend   grossartiger   Anblick 
sein,   der  sich  von  dem  Bergrücken  zwischen  Adisch  und  Chalde  dem  glück- 


Rückweg  nach  Ml'schal. 

liehen  Wanderer  eröflnet,  wenn  ilas  trunkene  Auge  von  dem  gigantischen 
Bergwall  Schchara-Dschanga  sich  dem  Eisfall  des  Adisch-Gletschers  zuwendet 
und  an  der  einzig  schönen  Firnpyramide  des  Tetnuld  vorbei  das  Gewirre 
^'on  Bergen  und  Tälern  überfliegt,  das  sich  im  Westen  unter  der  Herrschaft 
von  Uschba  und  der  Leilakette  entrollt.  Uns  verhüllte  dichter  Höhenrauch 
die  Aussicht  gegen  Westen,  und  nur  die  unmittelbar  vor  uns  sich  erhebende 
Hauptkette  trat,  wenn  der  Sturm  durch  die  Wolken  fuhr,  aus  dem  Nebel- 
wallen. Dann  schnitten  die  eisigen  Gipfel,  die  scharfen  Schneiden  der 
hrnbeladenen  Felskämme  in  einen  reinen,  tiefblauen  Himmel  und  schufen 
herrliche  Kontraste  zwischen  dem  Weiss  des  Schnees,  dem  dunkeln  Fels, 
dem  düsteren  Grau  der  W^olken  und  Nebel  und  dem  stählernen  Blau  des 
birmaments. 

Im  Rückwege  zogen  wir  wieder  durch  das  Dorl  AiJisch,  ohne  einem 
sterblichen  Wesen  zu  begegnen.  Wie  au.sgestorben  lagen  die  elenden 
Hütten  da,  deren  Bewohner  als  berüchtigte  Räuber  bekannt  sind.  Abends 
waren  wir  wieder  im  Mulchara -Tal,  wo  wir  nach  Muschal  wanderten  und 
dort,  wie   im   Vorjahre,   beim   Geistlichen   Margiani   einkehrten. 


Gentiana  iJrchyana,  Som.   et  Le\ 


Der   Twiber-Gletsc  her. 


XVI.   KAPITEL. 


Von  Swanetien  über  den  Twiber-Pass  nach  dem 
Tschegem-Tale. 

«las  gehcimiüsvollc  Swanien 

mit  NOiin-n  in   uni;asilitln  iii    mul    piiniili\'cm   /ustainie  beharrentlen  Bewolmeru    — 

uaiiintit    von   ciuei    niajf'stütischt-n   GlutsiKerwult,   die   bisher  noch  keiues  Forschers 

l'"uss  l.ietreten     ...  i ,  •  l     n  ■  r 

Al)ichs  Briefe. 

Auf  der  Höhe  des  mittleren  swanetischen  Gebirgszuges  hatten  wir 
eine  Uebersicht  über  die  nach  Swanetien  ziehende  Abdachung  der  kau- 
kasischen Hauptkette  gewonnen,  über  welche  jetzt,  dem  Reiseplane  gemäss, 
ein  Uebergang  nach  dem  nördlich  der  Hauptkette  liegenden  Ouertale  des 
Tschegem  ausgeführt  werden  sollte.  Wir  sahen  im  obersten  Teile  des  Tales 
der  Mulchara  zwei  bedeutende  Gletscher  in  enge  Ouerschluchten  bis  in 
die  Waldzone  hinabdringen;  im  Nordosten,  in  der  Ecke  des  TaLschlusses, 
von  den  Manken  des  Tetnuld-Massivs  den  Zanner-Gletscher  und  westlich 
davon  den  I'wiber-Gletscher.  Durch  das  Gebiet  des  Twiber-GIetschers  sollte 
der  Weg  nach   dem   Hauptkamme  genommen   werden. 

Ich  war  mir  der  Schwierigkeit  der  Aufgabe  bewusst,  die  Svvanen  zu 
bewegen,  diesen  von  mir  geplanten  Uebergang  zu  unternehmen  und  mit 
ihnen   in   ihier   Heimat    ein    bindendes    Abkommen    als  Träger    zu    ti-efien. 


213     — 


Das  MLii.ciiARA-T.\L  ist  kin  reichks  kkra'Iischks  Terrain. 

Nun  wurde  allerdings  unserm  Reisemarschall,  dem  swanetischen  Knjas, 
schon  in  Urussbieh  als  Hauptaufgabe  die  Heschaffung  einer  genügenden 
Anzahl  von  Trägern  für  die  LIeberschreitung  der  Hauptkette  übertragen. 
Ich  schickte  demzufcjlge  schon  einen  Tag  früher  Rüstern  Chan  nach  seinem 
Heimatdorfe  Mestia,  damit  er  dort  Träger  werbe  und  mit  diesen  am  frühtMi 
Morgen  in   Muschal   erscheine. 

Spät  erst  kam  Rüstern  mit  einigen  Männern ;  als  ich  ihre  immer 
steigenden  F"orderungen  bewilligt  hatte,  erklärten  sie,  über  den  Twiber- 
Gletscher  überhaupt  nicht  gehen  zu  wollen,  sondern  den  Betscho-  oder  den 
Dongusorun-Pass  im  Auge  gehabt  zu  haben.  Als  ich  dann  Rustem  Chan 
seine  Ohnmacht  und  seine  Versprechungen  vorhielt,  wollte  auch  er  nicht 
mehr  die  Reise  fortsetzen  und  verlangte  drohend  den  ihm  erst  nach  Be- 
endigung derselben  gebührenden  Lohn.  Jetzt  versprach  Margiani,  der 
Cieistliche,  angespornt,  wie  es  scheint,  durch  die  hohe  Summe,  welche  wir 
schon  den  Leuten  von  Mestia  zugesagt  hatten,  uns  Männer  von  Muschal 
zu  beschaffen.  Man  erlasse  mir  die  Schilderung  des  .Stunden  währenden 
Kampfes,  der  nötig  war,  um  mit  den  Leuten  ein  Abkommen  zu  treffen. 
Unser  swanetischer  Kosak,  Mirab,  den  riesigen  Lärm  überschreiend,  er- 
schwerte nur  noch  die  X'^erhandlungen  :  luid  als  alles  zur  allgemeinen  Zu- 
friedenheit festgesetzt  war,  welche  Arbeit  kostete  es  noch,  bis  für  zehn 
Mann  gleich  schwer  wiegende  Lasten  geordnet  waren  imd  bis  diese  ver- 
teilt wurden,  was  nicht  ohne  endlose  Proteste  und  unzählige  Abänderungen 
gelang.  Kndlich  war  ein  Teil  der  Träger  reisefertig,  die  andern  mn.s-sten 
noch  Brot  für  die  Reise  backen  oder  Leder  für  ihre  Bundsandalen 
schneiden. 

Gegen  Mittag  zogen  wir  aus.  Der  Himmel  war  umwölkt.  BaUl  trat 
ein  leiser  Regenschauer  auf  Ich  hätte  umkehren  sollen,  allein  nach  dem 
stürmischen  \'ormittage  wollte  ich  nichts  miversucht  lassen,  imi  nur  einer 
Wiederholung  ähnlicher  Szenen  zu  entgehen,  üeberdies  hiess  es,  dass  in 
der  Nähe  vom  Gletscherende  eine  Steinhütte  bestehe,  wo  man  .Schutz  vor 
eintretendem   Unwetter   finden   könne. 

Wir  waren  im  Talboden  eine  Strecke  weit  gewandert,  bis  wir 
dort,  wo  vom  Norden  der  Twiber-Bach  aus  enger,  unzugänglicher  Schlucht 
hervorbricht,  an  einem  steilwandigen  Bollwerke,  durch  ein  aus  Buchen, 
Birken,  Pichten  und  wildem  Buschwerk  bestehendes  Gehölz  emporzusteigen 
begannen.  Alte,  bis  auf  ihren  Rücken  jetzt  schon  begrünte  Moränenwälle 
sind  vor  der  Twiber-Schlucht  angehäuft.  Das  Hochtal  der  Mulchara  ist 
ein   reiches  erratisches  Terrain.     Die  Gletscher  im  Hintergrunde,    der  Zanner-, 

—      214     — 


La(;kr  in  der  Twiber-Schi.ucht.  —  Un'wkitkr. 

Twiber-  uml  die  Gletscher  der  Mestiaschluchten,  sind  weit  in  dasselbe  ge- 
drungen, haben  ihre  Moränen  dort  abgelagert  und  das  geologische  Tal- 
gerippe mit  grossen  Massen  Glazialschutts  bedeckt,  Beweise  für  die  mächtige 
Ausdehnung,  welche  die  Gletscher  des  Mulcharatales  zu  Beginn  und  während 
eines  Teiles  der  Ouartärepoche  besassen.  Wo  in  der  Twiber-Schlucht  die 
Tonschiefer  eine  Zone  von  Glimmerschiefer  unterteufen,  zeigen  die  steilen 
Wände   bis   hoch   hinauf  polierte   Felsen. 

Immer  drohender  hatte  sich  während  unserer  Wanderung  das  Wetter 
gestaltet.  Kalte,  feuchte  Nebel  kamen  vom  Norden  und  erfüllten  die 
Schlucht.  Als  wir  auf  eine  unfern  vom  Gletscherende  liegende,  mit  Blöcken 
bedeckte,  kurzo-rasigfe  Fläche  g-elano-ten,  begann  es  heftie  zu  reenen.  Hier, 
nach  meiner  Messung  in  einer  Höhe  von  20S6  m  (A.  D.),  sollte  der  Lager- 
platz sein.  Eine  kleine  Enttäuschung  wartete  unser;  ein  hoher,  etwas  über- 
hängender Felsblock  wurde  von  den  Swanen  als  das  Schutz  und  Obdach 
bietende  Haus  bezeichnet,   von  dem   sie   immer  gesprochen  hatten. 

In  grösster  Eile  wurde  das  Zelt  aufgeschlagen,  was  nur  schwer 
und  schlecht  gelang.  Der  Regen  wurde  zum  Wolkenbruch.  Ein  Teil  des 
Gepäcks  wurde  unter  dem  Stein  geborgen,  das  andere  mit  Gummitüchern 
zugedeckt.  Ein  kleines  Dach,  aus  Baumästen  und  Ruten  zusammengefügt, 
schirmte  einen  kleinen  Raum  zwischen  dem  Steinblock  und  einer  niedrigen, 
aus  geschichteten  Steinen  errichteten  Mauer.  Dort  lagen  wir  zusammen- 
gekauert. Wir  zündeten  ein  Feuer  an,  um  das  Nachtessen  zu  bereiten. 
Der  Rauch  war  unerträglich.  Der  Regen  drang  durch  das  Rutendach.  Es 
wurde  Nacht.  Der  Donner  rollte,  der  Blitz  zuckte,  in  .Strömen  fiel  der 
Regen.  Schon  stand  der  kleine,  überdachte  Raum  unter  Wasser  und  in 
der  Steinhöhle  hatten  die  Swanen  kein  Plätzchen  frei  gelassen.  Wir  mussten 
ins  Zelt,  aber  die  Zeltwände  waren  schlecht  gespannt  und  schon  war  an 
einzelnen  Stellen  Wasser  ins  Innere  gedrungen.  Die  Schlafsäcke  waren  je- 
doch unter  den  Decktüchern  ziemlich  trocken  geblieben.  Wir  warfen  sie 
ins  Zelt,  durch  welches  jetzt  auch  von  oben  ein  schwacher  Regenschauer 
drang.     Man  lag  im  Wasser,  wo  eben  Wasser  stand. 

Die  ganze  Nacht  dauerte  der  wolkenbruchartige  Regen  —  ein  des 
Kaukasus  würdiger,  ein  asiatischer  Regen,  immer  in  Begleitung  von  Donner 
und  Blitz.  Auch  die  Kälte  hatte  stetig  zugenommen.  Und  doch  glaube 
ich,  durchnässt  bis  auf  die  Haut  und  frierend,  war  ich  längere  Zeit  ein- 
geschlummert. Mit  der  Dämmerung  des  anbrechenden  Tages  erhoben  wir 
uns,  um  so  rasch  als  möglich  das  Lager  abzubrechen  und  talabwärts 
zu   fliehen. 


DlK    SWANKN    WEKJKRN    SICH,    DEN    TWIISKR-PASS    ZU    ÜBERSCHREITEN. 

Im  Reyen  kamen  wir  am  \^)rmittaue  iiachMuschal.  Unsere  Sachen  waren 
in  einem  greulichen  Zustande  —  nur  die  photographischen  Platten  und  die 
Pflanzen  waren  gerettet.  Noch  nach  tagelang  währendem  Trocknen  in  der 
Sonne  und  am  heuer  blieb  vieles  feucht.  Hatten  wir  Zeit  gehabt,  das 
Zelt  fest  zu  spannen  und  auch  die  Hodenfläche  unter  demselben  in  Ordnung 
zu  bringen,  wir  wären  bei  so  heftigem,  lange  andauerden  Regen  vielleicht 
nicht  ganz  trocken  geblieben,  jedoch  eine  so  elende  Nacht,  wie  die  am 
'Pwiber-Gletscher  durchlebte,   wäre  uns  erspart  geblieben. 

Die  Leute  tonlerten  in  Muschal  einen  Teil  ihrer  Bezahlung  und  als 
ihnen  bedeutet  wurde,  dass  der  Pjetrag  ihnen  beim  Aiuljruche  am  nächsten 
schönen  Tage  ausbezahlt  werden  würde,  erklärten  sie,  überhaupt  nicht  mehr 
den  Uebergang  machen  zu  wollen.  Auch  andere  Leute  waren  nicht  auf- 
zutreiben. Rüstern  Chan  und  Mirab  erschwerten  nur  noch  die  Lage,  welche 
eine  prekäre  wurde.  Wir  waren  in  einer  Sackgasse.  Nur  ein  einziger 
Ausweg  stand  uns  offen,  der  Weg  gegen  Süden  über  den  schon  im  Vor- 
jahre überschrittenen,  bekannten  Latpari-Pass.  Aber  nicht  nur,  dass  ich  um 
jeden  Preis  den  Twiber-Gletscher,  den  Uebergang  und  die  jenseits  liegende, 
bis  jetzt  unbesuchte  Bergwelt  des  obersten  Tschegem-Tales  kennen  lernen 
wollte,  sondern  auch  ein  Teil  unseres  Reisegepäcks  war  an  der  Xordseite 
des  Gebirges  zurückgeblieben,  und  den  Latpariweg  einschlagend,  wäre  eine 
Reise  von  etwa    12    bis    14  Tagen   nötig  gewesen,   um   dorthin    zu  gelangen. 

In  dieser  Not  war  es  eine  freudige  Nachricht,  als  ich  am  nächsten 
Tage  erfuhr,  dass  Oberst  Rodsewitsch,  der  den  Gouverneur  Smekalow  nur 
bis  zur  Ingurschlucht  begleitet  hatte,  auf  der  Rückreise  über  den  Latpari- 
Pass  begriffen,  am  Nachmittage  in  Muschal  erwartet  werde.  Da  es  trotz- 
dem ungewiss  war,  ob  Herr  Rodsewitsch  Muschal  berühren  werde,  schickte 
ich  ihm  einen  Boten  mit  einem  Briefe  entgegen,  in  welchem  ich  ihm  meine 
Lage  mitteilte.  Am  Nachmittage  hatte  ich  die  Freude,  Herrn  Rodsewitsch 
in  Muschal  zu  begrüssen.  Seine  Befehle,  insbesondere  der  Mirab  gegebene 
Auftrag,  uns  nicht  nur  bis  zum  Lager  am  Twiber-Gletscher,  wie  früher  be- 
absichtigt war,  sondern  bis  nach  Tschegem  zu  begleiten,  verfehlten,  glaube 
ich,   ihre  Wirkung   nicht. 

Am  Vormittage  des  29.  August,  als  die  Sonne  endlich  siegreich  das 
Gewölk  durchbrach,  waren  wir  wieder  marschbereit.  Zwölf  Swaneten  waren 
als  Träger  des  Gepäcks  gedungen,  und  die  Lasten  wurden  rasch  verteilt. 
Diesmal  schien  alles  gute  Reise  zu  verheissen. 

Als  wir  hinter  Muschal  über  die  noch  regenfeuchten  Wiesen  schritten, 
l)lieben   bei   einem    kleinen   Weiler  einige   der  Träger  zurück,    um    noch    ihr 


Der  Twibek-Gi.etschkr. 

irisch  Gebackenes  Brut  mitzunehmen  und  ilir  Samlalenschulnvcrk  in  Ordnunt^ 
zu  brino-en.  Oben  am  Ende  der  Iwiber-Ouerschhuht,  wo  wir  auf  einem 
kanzelartigen  Vorsprung  der  östlichen  Talwand  rasteten,  stiessen  sie  wieder 
zu  uns.  Wie  die  Swanen,  schwier  bepackt  und  doch  mit  leichtem  festen 
Schritte  ansteigend,  daherkamen,  sah  man,  dass  sie  auf  ausserhalb  der  Eis- 
regionen liegendem   tiebirgsterrain  gute,   kräftige   Gänger  sind. 

Von  der  Kanzel  blickt  man  südwärts  durch  die  enge,  waldumstandene 
Schlucht,  jenseits  welcher  in  der  Tiefe  die  sonnigen  kduren  der  Mulchara 
erglänzen,  begrenzt  vom  waldigen,  mittleren  swanetischen  Gebirge,  über 
welches   die  schneeigen   Höhen  des   ösdichen  Teiles   der  Leilakette  aufragen. 


Das  Ende    des  T\v  iber-Gletsch  er^ 


Vor  uns  wurde  das  untere  Ende  des  Twiber- Gletschers  sichtbar.  Vom 
unteren  Gehänge  der  Talwände  umschlossen,  bricht  der  Gletscher,  die  ganze 
Breite  des  Tales  erfüllend,  in  senkrechten,  oben  schuttbedeckten  Eiswänden 
ab.  Der  Wald  ist  zurückgeblieben.  Nur  spärliches  Gestrüpp  bekleidet 
noch  das  Talgehänge. 

Nach  einer  Stunde  sind  wir  am  Gletscherende.  Dem  grossen 
Gletschertore,  das  sich  im  kreisförmigen  Abbruche  des  Eises  öffnet,  ent- 
strömen die  mächtigen  Wasser  des  Baches.  Es  ist  ein  prächtiger  Anblick. 
Das  Ende  des  Gletschers   liegt  in   einer  Höhe  von   2030  m  (2130  m  A.  D.). 

Die  Swanen  hatten  beabsichtigt,  wieder  an  derselben  Lagerstelle  zu 
übernachten,  wo  wir  vor  einigen  Tagen  die  böse  Nacht  verbracht  hatten. 
Ich  zog  es   jedoch  vor,   weiterzugehen,   um   ein  .Stück  Weges   über  die  rechte 


liiWAK  AM  'I'\vii;i:r-Gletschkr. 

Seitenmoräne  noch  heute  zurückzulegen  uml  erst  sj)äter  bei  den  letzten  Vor- 
] Kisten  der  am  Talgehänge  sich  fristenden,  kümmerlichen  Sträuchervegetation 
das  Lager  aufzuschlagen.  Ich  setzte  mit  Recht  voraus,  dass  der  Marsch 
zur  Passluihe  ein  langer  sein  werde,  und  wusste,  wie  unangenehm  am  frühen 
Morgen  das  Hegehen  einer  steinigen  Moräne  ist.  Allerdings  machte  uns, 
als  wir  etwa  eine  Stunde  später  unser  Biwak  aufschlagen  wollten,  das  Terrain 
einige  Schwierigkeit,  da  wir  keinen  für  das  Zelt  geeigneten  Platz  finden 
konnten.  Aber  mit  einiger  Arbeit  ebneten  wir  einen  solchen,  und  auch  die 
Swanen   fanden  einen   überhängenden   Felsblock,   welcher  sie   vor  Wind  und 


'^^i^^^ 
>.'-*  **'^ 


Am   Tu- iber- Gletscher. 

Kälte  schützen  sollte.  Die  Kälte  —  welche  natürlich  in  solchen  Höhen, 
insbesondere  bei  klarem  Wetter,  sich  unausbleiblich  geltend  macht  —  sollte 
mir  bei  der  Wahl  eines  hochgelegenen  Lagerplatzes  auch  noch  insofern 
zustatten  kommen,  dass  nicht  nur  der  folgende  Tagesmarsch  gekürzt,  sondern 
zugleich  ein  früherer  Aufbruch  möglich  wurde,  weil  die  frierenden  Leute 
selbst  trachteten,  vorwärtszukommen.  Dadurch  war  dann  die  Möglichkeit 
geboten,  früh  in  die  hohen  Regionen  zu  gelangen,  bevor  noch  das  neidische 
Gewölk  des  Tages  sich  auf  dieselben  legte.  In.sbesondere  im  Kaukasus 
war  dies  wichtig,  wo  die  Bildung  von  Nebeldünsten  auf  den  Höhen  durch  auf- 
steigende, feuchte  und  warme  Luftströme  eine  viel  grössere  ist  als  in  den  Alpen. 


—     218     — 


DiK    UMRANUUNC    DKS    TWIBEK-CiLKTSCIIEKS. 

Es  war  eine  kalte  Nacht,  die  wir  da  oben,  in  der  Höhe  von  2263  111 
(A.  D.)  beim  Eise  des  orossen  Twiber-Gletschers  verbrachten.  Das  während 
der  Nacht  exponierte  ^^ninulm -Thermometer  zeigte  2"  C.  Dafür  waren  wir 
aber  auch  schon  früh  wach  und  rasch  mit  den  Vorbereitungen  zum  Ab- 
märsche fertig. 

Um  5  Ihr  des  30.  August  wurde  der  Lagerplatz  verlassen.  Kalt 
starren  uns  die  dämmernden  Schneehänge  des  Gletschertales  entgegen, 
über  welches  sich  ein  schwarzes  Himmelsgewölbe  spannt,  von  dem  langsam 
auch  die  letzten  Sterne  verschwinden.  Eine  Zeitlang  folgen  wir  den  trümmer- 
reichen Uferhängen  des  Gletschers.  Dann  betreten  einige  von  uns  früher, 
andere  später  den  Gletscher  selbst.  Derselbe  besitzt  eine  massige  Neigung 
und  zeigt  nur  wenige  Spalten.  Eine  mächtige  Mittelmoräne,  von  den  zu- 
sammenstossenden  Gerüllanhäufungen  zweier  Gletscherzuflüsse  gebildet,  lagert 
am  Gletscher.  An  den  Flanken  der  Bergiunwallung  hängen  zerschrundete 
Eismassen,  von  welchen  einige  den  Gletscherboden  erreichen,  andere  schon 
höher  oben  endigen  und  nur  Geröllstreifen  zu  den  Moränen  senden,  welche 
den  Gletscher  seitwärts   begleiten. 

[e  mehr  wir  vorwärtsdringen,  um  so  mehr  entwickeln  sich  die 
Grössenverhältnisse    des    Gletscherstromes.      Von    allen    .Seiten    öffnen    sich 


Sseri-  und  Assmaschi-Gletscher. 


—     219       - 


Die  Zi'KLüssK  des  Twiher-Gle'ischkks. 

Gletschertäler;  tler  Hauptkainni  erscheint,  an  widchein  sie  em|)orreicheii 
und  mit  diesem  parallel  streichende,  thirch  nuerjueher  verbundene  Neben- 
ketten  umschliessen   dieselben. 

Aus  dem  Westen  kommen  zwei  Zullüsse,  welche  sich  nu't  ilcm  Twiber- 
Gletscher  vereinigen,  —  Assmaschi  inid  Sseri-Gletsrher  —  aus  dem  Osten 
strömt  ihm  der  u-rosse  Kitlod  -  Gletscher  zu,  indes  höher  oben  im 
Nordwesten  sich  das  iMrnreservoir  ch's  Dsinal- Gletschers  öffnet.  Diese 
weit  ausLjedehnten,  orossartis^^^en  Firn-  und  Eisreviere  umfassen  eine 
Idächc  von  62  qkm,  und  die  ^rösste  Länge  des  liisstromes,  die  wir 
in  tler  Kichtuni;  iles  Twiber-Passes  durchschreiten  sollten,  betragt  etwa 
I  1  km.  Die  Machenausdehnung  des  Twiber-Glelschers  imd  der  ihn  1)11- 
denden  Eisströme  (Einzugsgebiet  und  Firnrevier)  ist  die  bedeutendste 
an  der  südlichen  Abdachung  des  Kaukasus  und  wird  auch  im  Norden 
nur  vom  Besingi- Gletscher  übertroffen.  hi  den  Alpen  tlin-fte,  abgesehen 
vom  Aletsch-Gletscher,  nur  der  Gorner-Gletscher  den  kaukasischen  Twiber- 
Gletscher  übertreffen. 

An  den  grossen  Gletschern,  welche  die  Abdachung  nach  dem  Ingur- 
Tale  bedecken,  hatte  ich  Gelegenheit,  zu  beobachten,  dass  die  iMrnreservoire 
derselben  zwischen  den  mit  dem  Hauj)lkammc  i^arallel  streichenden,  hohen 
Nebengraten  sich  ausdehnen,  und  erst  der  untere  Abschnitt  des  Gletschers 
und  die  Gletscherzunge  dringt  durch  eine  querschluchtartige  Oeffnung  des 
Gebirges  in  die  Tiefe.  Die  mächtige  Entwicklung  dieser  kaukasischen 
Gletscherwelt  entzog  sich  aus  dieser  Ursache,  verdeckt  von  den  erwähnten 
Parallelkämmen,  so  lange  der  Kenntnis  und  eröffnete  sich  erst  den  in  die- 
selbe Eindringenden. 

Wir  wandten  uns  dem  östlichen  Zweige  der  Firnregion  des  Twiber- 
Gletschers,  dem  Dsinal-Gletscher,  zu.  In  schwarzen  Steilabstürzen  durchbricht 
der  Granit  des  Gebirges  die  Pirnhalden,  in  reinen  Eisspitzen  gipfeln  die 
Kämme.  Von  den  steilen  Böschungen  dieser  Pirnwände,  deren  P'uss  die 
Linie  des  Bergschrundes  durchsetzt,  rauschen  Schneemassen  nieder,  fallen 
Eistrümmer,  von  der  Wärme  des  Tages  gelöst,  donnernd  in  die  Tiefe.  An 
einigen  Felshängen  umgehen  wir  leicht  einen  zerklüfteten  Plisabfall.  Nach 
kurzem  steilen  Anstiege  umfängt  uns  ein  sanft  sich  erhebendes  Firnbecken. 
Die  Firngrenze  wurde  um  11  Uhr  mit  3164  m  (A.  L^.)  gemessen.  Glühend 
l^rannte  die  Sonne  in  dieser  Schnee-Pjnöde,  kein  Lüftchen  regte  sich.  Die 
intensive  Strahlung  des  Schnees  nötigte  schon  längst,  die  Augen  durch 
rauchgraue  Glä.ser,  das  Gesicht  durch  eine  Leinenmaske  zu  schützen.  Knie- 
tief sinken  wir  in   den  jetzt    erweichten   .Schnee.      Wir    sind    tlurch    das  Seil 

—      220     — 


ÜKR  Twiker-Pass. 

verbunden,  und  mir,  als  ersten,  fällt  die  Aufgabe  zu,  nicht  nur  die  Richtung 
zu  wählen,  den  .Sjjalten  auszuweichen,  sondern  auch  die  höchst  ermüdende 
Arbeit,  die  Fusstapfen  in  den  bodenlosen  Schnee  zu  treten,  wird  mir  zu- 
teil.     Schon    ist    die    Passh()he    sichtbar.       Erst    unterhalb    derselben    erheljt 


^ItM^^^'^^^^* 


D  s  i  n  a  1  -  G 1  e  t  s  c  h  e  r. 


sich  das  Terrain  zu  grösserer  Steile.  Ein  kurzer  Anstieg  über  die  fels- 
durchbrochene Eirnwand  bringt  uns  auf  die  in  kristallinischen  Schiefern  ein- 
geschnittene Eücke  des  Twiber-Passes.  Die  Höhe  beträgt  nach  meiner 
Messung  3601  m  (A.  D.).  Sieben  Stumlen  ununterbrochenen  stetigen 
Marsches  hatte  der  x'Xnstieg  gekostet.      Es   ist    12  Uhr   30  Minuten. 

—    221     — 


Aussiciii'  VOM  Rohokku-Grate. 

Der  Ausblick  von  der  Passhühe  ist  engbegrenzt.  Gegen  Norden 
liegt  wenig  unter  uns  ein  kleines  Firnbassin,  von  mächtigen  Firnpyramiden 
umragt,  unter  welchen  die  eisbepanzerten  Steilwände  des  4614  m  hohen 
Tichtengen  die  Bewunderung  herausfordern.  Alles  deckt  die  schneeige 
Hülle;  nur  an  wenigen  Stellen  durchbricht  der  Fels  dieselbe,  hn  Süden 
nähern  sich  die  beidseitigen  Wände  des  Bassins  unterhalb  des  Passes  und 
schliessen  den  Blick  in  dieser  Richtung  ab,  so  dass  die  dort  liegenden  un- 
b(;kannten   Gebiete,   denen   wir  zustreben,   verborgen   bleiben. 


fy' 


Vom   Tuiber-Pasä  gegen   Westen. 


Westlich  von  der  Passhöhe  stieg  ich  noch  an  den  von  P'els  durch- 
brochenen Firnhängen  empor.  Der  Pickel  musste  später  den  Weg  bahnen, 
an  Felstürmen  der  Grat  überklettert  werden.  Doch  das  Gestein  war  fest 
und  sicher,  von  der  Sonne  erwärmt.  Als  ich  dann  eine  sanft  ansteigende 
Schneearrete  erreicht  hatte,  stürmte  ich  atemlos  empor,  bis  ich  die  erste, 
auch  vom  Passe  sichtbare  Zacke  im  Bodorku-Grate  erreicht  hatte.  Ich  hatte 
weder  Höhe  noch  Zeitdauer  meines  Anstieges  notiert.  Nun  war  der  Blick 
freier  geworden,  aber  derselbe  blieb  im  Reiche  des  .Schnees  gebannt,  der 
dem  Aussichtsbilde  den  einzigen  Ton  gab,  und  drang  nicht  hinaus  in  die 
buntfarbige  Welt  der  Tiefe.  Unvermittelt  schoss  aus  dem  Firnbassin  des 
Kulak-Gletschers,    jenseits    der  Passeinsatdung,    die    felsdurchfurchte,    eisige 


TlCHTENGEN. 


Bl.C'TEXI'FLAXZEN    IX    DER    SCHXEEREOION. 

Pyramide  des  Tichtengen  (4614  m)  in  die  Lüfte,  ein  herrliclier  Anblick. 
Ueber  der  F'irnscharte,  welche  ihn  mit  den  jäh  abschiessenden  Hangen  des 
Kulak-Tau  verbindet,  tauchen  mehrere  in  Schnee  gehüllte  Gipfel  auf,  welche 
der  Umrandung  der  Firnreviere  des  Kitlod-Gletschers  und  des  nördlichen 
Zweiges  des  Zanner-Gletschers  angehören.  Noch  immer  war  —  einer  der 
seltensten  Tage   im   kaukasischen   Hochgebirge   —   das   tiefblaue   Firmament 

wolkenlos.  Eine  blendende  Flut  von 
Licht  und  Glut  war  über  die  Schnee- 
landschaft ausgegossen.  Kein  Rei- 
sender war  vor  mir  in  diese  eisigen 
Regionen  gedrungen,  in  diese  gross- 
artig geheimnisvolle  Bergwelt,  deren 
ernste  .Schönheit  ich  nicht  müde  wurde 
zu   bewimdern. 

Eine  Stunde  später  war  ich  wieder 
bei  den  andern  auf  der  Passeinsatt- 
lung. Trotz  der  Ijedeutenden  Höhe 
nisteten  an  den  Felsen  der  Sonnen- 
seite kleine  Blütenpflanzen:  bläuliche 
Alsinen,  Draben,  Saxifragen,  und  in 
der  Sammlung,  die  IVof.  Lojka  er- 
beutete, wurde  eine  neue  reizende 
Veronica  glareosa  S.  et  L.  nov.  sp. 
entdeckt.''') 

Wir  stiegen  abwärts.  Auch  jetzt 
war  es  der  Reiz  des  Unbekannten, 
der  mächtig  auf  mich  wirkte.  Keine 
Karte,  keine  Mitteilung  Hess  ahnen, 
was  da  kommen  sollte.  Aus  dem 
Firnkessel,  in  den  wir  abgestiegen 
waren,  führte  ein  enger  Durchpass 
auf  einen  mächtigen,  zu  Tal  ziehenden 
Gletscher,  der  hier  plötzlich,  stark  zerklüftet,  abfällt.  Die  Firngrenze 
wurde  um  3  Uhr  mit  2921   m  (A.  D.)  gemessen.      Den  Cjletscher,   für  welchen 


Veronica  glareosa,  Somm.   et  Lcv.  nov.   sp. 


*)  Gesammelt  wurden :  Alopecurus  vaginatus  ( Willd.)  Fall.  var.  unipalcaceus  Boiss.,  Alsine 
imbricata  MB.,  Aquilegia  Olympica  Boiss.,  Chamaemelum  caucasicuni  Willd.,  Crocus  Scharojani 
Rupr.  var.  ochroleucus  S.  et  L.,  Draba  imbricata  Cam.,  Saxifraga  cymbalaria  L.,  Veronica  glareosa 
S.  et  L.  nov.  sp. 


—      223      — 


Der  Kui,Aiv-Gi.KTst:uKR  i^nd  die  Quellen  des  Kara-Ssu. 

ich  keinen  Namen  von  den  Bergbewohnern  erfahren  konnte,  nannte 
ich  damals  nacli  ilem  Tale,  in  welches  er  dringt,  Tschegem- Glet- 
scher. SeittUnn  wurde  er  als  Kulak-Gletscher  in  die  Karte  ein- 
geführt. 

Wir  umgingen  tlas  Spaltengewirre  des  Gletschers  an  der  .Seiten- 
moräne und  folgten  dann  dem  gut  gangbaren  Felsgehilnge,  bis  wir  den 
Gletscher  wieder  betreten  mussten,  um  dann  die  Wanderung  über  denselben 
fast  l)is   an   sein   binde   fortzusetzen.      Die   Richtung,    die   wir  einhielten,   war 


Das  T.il   des    Kara-Ssu. 


eine  östliche,  und  langsam  wurde  der  prächtige  Hintergrund  tles  Gletschers 
durch  vorspringende   Seitenwände   verdeckt. 

Nahe  vom  busse  des  Gletschers  beginnen  die  Uferränder  sich  schon 
mit  Grün  zu  bedecken,  und  aus  der  Eislnicht  fällt  der  Hlick  hinaus  auf  die 
Wiesen  und  Matten  der  Talsohle  des  Kara-Ssu  und  auf  den  Wald,  der 
ein  breites,  dunkelgrünes  Band  um  das  Talgehänge  schlingt.  Mit  dem 
Verlassen  des  Gletschers,  der  in  einer  Höhe  von  2296  m  (A.  D.)  endet, 
treten   wir  auf  weichen  Rasenboden.     Wie   es  sich   da  wohlig  wandert! 

Im  Schatten  einiger  jjrächtiger  Tannen,  auf  schwellendem  Kasen- 
polster,   am   Rande   einer  köstlichen   Quelle   eisensauren  Wassers,   lagern  wir. 


Lager  im  obersten  Kakassu-Tale. 

(2186  m  A.  D.)  Ein  herrlicher  l\inkt!  Die  Kraft  des  Zaubers,  mit  welcher 
derselbe  auf  mich  wirkt,  liegt  vielleicht  im  Gegensatze  zwischen  den  Land- 
schaften, welche  rasch  und  nahezu  unvermittelt  aufeinander  gefolgt  waren, 
zwischen  der  winterlichen  Natur  der  Eisregion  und  dem  Waldesgrün,  dem 
blumengeschmückten  Gehänge  des  Tales.  Und  beide  Landschaftsformen 
wirken  mit  der  ihnen  eigentümlichen  Schönheit,  diese  mit  den  Eindrücken 
des  Ruhigen,  Zarten,  Lieblichen,  jene  durch  das  Grossartige,  Heroische, 
Furchtbare   ihrer  Natur. 


Kindschale,  Kaukasische  Dolch m esse r. 


Der  Kulak-Gletscher. 


XVII.  KAPITEL. 


Das  Quellgebiet  desTschegem-Tales,  in  die  Firnregion 
des  Besingi-Gletsehers  und  nach  Transkaukasien. 

Und   alle   deine   hohen   Werke 
Sind   herrlich   wie   ;im   ersten  Tai;". 
Goethe:  Faust. 

Der  Abstieg  vom  Twiber-Pass  nach  Norden  in  das  süddöstliche 
Qiiellgebiet  des  Tschegem  hatte  uns  durch  eine  weit  ausgedehnte  Firn-  und 
Gletscherregion  geführt.  Nichts  hatte  einen  so  reichen  Gletscherhintergrund 
des  Tschegem-Tales  vermuten  lassen,  weder  Karte,  noch  Mitteilungen,  noch 
der  Ausblick,  welchen  man  vom  höchsten  bewohnten  Orte  des  Tales,  vom 
Aul  Tschegem,   in   der  Richtung  des  Talschlusses  hat. 

Auch  der  31.  August  brach  in  strahlender  Klarheit  an,  und  schon 
in  aller  h'rühe  stieg  ich  pfadlos  an  den  linksseitigen  Wänden  des  Tales 
empor.  Als  ich  nach  etwa  anderthalbstündigem  Anstieg  eine  Grathöhe 
erklommen  hatte,  eröffnete  sich  wieder  ein  Einblick  in  ungeahnte  Land- 
schaften.     Da   lag    der    grosse    Gletscher   vor   uns,    den   wir   gestern    über- 


226 


Die  Gletschkr  im  obersten  Tsciiegem-Tai.e. 

schritten  hatten.  Dem  weiten  Gletschertore  entsprins^^t  der  Kara-Ssu,  der 
ösdiche  Ouellfluss  des  Tschegembaches.  Vorspringende  Bergwände  ver- 
hindern das  Auge,  den  gekrümmten  Lauf  desselben  bis  in  die  Firnregion 
zu  verfoJo-en.  hn  Hintergrunde  baut  sich  in  entsetzlicher  Steile  die  breite, 
von  einer  Felsspitze  gekrönte  Gestalt  des  Tichtengen  auf;  an  der  Fassade 
tritt  das  granitische  Gestein  hervor,  indes  zur  Rechten  und  zur  Linken  die 
Firnhänge  und  Schneiden  in  tadelloser  Reinheit  und  Weisse  emporziehen. 
Gerade  unserm  Standpunkte  gegenüber,  im  Osten,  hat  sich  ein 
weites  Gletscher-Tal  eröffnet.  Eine  schnee-  und  firnbelastete,  mauerartige 
Kette  zieht  in  der  Höhe   desselben,  die    prächtigsten  Gipfelformen    bildend. 


Tjutjurgu-  und  Schaurtu-Gletscher. 


Fast  bis  in  die  grünende  Talsohle  dringt  dort  ein  mächtiger  Gletscher- 
strom, von  weiten  Firnmulden  genährt.  Schaurtu-Gletscher  ist  er  getauft 
worden,  die  Bergkette,  an  der  er  seinen  Ursprung  nimmt,  die  Saluinan- 
kette.  (Salulnan-Tau  4318  m.)  Von  ihrer  nördlichen  Fortsetzung  kommt 
ein  zweiter,  aus  mehreren  Zuflüssen  zusammengesetzter  Gletscher  herab,  für 
welchen  der  Name  Tjutjurgu-Gletscher  gefunden  wurde.  Er  ist  kleiner  als 
der  Schaurtu-Gletscher,  sein  Firnreservoir  ist  beschränkter,  sein  Lauf  ein 
kürzerer.  Ein  vom  Hauptgrate  niederziehendes  Kontrefort  streicht  zwischen 
beiden  Gletschern.  Der  Schaurtu-Gletscher  fliesst  an  dem  kapartigen  Ende 
dieses  Kontrefort  vorbei,  indes  der  Tjutjurgu-Gletscher  schon  höher  oben 
endet    und    sein    Schmelzwasser    unten    mit    dem    Schaurtubache     vereinigt. 


DlK    Gl.KTSCHER    IM    DBERSTEN    TsCIIECF.M-TALE. 

Das  gletschertrennende  Kap  ist  bis  hoch  hinauf  abgerundet,  von  der  Zeit 
her,  da  beide  Gletscher  viel  höher  an  seinen  Wänden  emporreichten  und 
auch  ihre  Eismassen  vereint  abwärts  zogen.  Besonders  schön  wirkt  der 
Tjutjurgu-Gletscher  und  die  ihn  überragenden  Gipfel  von  einem  tieferen, 
seidichen  Standpunkte  gesehen.  Hier  tritt  seine  Ei.sbucht  allein  in  das 
Gesichtsfeld,  über  einem  packenden  Vordergrunde  emporziehend,  in  welchem 
einzelne,  herrliche  Baumgruppen,  meist  breitästige  Kiefern,  sowie  riesige 
Felsblöcke  auf  saftiggrüner  Matte  eine  eigentümlich  pittoreske  Staffage  ab- 
geben, während  mit  Niederwald  und  dichtem,  rödich  und  gelblich  schimmern- 


D  e  r  S  c  h  a  u  r  t  u  -  G 1  e  t  s  c  h  e  r    und  seine  U  m  r  a  n  d  un  _i^ 
von   der  Talsohle  des   Kara-Ssu. 


dem  Gesträuch  bestandene  Bergwände  den  Rahmen  dieses  Gletscherbildes 
bilden.*)  Dann  wieder  erschliesst  sich  aus  der  Talsohle,  dort,  wo  der  Schaurtu- 
Ssu  in  dieselbe  tritt,  eine  Ansicht  des  Schaurtu- Gletschers,  die  sich  auf 
sein   breit  geöffnetes  Tal   und   dessen   Hintergrund   beschränkt. 

Die  Gletscherbilder  im  obersten  Tschegem- Tale  wirken  durch  den 
Formenreichtum  der  eisigen  Höhen,  durch  die  Firnmassen,  welche  über 
die  klippigen  Steilhänge  bald  als  sanft  gewellte  Decke,  bald  zerklüftet  nieder- 
fluten, und  durch  die  herrlichen  Kontraste,  welche  die  über  die  farben- 
reichen Vorlagen  der  Matten  und  Wälder  sich    aufbauende  Eiswelt   hervor- 


*)  Siehe  Abbildung   »das  Tal  des  Kara-Ssu<',  Seite  224.     .-Vuf    den  Matten  unterhalb  der 
bestrauchten  Bergwand  hatten   wir  unser  Lager  aufgeschlagen. 


P^iNFriRMiGE  Landschaft  tm  mittleren  Tschegem-Tai.e. 

zaubert.  Täler  und  Gletscher  waren  unj^rekannt  geblieben,  und  mit  leiden- 
schaftlichem Interesse  lag  ich  den  photographischen  Arbeiten  ob,  welche 
zum  ersten  Male  Kunde  von  dieser  herrlichen  Bergwelt  bringen  sollten. 
Das  Unmöglichscheinende  ereignet  sich  wieder.  Nach  den  be- 
rückend schönen  Szenerien  des  gletscherreichen  Talschlusses  folgen  auch 
hier,  wie  in  allen  nördlichen  Ouertälern  des  zentralen  Kaukasus,  die  steinigen, 
vegetationslosen,  tiefer  unten  zwischen  monotonen  Bergwänden  eingeengten 
Talstufen. 

Nahe  der  Vereinigung  des  Kara-Ssu  mit  dem  vom  Baschil-Ssu  durch- 
strömten westlichen  Zweige  des  Tschegem- Tales  befindet  sich  eine  Hütte, 
mit  deren  Bewohnern  unsere  swanetischen  Träger  einen  regen  Gedanken- 
austausch beginnen.  Als  Ergebnis  desselben  erscheinen  bald  darauf  zwei 
Esel,  auf  welche  das  Gepäck  geladen  werden  soll,  indes  zwei  der  Hütten- 
bewohner als  Träger  der  Apparate  und  des  Restes  des  Gepäcks,  welches 
man  den  schwer  bepackten  Eseln  nicht  mehr  aufladen  konnte,  vorgestellt 
werden.  Die  Swanen  wollten  noch  am  Abend  das  Lager  am  Fusse  des 
Gletschers  erreichen,  um  am  nächsten  Tage  über  die  Firnhöhen  in  ihr 
schönes  Alpen-Tal  znrückzukehren.  -So  schwierig  es  ist,  diese  Swanen  von 
den  mageren  Fleischtöpfen  ihrer  Dörfer  zum  Aufbruche  zu  bewegen,  dem 
noch  unmittelbar  die  lärmendsten  Szenen  und  Streitigkeiten  voranzugehen 
])flegen,  so  sind  sie,  einmal  auf  dem  Wege,  meist  ausdauernde  und  ihren 
X'erpflichtungen  unverdrossen  nachkommende  Begleiter.  Im  allgemeinen  ist 
der  Swane  —  vielleicht  durch  die  schweren  Lebensbedingungen  seiner  F!.xi- 
stenz  —  wortkarger  als  der  mohammedanische  Bergbewohner  auf  der  Nord- 
seite des  Gebirges,  bei  dem  wieder  vieles  auf  Rechnung  einer  orientalisch 
veranlagten  Natur  zu  stellen  ist.  Auch  diesmal  schieden  wir  in  bester  Freund- 
schaft, und  jeder  der  Leute,  als  er  uns  die  Hand  reichte,  wu.sste  einige  Worte 
guter  Wünsche  zu  sagen. 

Ein  Marsch  von  sechs  bis  sieben  Stunden  bringt  nach  Tschegem  (1387  m). 
Man  erinnerte  sich  meiner  vom  vorigen  Jahre,  und  ich  wurde  freundlich  be- 
grüsst.  Knjas  Beg  Mursa  Malkaruko  führte  uns  in  sein  Haus,  wo  eine  ge- 
dielte Stube  uns  überwiesen  wurde,  ich  glaube,  eine  andere,  als  die  im 
Vorjahre,   unseligen  zoologischen  Angedenkens. 

Der  Tag  war  im  Tale  heiss,  unser  Proviant  war  auf  ein  sehr  be- 
scheidenes Mass  reduziert  gewesen,  und  wir  hatten  vor  allem  ein  ziemlich 
bedeutendes  Bedürfnis  nach  Nahrung  in  geniessbarer  Form  und  dann  nach 
Ruhe  und  Schlaf.  Leider  konnte  uns  beides  lange  nicht  zu  Teil  werden. 
Es   wiederholte  sich  die  alte   Geschichte :    von    den   Bergweiden     musste    ein 

—     229     — 


Kaukasischk  Gastfreundschaft. 

Schaf  herab_t:feholt,  dasselbe  geschlachtet,  ausgeweidet  und  gekocht  werden. 
Das  ist  eine  Prozedur,  die  auch  im  zivilisierten  Europa  eine  gewisse  Zeit 
erfordert,  die  aber  im  Kaukasus,  wie  ich  glaube,  durch  die  endlosen  Ge- 
spräche der  Bergbewohner,  die  sich  an  ein  solches  Ereignis  notwendiger- 
weise knüpfen  müssen,  noch  verlängert  wird.  Dabei  ist  man  Gast,  kann 
also  im  Drängen,  die  Einladung  zum  Souper  rascher  herbeizuführen,  eine 
gewisse  Grenze  doch  nicht  überschreiten.  Etwas  anderes  Essbares  aber 
ist  in  solchen  Eällen  trotz  der  energischsten  Nachforschungen  nicht  auf- 
zutreiben. So  sitzt  —  wenn  solche  Möbel  vorhanden  sind  —  oder  liegt 
auf  den  Bettgestelien  der  ermüdete,  erschöpfte,  hungrige  Wanderer,  in  Stunden 


Vom  Tschege m-Besingi-Sattel. 


währendem  Harren.  Während  dieser  Zeit  kommen  und  verschwinden  ge- 
schäftig tuende  Gestalten.  Einige  treten  in  die  Stube,  stellen  sich  in  eine 
Ecke,  wo  sie  meist  lange  Zeit  wortlos  verharren.  Der  Hausherr,  mit  dem  an- 
fangs, soweit  es  möglich  ist,  eine  lebhafte  Konversation  geführt  wurde,  wird 
mit  seinen  Besuchen  immer  seltener,  wahrscheinlich  um  unseren  vorwurfs- 
vollen Blicken  au.szuweichen,  bis  dann  triumphierend  der  erste  Stab  Schasch- 
lick  hereingebracht  wird.  Der  hungrige  Wanderer  vergisst  einen  Augenblick 
Aerger  und  Müdigkeit,  und  aus  seiner  Schlaftrunkenheit  sich  aufraffend,  wird 
um  1  I  Uhr  nachts  dem  seit  7  Uhr  abends  sehnlichst  erwarteten  Mahle  zu- 
gesprochen. 

Am  I.  September  ritten  wir   über  den  mir  schon  vom  vorhergehenden 
Jahre   bekannten   Sattel    nach   Besingi.      Das   Wetter    war    diesmal    gut,    und 


In  die  Firnregion  des  Hesingi-Glktsciikk.s. 


nachdem  wir  im  Galojjp  über  die  flache 
Kammliühe  bis  an  ihren  Rand  gesprengt 
waren,  eröffnete  sich  plötzlich  im  Durchblick 
zwischen  basaltähnlichen  F"elsbastionen,  die  dem 
begrünten  Bergrücken  entragen,  eine  Aussicht 
auf  die  Kette  zwischen  Dych-Tau  undKoschtan- 
Tau,  wie  das  Bild  ferner,  andern  Zonen,  andern 
Höhenstufen  angehörender  Welten,  die  man 
durch  das  Glas  eines  Stereoskopes  erblickt. 
Auf  den  Alpenwiesen,  im  Abstieg  nach 
Besingi,  wurde  unter  den  gesammelten 
Blütenpflanzen  eine  neue  Art,  Calamintha 
caucasica  S.  et  L.  n.  sp.,  entdeckt. 

In  Besingi  empfing  uns  die  Hünen- 
gestalt des  schweigsamen  und  würdevollen 
Fürsten,  und  als  Nachtquartier  diente  wieder 
die   feuchte  Lehmhütte. 

Noch  einen  Ausflug  machte  ich  in  die 
Firnregion  des  Besingi-Gletschers,  eine  Wall- 
fahrt zu  dem  Allerheiligsten,  das  die  Hoch- 
gebirgswelt  des  Kaukasus  erschliesst.  An 
der  linken  Seite  des  Gletschers,  auf  einer 
ebenen  Fläche,  die,  etwas  begrünt,  von  ferne 
wie  eine  Oase  in  der  starren  Welt  von  Fels 
und  Eis  erschien,  schlugen  wir  das  Lager 
auf.  Ich  stieg  am  ersten  Tage  mit  zwei  der  Eingeborenen  von  Besingi,  von 
welchen  der  eine,  Kutscha,  ein  grosser  Steinbockjäger  sein  sollte,  an  den 
Hängen  der  Saluinankette  empor.  Immer  tiefer  sank  der  grosse  Gletscher 
in  seiner  Felsenkluse.  Ueber  den  ihn  einschliessenden  Bergwänden  im  Osten  er- 
schien eine  Reihe  von  Firngipfeln  in  den  kühnsten  Formen.  Im  Süden  war  alles 
in  Wolken  gehüllt,  und  düstere  Nebel,  von  gelblichem  Lichte  durchglüht, 
umschwebten  auch  die  Berge  im  Osten,  unter  welchen  ich  die  Gipfel 
erkannte,  die  ich  im  V^orjahre  in  der  Firnregion  des  Midschirgi-Gletschers 
zuerst  erblickt  hatte.  Eine  herrliche  Firnpyramide,  mit  weithin  flatternder 
Nebelfahne,  überragte  alle  andern  Berge.  Erst  später  wusste  ich,  dass 
es  Dych-Tau  war,  nach  Elbruss  der  höchste  Berg  des  Kaukasus,  den  wir 
unter  dem  Namen  Koschtan  -Tau  damals  im  östlichen  Firngebiete  des 
Besingi-Gletschers  suchten. 


Calamintha  caucasica 
S.  et  L.  nov.  sp. 


—      231 


Allein  in  der  Eiswelt  des  BeslnciGletschers. 

Im  Nebeltreiben  kamen  wir  wieder  zum  Lager,  wo  uns  mein  Reise- 
gefährte mit  köstlicher  warmer  Suppe  erwartete.  Am  Abende  wurde  es 
klar.  Rasch  sank  die  Nacht  hernieder.  Tiefe  Ruhe  rings  umher.  Nirgends 
ein    Mensch.      Wir    sind    die    einzigen    in  dieser  grossen   Bergwildnis.      Die 


Dych-Taii. 


Hirten  mit  ihren  Herden,  die  im  Sommer  die  noch  stellenweise  begrünten 
Hänge  an  der  Seite  des  Besingi-Gletschers  aufsuchen,  sind  längst  in  ihre 
Dörfer  oder  an  tiefer  gelegene  Plätze  gezogen.  Nur  das  Getöse  fallender 
Gletschertriimmer  unterbricht  die  tiefe  Stille.  Am  schwarzen  Firmament 
glänzen  die  Sterne.  Im  Zelte  machte  sich  schon  die  Kälte  der  September- 
nächte  fühlbar,   und   mein   Reisegefährte   litt  sehr  unter  derselben. 


Empor  in  ihk  Reciox  ewigex  Eises. 

Als  ich  am  folgenden  Morgen,  noch  im  Dämmerlichte,  das  Lager 
verliess,  deckten  Nebel  das  weite  Eisfeld  und  seine  Umrahmung.  Höher 
oben,  wo  wir  den  Gletscher  betraten,  hoben  sich  dieselben,  entflatterten 
langsam,  die  Bergwände  zu  beiden  Seiten  traten  zurück,  und  ein  Teilstück 
des  eisigen  Hintergrundes  vom  Katuin-Tau  bis  zur  Gestola  erschien  in  der 
klaren  Atmosphäre  des  Herbstmorgens  wie  eine  Mauer  aus  funkelnden 
Kristallen  aufgebaut. 


Katuin-Tau   und  (iestola. 


hl  sanfter  Steigung  wanderten  wir,  uns  dem  jenseitigen  Ufer  nähernd, 
lange  über  den  mächtigen  Gletscherstrom,  bis  zur  X^ereinigung  seiner  vom 
Westen  und  Osten  kommenden  Zuflüsse.  Aus  einer  weit  hinaufziehenden 
Firnbucht  senkt  sich  der  östliche  Gletscherarm  und  windet  sich  um  ein 
felsiges  Vorgebirge.  Am  Fusse  desselben  führte  unser  Weg,  endlos  und 
ermüdend,  über  hohe  Moränenrücken  und  geröllbedecktes  Gehänge.  Ich 
war  froh,  endlich  durch  eine  von  altem  Lawinenschnee  erfüllte  Rinne  zu 
steilen  Felsflühen  zu  gelangen,  an  welchen  jetzt  der  Steinbockjäger,  der 
hier,     in    dem,    wie   es  schien,     ihm  bekannten   Gebiete,    die  Führung  über- 


Der  EiswAi.i.  \-()N  dkr  Gestoi.a  bis  zur  Schchara. 


nommen   hatte,   in   seinen   mit  Heu   ausgestopften    Ledersandalen   mit  ausser- 
ordentlicher Behendigkeit  und  Sicherheit  emporkletterte. 

Von  einer  kleinen,  plateauartigen  Stufe  der  Felswände  umfasst  das 
Auge  den  Bergwall,  der  in  einer  ungebrochenen  Linie  die  obersten  Firne 
des  Besingi-Gletschers  umspannt.  Von  einer  Lücke  in  der  westlichen  Ecke, 
dem  Zanner-Pass,  den  ich  mit  F>eshfie!d,  als  die  ersten,  in  einem  andern 
Jahre  überschreiten  sollte,  bis  zu  den  Firnwällen  im  Osten,  die  jenseits  in 
das  Eisgebiet  des  Dychssu-Gletschers  fallen,  türmt  sich  der  gigantische  Bau 
in  einer  Länge  von  20  km  auf.  Es  ist  keine  Reihe  von  hoch  aufstrebenden, 
isolierten  Gipfelgestalten,  die  demselben  entragen;  nur  wenig  gebrochen 
schneidet  die  eisige  Kammhöhe  in  den  blauen  Himmel,  wo  schon  zu  früher 
Stunde  aus  dem  Süden  aufsteigende  Wolken  sich  zusammenziehen.  An  der 
jäh  abstürzenden  Flucht  dieser  Riesenmauern  durchbricht  nur  selten  dunkler 
Fels  den  Eispanzer:  Schneekatarakte  fluten  an  den  Wänden  nieder,  und 
blaugrün  schillern  die  Firnbrüche  im  flimmernden  Sonnenlichte.  Mit  der 
Erhabenheit  ihrer  Grosse  vereinigte  sich  eine  ausserordentliche  Zartheit  in 
der  Linienführung  dieser  Bergformen  und  in  den  Farbentönen,  in  welche 
sie  gehüllt  waren.  In  seiner  ganzen  Glorie  stand  der  Kaukasus  hier  vor 
mir,  und  nur  die  Eisregion  des  Himalaja,  kein  Bild  aus  den  Alpen,  kann 
sich  mit  ihm  messen,  ihn  übertreft'en.  Der  Anblick  des  Eiswalles  von  der 
Pyramide  der  Gestola,  mit  der  sattelförmigen  Eiskuppe  des  Katuin  -Tau, 
den  abstürzenden  Firnklippen  der  Dschanga  bis  zur  Riesengestalt  der 
Schchara,  sich  über  eine  weltentrückte,  frostige  Bergwildnis  erhebend,  die 
wenige  Sterbliche  erschaut  hatten,  war  von  unbeschreiblicher  Grossartigkeit 
und  machte  einen  unauslöschlichen  Eindruck.  Es  war  für  dieses  Jahr  der 
überwältigend  schöne 
Abschluss  meiner  Rei- 
se im  Kaukasus.  Fa.st 
jeder  Schritt  auf  der- 
selben hatte  Neues  ge- 
bracht, jede  photogra- 
phische Aufnahme  das 
Bild  meist  unbekann- 
ter, ungesehener  Hoch- 
gebirgs-  und  Gletscher- 
landschaften. 

hii  Aul  nahmen  wir 
Abschied  vom  Fürsten  Besingi-Schlucht. 


234 


Katyn-Tau 


ÜLETSCHERS. 


DUKCIl    DTK    VOKllEKdE    NACH    NaI/ISCIIIK. 

von  Besingi  und  zogen  hinaus  durch  das  Tal.  Die  Schhiclit,  durch  welclie 
der  Besingi -Tscherek  die  Jurakette  durchbricht,  wird  auf  einem  in  Zickzacks 
an  der  linken  Wand  in  den  Felsen  gesprengten  Saumweg  durchschritten. 
Von  seiner  Höhe  erscheint  über  der  weit  hinauf  ziehenden  Tallandschaft 
ein  Segment  der  eisigen  Kette  im  Hintergrunde  Besingis,  und  zu  F"üssen 
liegt  die  Schlucht,  in  welcher  der  Bach  zwischen  weissen  Kalkfelsen  und 
grünem    Buschwerk  schäumt. 

Jenseits  des  Defile  tritt  man  in  eine  grüne  Voralpenlandschaft,  ein 
coupiertes  Terrain,  in  welchem  man  längs  des  Baches  und  über  wellen- 
förmige Rücken  zieht,  bis  man  in  einen  Urwald  gelangt.  Es  sind  diese 
Vorberge  —  die  schwarzen  Berge  - —  aus  jüngsten  .Sedimenten  bestehende, 
den  Hochofebiresketten  voro^elawerte  Falten,  deren  dunkle  Waldung  diese 
Bezeichnung  rechtfertigt.  Den  Bestand  des  Waldes  bilden  vorherrschend 
Bergahorn  (Acer  Trautvetteri)  und  Buchen  (Fagus  orientalis),  in  welche  sich  dann 
noch  Ulmen  und  Ellern  mischen.  Tiefer  Schatten.  Bald  reitet  man  durch 
das  trockene  Bett  eines  Waldbaches,  bald  muss  man  durch  dichtes  Geäste 
der  Bäume  sich  durchwinden.  Man  muss  immer  acht  haben,  um  nicht  an 
irgend  einen  Baumzweig  zu  stossen,  und  sich  zur  Zeit  niederducken,  um  — 
was  noch  die  kleinere  Unbill  wäre  —  den  Hut  nicht  zu  verlieren.  Dabei 
ist  es  nicht  leicht,  die  Pferde  im  letzten  Augenblick  so  zu  dirigieren,  um 
einen  Anprall  zu  vermeiden.  Die  Pferde  stolpern  leicht  über  die  weit- 
ausgreifenden Baumwurzeln  und  Stein  blocke,  denen  man  zwischen  den  engen 
Baumreihen  oft  nur  schwer  ausweichen  kann.  Stellenweise  herrscht  boden- 
loser Kot,  was  bei  steiler  Neigung  des  Bodens,  insbesondere  im  Abstiege, 
ein  sicheres  Pferd  und  einen  guten  Reiter  erfordert.  Es  wurde  später  Abend,  bis 
wir  den  Wald  verliessen.*)  W'ir  übersetzten  den  Fluss  und  hielten  die 
Richtung  auf  eine  grüne,  niedrige  Hügelkette  ein.  \n  der  Nähe  einer,  zeit- 
weiligen Aufenthalten  der  Hirten  dienenden  Strohhütte,  schlugen  wir  das 
Zelt  auf      Wir  bekamen   Milch. 

Mit  Tagesanbruch  waren  wir  auf  dem  Wege.  Ein  Nebeldunst  lagerte 
über  der  Gegend.  Wir  hatten  das  Hochgebirge  mit  der  belebenden  Alpen- 
luft hinter  uns.  Später  am  Vormittage  wird  es  dann  drückend  heiss;  eine 
Sirokkoluft    weht,     und    durch    die    Dunsthülle    stechen    die    Sonnenstrahlen. 

Gegen  Mittag  waren  wir  in  Naltschik.  Eine  höchst  ermüdende  Arbeit 
wartete  meiner  mit  dem  Einpacken  der  Reiseausrüstung  und  der  Samm- 
lungen,  die  riesig  angewachsen  waren. 


*)   Im  Walde  entdeckte  Prof.  Lojka,  ein  unermüdlicher  Sammler  während  der  ganzen  Reise, 
eine  neue  Cryptogamenart,  welche  als  Lecanora  Loczyi  Wain.  n.  sp.  bestimmt  wurde. 


Das  Dariki.Dkkii.k  a\  der  crlsimschen  Heerstrasse. 


Mit  drei  Teleoen  fuhren  wir  dann  durch  die  Steppe,  diesmal  nicht 
vom  Staube  belästigt,  sondern  strömendem  Regen  preisgegeben.  Die 
grösste  Sorge  niusste  dem  Reisegepäck  —  den  Sammlungen  —  zugewendet 
werden,   damit  sie   keinen  Schaden  erlitten. 

Dagegen  reisten  wir  bei  fjrachtvollem  Herbstwetter  über  die  grusinische 
Heerstrasse  und  konnten  den  noch  mittags  ganz  nebelfreien,  herrlichen 
Schneedom  des  Kasbek  bewundern.    Dieser  Anblick  und  das  Dariel-Defile  — 

die  wilde  Durchbruchschlucht  des 
Terek  —  sind  die  Glanzpunkte 
der  Szenerien,  welchen  man  aut 
diesem  Wege   begegnet. 

Von  Wladikawkas  folgt  man 
tlem  Terek  durch  das  sich  ver- 
engende, stellenweise  reich  be- 
waldete Tal,  in  welchem  der 
Fluss  die  einander  folgenden  geo- 
logischen Formationen  durch- 
schneidet, bis  die  Massen  des 
Urgebirges  sich  zusammen- 
schliessen  und  die  Strasse  in 
das  Dariel-Defile  eintritt.  .Auf 
einer  Strecke  von  nahezu  i  3  km 
führt  sie  in  kühner, bewunderungs- 
werter Anlage  durch  eine  Reihe 
der  wildesten  Engen.  Die  i  500 
bis  2000  m  hohen  Gneiswände 
mit  ihren  Steilabstürzen  und  den 
phantastischen  P'ormen  des  Ge- 
steins lassen  oft  nur  Raum  für 
den  in  der  Tiefe  brausenden  Bergstrom,  indes  die  Strasse,  in  den  F"elsen 
gesprengt,  sich  emporwindet,  durch  Tunnels  und  Galerien,  über  Viadukte 
geführt  ist.  .Szenen  vcmi  düsterer  Grossartigkeit  folgen  einander  in  dieser 
Felswildnis.  Wenn  man,  wie  ich  in  späteren  Jahren  einmal,  nach  Regen- 
güssen und  Gewitterstürmen,  bei  bewölktem  Himmel  durch  diese  Schluchten 
wandert,  wenn  von  allen  Seiten  aus  den  kurzen  Spaltentälern  und  über  das 
Felsgeschröff  der  Talwände  die  Wasser  zum  Terek  stürzen,  wenn  der  hoch 
angeschwollene  Fluss  in  seinen  Klüften  tost  und  die  Felstrümmer  in  seinem 
Bette  donnernd    ilurcheinander    schlägt,     kein     Lichtstrahl    das    unheimliche 


Das   Dariel-DefiU 


Das  Dakikl-Defile  war  keine  Strasse  für  V()Lkerwa\deriin(;en. 


Dunkel,  das  in  den  Klammen  herrscht,  erhellt  —  dann  erst  wird  man  die 
erschütternde   Grossartigkeit  der   Darielschluchten   kennen   lernen. 

An  einer  Stelle,  wo  die  Engen  auf  einen  kurzen  Talkessel  sich 
öHhen,  sind  auf  hohem  Felsbollwerke  die  Ruinen  einer  Burg  sichtbar,  welche 
nach  der  georgischen   Legende  die   Königin   Tamara  erbaut  haben   soll. 

Es  musste  leicht  sein,  das  DarielDefile  gegen  Invasionen  nordischer 
Barbaren  zu  befestigen  und  zu  verteidigen,  wie  dies  von  den  Beherrschern 
der  kaukasischen  Länder  und  auch  von  den  anwohnenden  Bergstämmen 
zu  lokalen  Verteidigungszwecken  geschehen  ist.  Jedem  aber,  der  durch 
diese  Engpässe  ge- 
zogen ist,  wird  sich 
die  Ueberzeugung 
aufdrängen,  dass 
durch  sie  kein  Weg 
für  Wanderungen 
und  Einbrüche  von 

Völkern  führen 
konnte  und  dieser, 
wie  in  der  Einlei- 
tung betont  wurde, 
nach  dem  Osten 
des  kaukasischen 
Isthmus ,  in  die 
Nähe  des  Kaspi- 
schen  Meeres  ver- 
legt werden   muss, 

dass  dort  die  Porta  Caucasica,  die  Pylae  Caspiae  der  Völkerwanderungen 
lao-en.  Allerdings  herrscht  eine  grosse  Unsicherheit  in  den  Berichten  der 
alten  klassischen,  byzantinischen  und  arabischen  Schriftsteller,  die  Orte  be- 
treffend, auf  welche  sich  ihre  Bezeichnung  Porta  Caucasica  bezieht.  Einigen 
derselben  waren  die  Engpässe  des  Terek  ohne  Zweifel  bekannt,  aber  für 
Verkehrsstrassen   für  Völkerzüge   können  sie   nicht  gehalten   werden. 

Ueberraschend,  mit  der  vollen  Grösse  einer  mächtigen  Hochgebirgs- 
natur,  wirkt  dann  nach  dem  Verlassen  der  Darielschluchten,  wenn  die  Strasse 
um  eine  Felsenecke  biegt,  der  Anblick  des  weiten  Talkessels  von  Stepan- 
zminda,  in  welchem  plötzlich  in  einer  Oeffnung  der  westlichen  Talwandung, 
unvermittelt  und  isoliert,  seine  Umgebung  hoch  überragend,  das  schnee- 
bedeckte  Vulkanhaupt  des   Kasbek  erscheint. 


Tamara-Burg  in  der  Durchbruchsschlucht  des  Terek. 


Am  Kasbek  vorbei  zur  Passhöhe  der  Krestowaja  Gora. 


Kasbek  von  der  grusinischen   Heerstrasse. 


Im  baumlosen,  rauhen  Gebirgstale  steigt  nun  die  Strasse  zur  Pass- 
höhe. Die  Landschaft  erinnert  an  die  weiter  westlich  am  Xordabhang  der 
Hauptkette  gelegenen  Ouertäler.  Nur  selten  triftt  man  ossetische  Hütten- 
gruppen, die  sich  um  alte,  halbzerfallene  Wachttürme  scharen,  und  über 
den  Lücken  der  Bergwände  im  Nordosten  erscheint  der  von  hier  gesehen 
doppelgipflige  Kasbek    oder    die   Gipfel   im   südlichen  Teile   der  Gruppe.  — 

Von  den  einförmi- 
gen     Hochflächen 

der  Krestowaja 
Gora,"')  welche  die 
.Strasse  im  2379  m 
hohen      Krestowoi 

Periwar'*)  über- 
schreitet, führt  sie 
mit  herrlichen  Nie- 
derblicken in  das 
Tal  der  Aragwa 
(Aragon     Strabo.s). 


Das  Tal  der  .\ragwa. 


•'■)    Russische     Bezeich- 
nung für  Kreuzberg. 
**)  Russisch=Kreuzpass. 


An-'    DER    SÜnSEITK    I1F.R    GRrSINISCHEX    HEERSTRASKE. 

Die  Farben  der  Landschaft  auf  Berg  und  Tal  sind  reicher  geworden,  das 
Grün  von  Alpenmatten  und  tiefer  unten  von  Tannen-Baumgruppen  hat  sich 
auf  das  Gelände  gelegt,  zuerst  nur  stellenweise  und  zögernd,  bis  dichter  Laub- 
wald die  Bergwände  bekleidet.  Im  Talgrunde  rauscht  die  Aragwa  in  ihrem  Bette, 
das  sie  sich  in  den  Lavamassen,  welche  einst  durch  dieses  Schiefergebiet  flössen, 
tief  eingeschnitten  hat;  auf  Hügeln  stehen  Burgruinen  und  alte  Kirchen,  und 
inmitten   von    Obstgärten    und   Ackerfeldern    liegen    freundliche    Ortschaften. 

Weite  Strecken  trennen  uns  noch  vom  Ziele.  Gebirgsketten  über- 
steigend, die  verschiedensten  geologischen  Formationen  querend,  erreicht 
man  die  alte  Hauptstadt  der  georgischen  Könige,  Mzchet,  und  nach  dem 
Zusammenflusse  der  Aragwa  mit  dem  Kur  gelangt  man  —  ein  scharfer 
Kontrast  mit  den  zuletzt  durchschrittenen  südlichen  Landschaften  —  in  das 
kahle,   steinige  Becken,   in  welchem  Tiflis  liegt. 

Während  der  langen  Fahrt  auf  sonniger,  staubiger  Landstrasse 
konnte  ich  mich  zuletzt  des  Eindruckes  des  Einförmigen,  den  die  Landschaft 
auf  mich  machte,  nicht  erwehren.  Nach  den  grossartigen  Szenerien  des 
eisigen  Hochgebirges,  durch  welche  die  W^anderungen  der  letzten  W'ochen 
mich  geführt  hatten,  konnte  sich  die  Schönheit  dieser  Landschaften  aller- 
dings nur  schwer  geltend  machen.  Es  ist  oft  die  Frage  aufgeworfen  worden, 
ob  es  lohnender  sei,  die  grusinische  Heerstrasse  vom  Norden  oder  vom 
Süden  kommend  zu  bereisen.  Die  Frage  wird  schwer  zu  entscheiden  sein. 
Gewiss  steigern  sich  die  Eindrücke  bei  dem  von  Tiflis  Kommenden,  der 
am  Schlüsse  der  Fahrt  den  Anblick  des  schneeigen  Hochgebirges  gewinnt 
und  die  wilde  Grossartigkeit  der  Darielschluchten  auf  sich  einwirken  lässt. 
Dagegen  wird  der  Reisende,  der  von  Wladikawkas  aus  das  Gebirge  über- 
schreitet, nach  den  rauhen  Berggegenden  des  Nordens  sich  dem  Reize  der 
F"arbenpracht  südlicher,  blühender  Landschaften  nicht  entziehen  können,  und 
das  reiche,  vielgestaltige  Völkerleben,  das  dort  pulsiert,  wird  sein  ganzes 
Interesse   gefangen   nehmen. 

Ein  altes  Kulturvolk  wohnt  hier,  in  Kartlien,  dem  Herzen  Georgiens. 
Es  sind  die  dem  Kartwelischen  .Stamme  angehörenden  Georgier.  Die  Kopf- 
zahl der  zur  kartwelischen  Völkerfamilie  gehörenden  Kaukasier  beträgt  nach 
den   neuesten   russischen   Quellen   etwa    1200000.''') 

*)  Von  diesen  werden  ethnologisch  klassifiziert,  als  zur  Gruppe  der  Georgier  (Grusiiier 
nach  der  russischen  Bezeichnung)  gehörend,  nahezu  eine  Million  Seelen  gezählt,  und  zwar  etwa 
400  000  eigentliche  Georgier,  die  im  Gouvernement  Tiflis,  in  Kartlien  und  Kachetien  wohnen  (ein- 
schliesslich des  kleinen,  im  Bezirk  Zakatal  ansässigen,  einst  dem  Islam  anhängenden  Völkchens 
der  Ingiloen),  21  000  Berggeorgier,  zu  welchen  6500  Chewsusen,  9200  Pschawen  und  5000  Tuschen 
gehören;   425  000   Imeren,   76,  000  Gurier  (im  Gouvernement  Kut.iis)  und  endlich  die   mohammedani- 


Der  kaktwei.tsche  Volksstamm. 

l'ntlurchdringliches  Dunkel  umhüllt  auch  die  Urzeit  der  kartwelischen 
V'ölkerfamilie,  wie  die  aller  kaukasischen  Völkerschaften.  Während  der  Ein- 
führung des  Christentums  und  der  griechisch-byzantinischen  Kultur  wurde 
das  Reich  der  Georgier  gefestigt,  und  allmählich  hatte  sich  eine  nationale 
Kultur  entwickelt.  —  Nach  dem  Zeitalter  der  vielgefeierten  und  vielbe- 
sungenen kaukasischen  Heldenkönigin  Tamara  folgte  jedoch  eine  Verfallzeit 
vom  13.  bis  zum  17.  Jahrhundert  und  erst  nach  dieser  traurigen  Epoche 
in  der  Geschichte  Georgiens  zeigen  sich  wieder  die  Anfänge  eines  nationalen 
Kulturlebens,   das   dann   im    18.   Jahrhundert  immer  mehr  erstarkt. 

Die  Kultur  Georgiens  darf  nicht  nur  als  ein  Abglanz  der  altpersischen 
und  byzantinischen  genommen  werden,  sondern  sie  entfaltete  sich  zu  eigen- 
artiger nationaler  Blüte.  Die  Lebensgeschichte  der  Georgier,  eines  der 
ältesten  christlichen  Kulturvölker  Vorderasiens,  lohnt,  der  Vergessenheit  ent- 
rissen zu  werden,  es  ist  die  eines  Volkes,  welches  trotz  der  Bedrängung 
von  selten  des  Islam  treu  dem  Christentum  blieb,  von  dem  nur  ein  geringer 
Bruchteil  —  etwa  50000  —  abfiel.  Auch  in  der  neuesten  Zeit  hat  sich 
das  Kulturleben  der  Georgier,  wenn  auch  langsam,  aber  stetig,  entwickelt, 
wofiir  die  georgische  Literatur  des  19.  Jahrhunderts,  deren  Stützen  die 
Lyriker  Elias  Tschawtschewadse,  Akaki  Zereteli  und  Raphael  Eristawi  sind, 
die  Erzählungsliteratur,  die  bescheidenen  Anfänge  der  wissenschaftlichen 
Tätigkeit  Zeugenschaft  geben.  Allerdings  hat  sich  diese  kulturelle  Ent- 
wicklung und  der  Einfluss  derselben  immer  nur  in  den  von  Georgiern  be- 
wohnten Niederungen  am  Ufer  des  Schwarzen  Meeres  und  den  Elusstälern 
des  Rion  untl  des  Kur  gezeigt.  Die  zu  den  Kartwelen  gehörenden,  aber 
jedenfalls  stark  mit  andern  V^olkselementen  vermischten  Pschawen,  Tuschen, 
Chewsuren  und  Swanen,  die  in  den  Hochgebirgsgauen,  wo  ich  ihnen  auf 
meinen  Reisen  begegnete,  in  wilder  Abgeschlossenheit  leben,  sind  von 
diesen  Kultureinflüssen   unberührt  geblieben. 

In  Tiflis  hatten  wir  die  Freude,  Dr.  Radde  zu  sehen,  den  ausgezeich- 
neten Naturforscher,  den  unermüdlichen  Reisenden  in  den  kaukasischen 
Ländergebieten,  den  genauen  Kenner  derselben  und  Schöpfer  des  höchst 
interessanten  Museums  zu   Tiflis.*) 

sehen  Georgier  im  Westen :  Adscharen  und  Kobuletzen,  die  in  den  Bezirken  Batuni  und  Astorin 
wohnen.  Zur  zweiten  Gruppe  werden  215  000  IVIingrelen  im  Gouvernement  Kutari  gerechnet,  zur 
dritten  das  Völkchen  der  2000  Köpfe  zählenden  Lasen,  die  sich  im  Bezirk  ISatum  und  an  der 
Schwarzmeerküste  ausbreiten,  und  zur  vierten  die  in  den  Hochtälern  des  Ingur  und  Zchenis-zchali 
wohnenden  Swanen,    14  000  Köpfe  stark. 

'''•')  Dr.  Radde  starb  1902  in  Titlis  im  Alter  von  72  Jahren.  Siehe:  Dr.  Gustav  Radde.  Zu 
«meinem   siebzigsten  Geburtstage  von   M.  v.  Dechy,   in  Petermanns  geographischen  Mitteilungen   Bd.   48. 

—     240     — 


ÜBER  DAS  Schwarze  Mb:er  läxos  dks  Kaukasus. 

Als  wir  nach  einigen  Tagen  Batum  mit  dem  Dampfer  verliessen  und 
längs  der  Küste  hinfuhren,  blieb  stundenlang  die  kaukasische  Bergkette  in 
grösster  Klarheit  in  Sicht.  Mit  dem  Sinken  der  Sonne  erglühten  noch  ein- 
mal die  höchsten  Eisgipfel,  bevor  die  Bergkette  unsern  Blicken   entschwand. 


Georgische   Musikinstrumente. 


D6chy:   Kaukasu 


Wohnhütten  in  einem   Digor  ier- Dorfe. 


XVIII.  KAPITEL. 


Zu  den  Gletschern  des  Zeja-  und  Urueh -Tales. 

.  .  .  Die  Geologie   .  .  .   liefcit  ilcm  Pliysiogeoijraplien 
das  M.iterial  zu  einem  tieferen  Formenverständnis. 

A.  Pencl<:   Die   Pliysioseograpliie. 

Im  lahre  i8S6  wurde  eine  dritte  Bergreise  im  Kaukasus  unter- 
nommen. HeiT  Dr.  iM-anz  Schafarzik,  Sektionsgeologe  im  Kgl.  Ungar.  Geo- 
logischen Institute'")  hatte  sich  auf  meine  Einladung  der  Expedition  an- 
geschlossen. Dem  Reiseprogramm  nach,  sollten  mehrere  der  auf  den  beiden 
früheren  Reisen  berührten  Punkte  wieder  besucht  werden,  um  teils  die 
photographischen  Aufnahmen  zu  ergänzen,  teils  an  einigen  Gletschern  im 
Adai-Choch-Massiv,  am  Elbruss  und  in  .Swanetien  die  vorjährigen  Be- 
obachtungen mit  neuen  Daten  zu  vergleichen.  Es  sollten  ausserdem  das 
östliche  Ouellgebiet  des  Kuban,  die  Berglandschaften  im  Westen  des  Elbruss- 
Massivs   und   das   Daghestanische   Bergland   im   Osten   besucht  werden. 

Am  i6.  Juni  verliessen  wir  Budapest  und  trafen  über  Odessa, 
Schwarzes  Meer  und   See   von   Asow    am    24.   abends    in  W'ladikawkas    ein. 


'■)  Jetzt  k.  u.  Bergrat  und  Professor  am  Polytechnikum   in  Budapest. 


242 


Wieder  zum  Zei-Gi.etschek. 

Vier  Tage  dauerte  auch  diesmal  der  Aufenthalt  in  \\  ladikawkas,  um  alle 
nötigen  X'orbereitungen  zu  treffen  und  die  Verteilung  der  Reise- 
ausrüstung zu  besorgen,  und  am  30.  Juni  waren  wir  wieder  in  St.  Nicolai 
im  Ardon-Tale. 

I.  Juli.  Ein  herrlicher  Tag  brach  nach  dem  Regenwetter  der  letzten 
Woche  an,  es  war,  als  ob  die  ganze  Natur  neu  geschaffen  worden  wäre, 
und  als  wir  in  der  kühlen  würzigen  Morgenluft  das  waldige  Tal  empor- 
stiegen und  dann  über  die  noch  regenfeuchten  Wiesen  der  Zei  -Terrasse 
wanderten,  den  prächtigen  Gletscherhintergrund  vor  Augen,  um  den  noch 
leichte  wei.sse  Nebel  spielten,  da  schlug  das  Herz  froh  und  glücklich  der 
schönen  Natur,   den  herrlichen   Bergen   entgegen. 

Wir  errichteten  nahe  am  Gletscherende,  auf  dem  alten  Lagerplatze 
das  Zelt,  und  da  es  noch  früher  Nachmittag  war,  ging  ich  sofort  zum 
Gletscher,  um  an  den  im  vorigen  Jahre  aufgestellten  Signalen  die  Messungen 
vorzunehmen.  Die  meisten  Signalblöcke  wurden  vorgefunden  und  zeigten 
einen  Rückgang  des  Gletschers  an.*)  Auch  einzelne  Teile  der  nahe  am 
Gletscherende  erbauten  Mauer  standen  unversehrt,  jedoch  jetzt  in  grösserer 
Entfernung  vom  Eise.  Das  Gletschertor  hatte  sich  vergrössert,  und  mit 
lautem  Getöse  entstürzten  ihm  die  Wassermassen,  um  dann,  in  mehrere 
Arme  sich  zerteilend,  die  mit  Gerolle  und  Gesteinsblöcken  übersäte,  vor- 
liegende Ebene  zu  überfluten.  Die  Temperatur  des  Wassers  war  um 
6  Uhr  30  jNhnuten  p.  m  1,5"  C.  Das  Ende  der  Gletscherzunge  lag 
nach  einer  Messung  mit  dem  Ouecksilberbarometer  in  einer  Höhe  von 
2064  (B.  D.). 

Am  folgenden  Tage  (2.  Juli)  stiegen  wir  an  der  linken  .Seite  des 
Gletschers  bis  zum  Eisfall  empor.  Weiss  blühende  Rhododendron  schmückten 
die  Talwände.  Die  Seracs  des  unteren  Eisfalles  boten  ein  herrliches  Bild. 
Mit  photographischen  Arbeiten,  Höhenmessungen  und  Sammlungen  wurden 
hier  einige   Stunden   verbracht. 

Wir  waren  diesmal  nicht  die  einzigen  Menschen  am  Fasse  des  Zei- 
Gletschers.  Nahe  bei  unserm  Lagerplatze  befindet  sich  im  Talgehänge 
eine  kleine,  von  vorspringenden  Felsen  gebildete  Nische,  in  welcher  ich 
schon  auf  einer  früheren  Reise  Schutz  gegen  Regen  gefunden  hatte.  Vor 
dem  Eingange  in  diese  Höhlung  war  aus  Steinen  eine  Mauer  aufgeschichtet 
und  der  Raum  von  mehreren  Ossen,  Männern  und  Frauen,  bewohnt.  Es 
war  das   > Grand  Hotel  et  Etablissement  des  bains     am  Zei-Gletscherl      Denn 


■')  Die   Blöcke   A,   B  und  D  zeigten  einen   Rückgang  des  Gletschers  innerhalb   eines  Jahres 
von   7  m,  4  m   50  cm  und  6  m  60  cm  an. 

16» 

—     243      — 


CUKR    KAMUNTA    und    DURCH    DAS    SSONGUTA-TAL   ZUM    URUCH. 

diese  Bergbewohner  waren  hierher  gekommen,  um  in  der  reinen,  kräftigen 
Gletscherluft  Heilung  von  Krankheiten  zu  suchen,  als  Hauptheilmittel  Bäder 
im  eiskalten  Gletscherbach  benutzend.  Ziegen  versorgten  die  Gesellschaft 
mit  Milch.  lün  luftiger  Aufenthalt  ist  es  da  oben,  und  eisig  sind  die 
Muten,  die  dem  Gletscher  entquillen.  Selbstverständlich  laufen  die  guten 
Ossen  auch  barfuss  herum,  und  wer  weiss,  ob  nicht  schon  längst  eine 
Korrespondenz  zwischen  ihnen  und  dem  hochgelehrten  Pfarrer  Kneipp 
bestand,  die  dieser  nur  der  profanen  Welt  vorenthalten  hat.  Auch  an 
andern  Gletschern  der  ossetischen  Berge  sollen  Kranke  oft  viele  Wochen 
verbleiben,  so  im  Skattikom-Tale,  im  obersten  IVuch-Tale  und  am  Karagom- 
Gletscher. 

Am  Abend  lagerten  wir  im  Zelte  vor  der  Kirche  des  Auls  Zei.  Im 
strömenden  Regen  kamen  wir  gegen  Mittag  des  nächsten  Tages,  des  3.  Juli, 
in  St.  Nicolai  an.  Rasch  wurden  noch  alle  meteorologischen  Instrumente 
beobachtet,  sodann  gepackt,  und  gegen  Abend  waren  -wir  im  Bergwerke 
Ssadon. 

4.  Juli.  Der  Reiseplan  führte  uns  jetzt  zu  den  Gletschern  im 
Hintergrunde  des  Uruch -Tales.  Ich  wählte  wieder  den  Weg  über  den 
Kamuntasattel,  in  der  Hoffnung,  einen  Einblick  in  die  nördliche  Ab- 
dachung des  Adai  -  Choch- Massivs  zu  gewinnen.  Leider  wurde  dies 
durch  Wolken,  welche  die  höheren  Partien  des  Gebirges  bedeckten, 
vereitelt.  Vom  Aul  Kamunta  setzten  wir  noch  am  gleichen  Tage  den  Weg 
längs  des  Ssonguta-Baches  fort.  Etwa  eine  halbe  Stunde  lang  stiegen  wir 
von  Kamunta  steil  bergab.  Bei  einer  Häusergruppe  machten  die  Leute 
einen  \^ersuch,  uns  zum  Uebernachten  zu  bewegen.  Nach  der  Besichtigung 
des  Innern  eines  dieser  Häuser  zogen  wir  es  jedoch  vor,  trotzdem  es  Abend 
war,  weiterzugehen,  um,  wenn  möglich,  noch  den  Aul  Machtschek  zu 
erreichen. 

Der  Weg  wurde  pittoresker.  13as  Tal  nimmt  einen  schluchtartigen 
Charakter  an.  Das  Gebiet,  welches  wir  durchzogen,  ist  eine  Fortsetzung 
der  Sandsteinzone  von  Kamunta.  Spät,  in  finsterer  Nacht  kamen  wir  in 
Machtschek  (1303  m  B.  D.)  an,  wo  wir  gastfreundlich  aufgenommen  wurden 
und  ganz  gut  untergebracht  waren. 

Auch  der  5.  Juli  war  ein  trüber  Tag.  Graue  Nebel  und  Regen- 
wolken hingen  über  den  Bergen.  Ich  benutzte  den  Morgen,  um  einige 
Typen,  Männer  und  Frauen,  zu  photographieren.  Interessant  war  der  Be- 
gräbnisplatz des  Dorfes  mit  seinen  Grabsteinen,  welche  teils  die  Form  von 
Kolonnaden,    von    kuppelbedeckten    Säulen    hatten,    teils    aber    quadratische 

—      244     — 


Im  Tale  des  Uruch  nach  Stvk-üigor. 


Mauern  bildeten,  welche  an  den 
vier  Ecken  mit  kleinen  Säulen 
gekrönt  waren  und  den  Begräb- 
nisplatz  umschlossen. 

Durch  einförmige  Landschaft 
setzten  wir  den  Weg  fort.  Unter- 
halb des  Auls  Machtschek  stösst 
man  wieder  auf  Granit.  Der 
FIuss  hat  sich  hier,  nordwestlich 
von  Machtschek,  sein  Bett  ganz 
in  Granit  eingegraben,  und  diesen 
überlagernd,  finden  wir  am  rech- 
ten Ufer  die  Sandsteine  des 
unteren  Jura. 

Von  der  Höhe  einer  Terrain- 
welle, die  der  Fluss  durchschnitten 
hat,  bietet  sich  der  erste  Blick  auf 
das  Uruch-Tal.  Ein  steiler  Abstieg 
führt 


Mädchen   aus  Ma.  In-,  h.k 

den  Ssongut  (Aigamugi  -  den) 
und  einige  Minuten  später 
zur  Brücke  über  den  Uruch. 
Nun  wendet  sich  unser  Weg  süd- 
lich, das  Tal  des  Uruch  auf- 
wärts. Man  durchschreitet  wie- 
der eine  Zone  schwarzen  Ton- 
schiefers, welche  die  Fort- 
setzung dieser  uns  von  Ssadon 
und  Kamunta  bekannten  For- 
mation bildet. 

In  Styr-Digor  empfängt  uns 
mein  alter  Bekannter  und  Reise- 
gefährte   aus   dem  Jahre    1884, 


Oäsen   aus  Machtschek. 


—      245 


Dkr  Taxa-Gi.ktscher. 

Chagasch  Karagubajew,  und  geleitet  uns  in  ein  nahe  von  seinem  Wolinhause 
befindliches  hölzernes  Gebäude.  Ein  trockener,  reiner  Innenraum  erwartet  uns, 
den  Karagubajew  rasch  wohnlich  zu  machen  versteht.  Das  Haus,  sowie  jenes 
von  Karagubajew,  steht  in  der  obersten  Reihe  am  nördlichen  Ende  der  Häuser- 
gruppe, die  sich  etagenförmig  an  der  Talterrasse  von  Styr  -  Digor  erhebt.  Ein 
prächtiger  Blick  auf  den  Talhintergrund  ist  die  Folge  dieser  Lage. 

Der  6.  [uli  fand  uns  schon  am  frühen  Morgen  am  Fu.sse  jenes  zirkus- 
förmigen  Bergrundes  (Taimasivcek),  an  welchem  wir  1884  am  Wege  zum 
Schtulivcek  vorbeigekommen  waren.  Wir  traten  in  das  kleine  ebene  Tal- 
becken (1669  m  B.  D.)  und  folgten  dem  linken  Ufer  des  Tanabaches,  um 
den   Gletscher  zu  besuchen,   welchem   er  entspringt. 

Pfadlos  führt  unser  Weg  zuerst  über  Gerolle  und  dann  an  dem  mit 
dichtem  Birken-  und  bichtenwald  bestandenen.  Bergrücken  empor.  In  der 
Höhe  folgen  saftiggrüne  Wiesen,  auf  welchen  Alpen- Glockenblumen, 
die  zarten  violetten  Blüten  des  Schnee-Enzian,  gelbliche  Mohnblumen,  Stein- 
brech, das  reizende  blauweisse  Vergissmeinnicht  und  andere  farbenreiche 
Pflanzen  den  Blütenschmuck  der  Alpenmatten  auch  inmitten  der  ernsteren 
Szenerie  des  Kaukasus  hervorzaubern.  Hoch  hinauf  am  Gehänge  der  Tal- 
wand, zwischen  den  Seitenmoränen,  welche  den  Gletscher  begleiten,  entwickelt 
sich  diese  reizende  Alpenflora,  in  welcher  viele  Arten  schon  der  nivalen 
Region  angehören.  Bis  nahe  an  die  Eismassen  des  Tana-Gletschers  reicht  der 
Wald,   und   über  den  Baumkronen  wird   der  schneeige  Hintergrund   sichtbar. 

Eine  von  Felstrümmern  und  Geröll  bedeckte  Fläche  dehnt  sich  vor 
dem  Gletscherende  aus.  Der  Tana-Zete*)  ist  ein  Gletscher  erster  Ordnung 
und  setzt  sich  aus  drei  Zuflüssen  zusammen.  Einem  mächtigen  Gletscher- 
tore entströmt  der  schäumende  Bach.  Die  Zunge  fällt  steil  (30  bis 
35")  ab,  ist  etwa  0,5  km  breit  und  im  unteren  Teile  ganz  mit  Schutt 
bedeckt;  dieselbe  endigt  in  einer  Höhe  von  21  19  m  (1992  m  B.  D.).  Der 
Gletscher  liegt  zwischen  granitischen  I<"elsmauern,  welche  bis  hoch  hinauf 
abgeschliffen  sind. 

Nachdem  eine  photographische  Aufnahme  der  Gletscherszenerie  ge- 
macht war,  begann  ich  an  dem  nur  schwach  geneigten  Eisfelde  anzu.steigen. 
Vom  hohen  Eiswall,  welcher  den  Tana- Gletscher  überragt,  zieht  etwa  in 
der  Mitte  de.sselben  ein  von  zerschrundeten  Pirnmassen  umfluteter  Fel.sgrat 
herab,  welcher  seine  Schneeregion  teilt.  Die  Krönung  des  Eiswalls  bildet 
der  Gipfel  des  Ziteli,  indes  Laboda  weiter  in  der  Ecke  gegen  Westen 
sein   Firnhaupt   erhebt.      Die   Oberfläche   des  Tana-Gletschers   zeigt  schönes, 

'■")  Zete  bedeutet  im  Ossetischen  Gletscher. 

—     246     — 


UXWETTKR    AM    TaXA-GI,F.TSCIII;K. 

reines  Eis,   ist  wtmig  von   Gcrüll   bedeckt  und   auch  die  Seitcninoränen   sind 
nur  schwach   entwickelt. 

Am  rechtsseitigen  Gehänge,  das  ein  leichtes  Fortkommen  gestattete, 
wollte  ich  mich  bis  zu  einem  Felskopfe  erheben,  der  dort  vorsprang  und 
einen  ausgedehnten  Blick  auf  den  eisigen  Hintergrund  des  Gletschers,  be- 
sonders in  sein  westliches  Zuflussgebiet,  gestatten  musste.  Allein,  trotz 
des  schönen  Moreens  hatte  sich  mit  überraschender  Schnelliekeit  das  Wetter 


Der  Tann- Gletscher. 


verschlechtert.  Die  kleinen,  zitternden,  silbernen  Wölkchen,  welche,  vom 
Süden  kommend,  zuerst  ihr  Spiel  um  die  höchsten  Cjrate  des  Gebirges 
trieben,  hatten  sich  rasch  zu  Wolkenballen  verdichtet,  welche  jetzt  regungs- 
los auf  demselben  lagerten.  Die  Luft  selbst  füllte  sich  mit  grauem  Höhen- 
rauch. Das  eisige  Halbrund,  das  den  Gletscher  beherrscht,  leuchtete  in 
gleissender  Weisse  durch  das  Halbdunkel,  welches  nahendem  Unwetter 
vorhergeht. 

Wir  kehren  um.  Doch  kaum  ist  der  von  dichtem  Birkengebüsch 
bewachsene  Riegel  —  eine  alte  Endmoräne  —  erreicht,  als  auch  schon 
der  heranbrausende  Sturm   die   wenigen,   kurzstämmigen  Kiefern,  welche  sich 


Sonnenaufgang  im  Kauagom-Tale. 


bis  hierher  vorgewagt  haben,  zu  Boden  drückt.  Bald  fällt  auch  der  Regen 
in  Strömen.  Das  W'aldesdickicht  gewährt  einigen  Schutz.  L'eber  die  steilen 
Bergwiesen  stürzen  schäumend  die  Wasser,  und  der  stark  angeschwollene  Tana- 
bach  spielt  mit  den  mächtigen  Felsblöcken,  die,  losgelöst  von  den  Bergwänden 

in  sein  Bett  gerieten.  Wir 
kamen  noch  früh  am  Nachmittage 
nach  Styr-Digor  zurück,  und  ich 
hatte  Gelegenheit,  einige  Digor- 
typen  zu  photographieren,  dar- 
unter einen  rüstigen  Alten,  einen 
V'erwandten  des  Hausherrn,  ein 
Hadschi,  der  den  Turban  des 
Mekkapilgers  trug  und,  wie  die 
Leute  sagten,  90  jähre  alt  war. 
Der  folgende  Tag  —  7.  Juli 
—  war  einem  Besuche  des  Kara- 
gom -Gletschers  gewidmet.  Es 
war  noch  dunkel,  als  wir  an  der 
Ecke  des  Bergrückens  empor- 
stiegen, der  von  Styr-Digor 
hinüber  in  das  Gebiet  des  Kara- 
gom  führt.  Als  wir  den  Ueber- 
gangspunkt  erreicht  hatten,  be- 
rührten die  ersten  Sonnenstrahlen 
die  eisigen  Gipfel.  Leblos  und 
kalt  lag  die  Tiefe  vor  uns; 
vom  dunkeln  Talgrunde  hob  sich 
nur  das  weisse,  gekrümmte  Band 
des  Baches  ab,  und  im  düsteren  Walddickicht  lag  die  tote  Ma.sse  des 
mächtigen   Gletscherstromes. 

Jetzo   erhob  sich   die  Sonne  .... 
Auf  zum  ehernen  Himmel,  zu  leuchten  den  ewigen  Göttern 
Und  den  sterblichen  Menschen  auf  lebenschenkender  Erde. « 

Odyssee  III. 

In  der  Höhe  hüllten  die  schneeigen  Gestalten  sich  rasch  in  eine  Reihe  von 
Farbentönen,  die  in  grosser  Zartheit  zwischen  Rosa  und  Molett  wechselten, 
bis  sich  dann  in  immer  steigender  Intensität  eine  Lichtfülle  über  das  Ge- 
birge ergoss,  welches  stufenweise  auch  die  beschatteten  Partien  aufhellte 
und   auf  die  kurz   vorher  noch   so   kalte   Landschaft  den   glänzenden  Lebens- 


D  i  y  o  r  i  e  r. 


HAESC'HI   im   ST'YT^-DIGtOR 


Das  ÜisERSETZEN  DER  Bergbäche.  —  Wald  und  Alrenwiesen. 

hauch  des  siegreichen  Tagesgestirns  warf.  Lange  standen  wir  still,  in  Be- 
wunderung vor  diesem   herrHchen  Schauspiel  versunken. 

Nur  mit  Mühe  konnte  man  den  Karagom-Bach  übersetzen,  um  den 
Pfad  an  seinem  rechten  Ufer  zu  erreichen.  Das  Wasser  hat  hier  eine 
Breite  von  etwa  20  bis  25  m.  Es  dürfte  allerdings  nur  etwas  mehr  als 
einen  Meter  tief  sein,  allein  es  ist  so  reissend,  dass  die  Pferde  nur  mit  harter 
Mühe  sich  durch  den  Gesteintrümmer  mit  sich  führenden,  eisigkalten  Bach 
durcharbeiten  können.  Getrieben,  werfen  sich  die  Pferde  in  das  stürmische 
Wasser.  Sie  sondieren  die  Tiefe  und  eilen  rasch  bis  gegen  die  Mitte.  Man 
hört  und  fühlt,  wie  sie  zwischen  den  Felsblöcken  des  Baches  sich  durch- 
arbeiten, oft  in  schwimmender  Bewegung,  sie  kämpfen  eine  Minute  im 
Wirbel,  der  sie  mitreisst,  fassen  jedoch  wieder  P^uss,  um  in  gerader  Linie 
das  Ufer  zu  gewinnen.  Einem  furchtsamen  Reiter  mag  es  bange  werden, 
insbesondere  in  der  Mitte  des  Baches,  wenn  das  Pferd  in  entgegengesetzter 
Bewegung  das  brausend   daherschiessende  Wasser  durchschneidet. 

Am  jenseitigen  Ufer  gelangt  man  in  dichten  W^ald,  zumeist  Eichten 
und  Birken,  welche  zum  Teil  auf  alten  Seitenmoränen  stehen.  Der  Weg 
windet  sich  durch  Unterholz  neben  blühenden  Crebüschen  der  Azalea 
pontica.  Hohe  Moränenrücken  entziehen  das  Gletscherende  dem  Auge  des 
Wanderers.  Dann  geht  es  eine  Strecke  nahezu  eben  über  Rasenflächen, 
die  von  Myosotis,  Cirsium,  Geranium,  Alchemilla,  Ranunculus  und  andern 
artenreichen  Alpenpflanzen  besät  sind.  Auf  einer  kleinen,  von  herrlichen 
Baumriesen  umstandenen  Wiese  rasten  wir.  Köstliches  Ouellwasser  rieselt 
in  der  Nähe. 

hl  der  Stille  des  Waldes  klingt  die  Axt;  Digorier  zimmern  dort  ein 
Blockhaus ;  es  soll,  wie  man  uns  sagt,  für  Sommerfrischler  bestimmt  sein, 
kranke  Bergbewohner,  welche  gleich  denen,  die  wir  am  Zei-Gletscher  trafen, 
durch  Gletscherluft  und  Gletscherwasser  gesunden  wollen.  Die  Wahl  des 
Platzes  macht  übrigens  dem  landschaftlichen  Sinne  der  Bergbewohner  alle 
Ehre.  Nichts  Reizenderes  kann  gedacht  werden.  Dichte  Baumkronen 
spenden  erquickenden  Schatten  dem  auf  grünem  Rasenpolster  Ruhenden. 
Der  Blick  fällt  hinaus  auf  sonnenbeschienene,  freundliche  Tallandschaft,  und 
durch  das  Geäste  der  Fichten  und  Tannen  schimmern  die  Eismassen  des 
Karagom-Gletschers. 

Nur  einige  Schritte,  und  wir  stehen  am  Rande  des  Waldes,  und  vor 
uns  liegt  die  Eisflut,  eingebettet  zwischen  gezackten  Felsgraten.  Aus  der 
Höhe,  aus  den  Firngehlden,  welche  die  ganze  Breite  des  talschliessenden 
Bergwalles  einnehmen,  stürzen  die  Eismassen  zersplittert  und  zerklüftet  nieder 


Dkr  Kakacom-Gi.ktsciier. 

und  bilden  einen  mächtigen  Gletschcrstrom,  der  tiefer  unten  in  schwachem 
Gefälle  talabwärts  zieht.  Dieses  stürmisch  bewegte  Bild  krönt,  am  obersten 
Rand  auftauchend,  eine  Firnkuppe  in  makelloser  Weisse  und  mit  sanften 
Linien.  Die  Atmosphäre  war  von  einer  ausserordentlichen  Durchsichtigkeit, 
und  doch  zeichneten  die  Linien  sich  weich  und  sanft,  wie  es  bei  feuchter 
Luft,  vor  Eintritt  von  Regen  der  Fall  zu  sein  pflegt.  Auch  das  Licht, 
welches  die  Landschaft  umflutete,  wirkte  nicht  blendend,  sondern  streute 
Töne  von  grosser  Farbenzartheit  über  Eis,  Fels  und  Wald.  Plötzlich  türmten 
sich  in  der  Höhe  mächtige  Wolkenburgen  auf;  ein  phantastisches  Chaos, 
düster  und  ernst,  das  dann  lange  regungslos  blieb,  ohne  sich  der  Firnkuppe 
zu  nähern,  die  sonnenbeleuchtet  und  rein  da  oben  thronte.  So  sah  ich  den 
Karagom-Gletscher,  wanderte  über  denselben  bis  an  seinen  riesigen  Eisfall 
und   photographierte  seine  herrlichen   Bilder. 

Der  Karagom-Gletscher  gehört  zu  den  grössten  Gletschern  des 
Kaukasus ;  derselbe  breitet  sich  über  eine  Pläche  von  40  qkm  aus  und  er- 
reicht mit  seiner  Firnregion  eine  Länge  von  14  km.  Man  kann  alle  Er- 
scheinungen der  Gletscher,  Mühlen,  tiefe  Klüfte,  Gletschertische,  bemerken 
und  die  herrliche,  grünlich-blaue  Farbe  des  Eises  bewundern.  Der  Gletscher 
trägt  keine  Mittelmoräne,  dagegen  sind  die  Seitenmoränen  bedeutend  ent- 
wickelt. Am  linken  Ufer  dehnen  sich  grüne  Wiesen  aus,  auf  welchen 
Herden  weiden.  Dort  öffnet  sich  eine  gletschererfüllte  .Schlucht,  welche 
hoch  hinauf  bis  an   den   Hauptkamm   zieht. 

Auf  dem  Rückwege  vom  Eisfalle  wollte  ich  die  steinige  Seitenmoräne 
vermeiden   und  am  Gletscher  bleiben,  wir  kamen  jedoch  bald  in  ein  Labyrinth 


LaCERI.KUKN    TM    KARACd.M-TAI.K. 

o-rosser  Spalten,  die  über  unergründliche  Tiefen  sich  öffneten,  und  es  kostete 
Arbeit,  bis  wir  wieder  an  das  rechte  Ufer  des  Gletschers  gelangten.  Vom 
Lao-er  stiegen  wir  an  den  Hängen  einer  alten  zum  Teil  schon  bewachsenen, 
etwa  150  m  hohen  Seitenmoräne  zur  Gletscherzunge  nieder.  Aus  einem 
weiten  Gletschertore  strömten  die  trüben  Wasser.  Grosse  Schutthaufen 
umgeben  das  Ende  des  Gletschers.  Dasselbe  liegt  In  einer  Höhe  von 
1765  m  (1742  m  B.  D.);  die  tiefste  Grenze,  zu  welcher  ein  Gletscher  an 
der  Nordseite  des  Kaukasus  herabreicht.  An  einem  riesigen  Granitblocke 
zeichnete  ich  mit  roter  Oelfarbe,  weithin  sichtbar,  ein  Kreuz,  Namen  des 
Beobachters,  Entfernung  vom  Eise  —  12  m  15  cm  —  und  Datum  der 
Beobachtung. 

Am  Gletscher  und  auf  den  Moränen  wurden  Granit  mit  Glimmer 
und  porphyrisch  ausgeschiedenem  Orthoklas,  sowie  dunkelbraune  Felsitpor- 
phyre  gesammelt.  Ein  Diorit  zeigte  einen  Gesteintypus  mit  Uebergängen 
bis  zum  Amphibol-Granit.  Zahlreich  umherliegende  Andesite  gehören  wahr- 
scheinlich einer  jener  Andesiteruptionen  an,  die  auf  der  ganzen  Kette 
zwischen  Kasbek  und  Elbruss  ziemlich  häufig  auftreten.  Dieser  Andesit 
dürfte  höher  oben  in  der  Firnregion  zum  Durchbruch  gelangt  sein 
und  die  Gesteine  wurden  auf  dem  Rücken  des  Gletschers  herabtrans- 
portiert. 

Es  war    ein  schöner,  genussreicher  Tag  gewesen  und  als  wir  abends 

wieder  am   Zeltplatz  eintrafen,   herrschte    dort   geschäftiges  Treiben.      Unter 

der   Leitung  Karagubajews: 

».abwärts  unter  der  Eiche  bereiten  Diener  die  Mahlzeit«. 

Ilias  XVIIL 

Was  nur  diese  Bergbewohner  alles  aus  einem  Schafe  machen  können  I  Und 
nach  der  Ruhe,  die  während  des  Essens  herrschte,  wurde  es  immer  leb- 
hafter, und  nach  dem  Schmaus  erklang  das  Singen  und  Lachen  der  Träger 
und   Pferdetreiber. 

Am  8.  Juli  wanderten  wir  talabwärts,  vorbei  an  dem  vom  Bartü-Zete, 
einem  grossen  Tal-Gletscher,  erfüllten  Seitentale,  und  erreichten  den  kleinen 
Aul  Dsinago,  durch  welchen  ich  schon  vor  zwei  Jahren  gekommen  war.  Die 
Dorfbewohner  waren  diesmal  sehr  freundlich  und  boten  uns  ein  Gläschen 
selbstbereiteten  Kornbranntweins  an.  Hinter  Dsinago  überschritten  wn- 
den  Uruch.  Hier  nahmen  wir  von  Karagubajew  Abschied;  diesmal  hatte 
er  gastfreundlich  seines  Amtes  gewaltet,  und  mein  Versprechen,  ihm  seine  und 
Hadschis  Photographie,  welche  ich  aufgenommen  hatte,  zu  senden,  habe 
ich    getreulich   gehalten. 


Geologische  Formationen  im  Urucii-Tale. 

Die  Wanderung-  durch  das  l'riich-'Fal  führt  durch  eine  pittoreske 
Landschaft.  Die  einander  folgenden  Formationen  der  Ivristallinischen  Ge- 
steine, der  Tonschiefer  und  der  Jurakalke,  bringen  ein  abwechslungsreiches 
Relief  des  Tales  hervor,  welches  durch  erodierende  Kräfte  morphologisch 
weiter  ausgestaltet  wurde.  Stellenweise  engt  das  Tal  sich  schluchtig  ein. 
In  bizarren  Formen  steigt  die  Jurakette  auf.     Leider  wurde  der  letzte  Teil  des 


[m    Uiuchtale. 


Weges  im  Regen  zurückgelegt,  und  als  wir  uns  Sadelesk  näherten,  begann 
das  Unwetter  mit  Donner  und  Blitz,  Hagel  und  sintflutartigem  Regen  zu  toben. 
Wir  waren  froh,  in  Sadelesk  —  das  nach  meiner  Barometermessung 
in  der  Höhe  von  1294  m  (B.  D.)  liegt  —  unter  Dach  zu  kommen.  Wir 
waren  in  einer  zwar  armseligen  Hütte  untergebracht,  aber  wir  hatten  einen 
ausserordentlich  warmen,  gastfreundlichen  Empfang  gefunden,  ohne  Em- 
pfehlung und  ohne  Vorzeigung  unserer  offenen  Order.  Ich  erwähne  dies, 
weil  ich  nach  den  Erfahrungen  der  vorhergehenden  zwei  Reisen  geneigt 
war,  die  Gastfreundschaft  im  Kaukasus  für  eine  ausschliesslich  den  moham- 
medanischen Tataren,   im  Gegensatze  zu   den  christlichen  Bergvölkern,  eigen- 


Erosion  im  Urucii-Talk. 

tümliche  Tugend  zu  halten.  Nun  hatten  wir  aber  in  diesem  Jahre  überall 
bei  Ossen  und  Digoriern  eine  gastfreundliche  Aufnahme  und  ein  Bestreben, 
der  Ausführung  unserer  Reisepläne  dienlich  zu  sein,  gefunden,  während  wir 
im  weiteren  Verlaufe  unserer  Reise  im  Karatschai  noch  den  zügellosen 
Charakter  wilder,  dem  TVemden  gegenüber  unfreundlicher  mohammedanischer 
Völkerschaften  kennen  lernen  sollten. 

9.  Juli.  Der  Niederstieg  durch  das  Uruchtal  führt  von  Sadelesk  durch 
enge,  waldumstandene  Schluchten,  in  welchen  stellenweise  eine  reiche  Vege- 
tation  sich  entwickelt.      Diese  Talstrecke   ist  auch  wasserreicher  als  die   ent- 


Uruch-Schlucht  i.-\chschinta-Kom). 

Sprechenden,  meist  trockenen  und  vegetationslosen  Partien  der  andern  Ouer- 
täler.  An  den  bewaldeten  Bergwänden  flattern  Kaskaden,  von  allen  Seiten 
stürzen  Bergbäche  in  den  Uruch.  Wenn  es  auch  keinem  Zweifel  unterliegen 
kann,  dass  dieses  enge  und  tief  eingeschnittene  Ouertal  seine  Entstehung 
und  Richtung  tektonischen  Prozessen  zu  verdanken  hat,  so  ist  anderseits 
die  mächtig  erodierende  Wirkung  des  in  seinem  tief  eingeschnittenen  Bette 
mit  Geröll  beladenen  Gletscherflusses  nicht  zu  unterschätzen.  Die  Erosion 
setzte  insbesondere  jenen  Talabschnitt  auf  ein  tieferes  Niveau,  welcher  ausser 
Sandsteinen  aus  weichen  Tonschiefern  der  unteren  Juraformation  besteht. 
Der  Saumpfad  hebt  sich,  und  an  der  engsten  Stelle  der  Talschlucht  über- 
brückt ein  natürliches  Sprengwerk  —  die  Teufelsbrücke  —  den  am  Grunde 


Die  Teufklsbrücrk  im  Uruch-Tale. 

einer  etwa  80  m  tiefen,  kaum  10  m  breiten  T'elsspalte  tosenden  Fluss.  Es  ist 
dies  der  wild-romantischste  Punkt  des  Weg-es.  (Achschinta-Kom.)  Von  der 
Brücke  blickt  man  in  die  Tiefe  der  Felsenkluse,  welche  sich  der  Bach  erodierte. 
Ein  herabfallender  Stein  brauchte   vier  Sekunden    bis  er  an   der  Oberfläche 


Vegetation  in  der  Uruch -Schlucht. 

des  Wassers  aufschlug.  Die  Vegetation,  welche  sich  hier  am  üppigsten 
entfaltete,  überwuchert  das  Gestein  mit  Moosen  und  Flechten,  umzieht 
Stämme  und  Zweige  der  Bäume  mit  Schlingpflanzen  und  lässt  ein  dichtes, 
grossblättriges   Gebüsch   entstehen. 

Aus  der  Formation  des  Jurakalkes,   in  welcher  wir  bis  jetzt  wanderten, 
gelangt   man   hinter  dieser  Schluchtpartie  in  ein  waldiges  Hügelland,   welches 


—     254 


Durch  die  Vorberge  ix  die  Terek-Eüene. 

die  Kalke  der  oberen  Kreidezone  bilden.*)  Mächtige  Buchttn forste  (I'agus 
Orientalis)  werden  dann  durchschritten.  Bodenlos  ist  oft  der  Kot.  Tief 
erodieren  sich  einzelne  Wasserläufe  ihr  Bett  im  lehmigen  Boden,  im  leicht 
zerweichenden  Tonschiefer,  hii  Bett  eines  dieser  Bäche,  des  .Surchssu,  fand 
mein  Reisegefährte  einige  mit  Schwefelkies  erfüllte,  aussen  noch  ihren 
prachtvollen  Perlmutterglanz  besitzende  Ammonite.  Nach  diesen  letzten, 
immer  niedriger  werdenden  Vorlagen  des  Gebirges  folgt  dann  rasch 
die   Steppe. 

In  Mahomedansk,  das  wir  nach  einem  langen  Tagesmarsche 
abends  erreichten,  blieben  wir  über  Nacht;  wir  verweilten  nur  wäh- 
rend der  finsteren  Stunden  der  Nacht  dort,  denn  von  Schlaf  war  keine 
Rede,  da  es  in  dem  Zimmer,  wo  wir  hätten  schlafen  sollen,  sobald  das  Licht 
verlöscht  war,  von  höherem  Ungeziefer  wimmelte.  Kein  Wunder,  dass  wir 
um  3  L'hr  morgens  zum  Aufbruche  drängten,  und  einige  Minuten  nach  4  Uhr, 
am  10.  Juli,  fuhren  wir  mit  den  von  Alagir  hierher  beorderten  Telegen  durch 
die  Steppe  dem  Terek  zu.  Mit  einer  Troika  fuhren  wir,  die  andere 
Telega  nahm  das  Gepäck  auf.  W'ir  wollten  die  Bahnlinie  Wladikawkas- 
Rostow  bei  der  Station  Elchetowo  erreichen,  um  von  dort  zu  unserm 
nächsten  Ziele,  den  Mineralquellen  am  Nordfusse  des  zentralen  Kaukasus, 
zu   gelangen. 

Noch  sollte  eine  kurze  Strecke  vor  Erreichen  der  Bahnstation  ein  Un- 
fall uns  aus  dem  schlaftrunkenen  Zustande  stumpfer  Gleichgültigkeit  erwecken, 
in  den  wir  verfallen  waren,  nachdem  wir  nach  der  elenden  Nacht  einige 
Stunden  lang  in  der  Telega  durchrüttelt  worden  waren.  Die  Gepäckstelega 
brach  plötzlich  zusammen.  In  meilenweiter  Entfernung  war  kein  anderes 
Gefährte  aufzutreiben,  und  nur  eine  kurze  Zeit  trennte  uns  vom  Abgang 
des  Zuges.  Hätten  wir  ihn  versäumt,  so  wären  wir  gezwungen  gewesen, 
I  2  Stunden  auf  der  einsamen  Station  bis  zum  Abgange  des  nächsten  Zuges 
zu  warten.  Da  gab  es  nur  ein  Hilfsmittel:  das  Gepäck  auf  unsere  Telega 
zu  packen.  Wir  legten  alle  mit  Hand  an,  und  rasch  gelang  dies.  Hoch 
war  das  Gepäck  nun  in  dem  kleinen  Karren  aufgetürmt.  Wir  selbst  er- 
kletterten dasselbe.  Ich  erinnere  mich  nicht,  wo  sich  mein  Reisegefährte 
unterbrachte.  Ich  thronte  rückwärts  in  der  Höhe,  meine  Beine  baumelten 
frei  in  der  Luft,  und  es  gehörte  etwas  Kunstfertigkeit  dazu,  sich  in  dieser 
Lage  zu  erhalten,   ohne   zu  Fall   zu   kommen,   der  selbst  auf  dem  Lehmboden 


*)  Es   gelang  Dr.  Schafarzik,    sich  hier  in  den  Besitz  einer  Reihe  von  Kalksteinen  zu  setzen, 
die  reich  an  Versteinerungen  waren. 


—     255 


7x  DKN  Radeorten  am  Norufusse  des  Kaukasus. 

der  Steppe  unangenehm  gewesen  wäre.  Was  die  wohl  zu  Hause  gesagt 
hätten,  wenn  man  unsern  Einzug  in  die  Bahnstation  Elchetowo  gesehen  hätte! 
Und  als  wir  beiiuem  im  Coupe  untergebracht  waren,  drängten  sich 
mir  die  Erinnerungen  an  die  letzten  Wochen  im  Hochgebirge  auf,  an  dessen 
weltentrückte  Abgeschiedenheit,  an  die  primitiven  Sitten  und  Hilfsquellen 
seiner  Bewohner,  all  dies  in  verhältnismässiger  Nähe  einer  der  grössten  Er- 
rungenschaften der  europäischen  Zivilisation,  der  Dampfmaschine. 


Stephanoceras  Liechteiisteinii,  nov.   sp.*) 


*)    Neue    Species    aus    der    Sammlung    von    Versteinerungen.      S.   Bd.  III.      Geologische 


Ergebnisse. 


'P  EBEP^DA-    ÖCHLUCHT 


Kuban-Tal  vor  Chumara. 


XIX.  KAPITEL. 


Die    Mineralquellen    am   Nordfusse    des    Kaukasus. 
Durch  die  Teberda  zum  Kluchor-Pass  und  nach  dem 

Karatschai. 

»Je  grösser  und  eindringender  die  Kenntnis  der 
einzelnen  Züge  im  Naturleben,  der  geologisclien  und 
meteorologisclien  Verhältnisse,  der  so  überaus  reichen 
Formen  der  Pflanzen-  und  Tierwelt  auf  der  Erde 
und  im  Meere,  desto  stärker,  weiter  und  tiefer 
wird  auch  die  Liebe  zur  Natur. 

Birse:      l>k-   KiitwickUmu   ,les  Xaturgefühls. 

Es  ist  ein  flachwelliges  Hügelland,  aus  welchem  die  aus  fünf 
isolierten,  kegelförmigen  Bergen  bestehende  Gruppe  des  Beschtau  sich  er- 
hebt.''') Diese  Berge,  deren  höchster  Gipfel,  der  zweikuppige  Beschtau, 
1400  m  erreicht,  geben  der  Landschaft  um  Pjätigorsk  das  Gepräge.  Ueber 
einem  Untergrund  von  eocänen  Mergeln,  die  an  der  Oberfläche  durch  dilu- 
viale und  alluviale  Gebilde  verdeckt  sind,  bauen  sich  die  Beschtauberge  mit  lichten 
Kalksteinen  und  Trachyten  auf.  Der  Bodenbeschaftenheit  nach,  sind  wir  noch 
immer  in  der  staubigen,  stellenweise  sonnenverbrannten,  kurzgrasigen  Steppe, 
wie  sie  sich  im  Norden  längs  der  ganzen  zentralen  Kette  des  Kaukasus 
hinzieht,  und  erst  vor  Pjätigorsk  fahren  wir  durch  ein  Wäldchen,  dessen 
Grün  dem  Auge   des  von  der  kahlen  Steppe   Kommenden   wohl   tut. 

*)  Besch  =  fünf,   und  tau  =  Berg   im  Tatarischen. 
Dechy:    Kaukasus.  17 


Die  GkurrE  hes  Beschtai'  und  die  Mineralquellen. 

Die  klimatischen  X'erhältnisse,  insbesondere  die  grössere  Feuchtig- 
keit innerhalb  des  Gebietes  des  Beschtausystems  begründen  den  auffallen- 
den Unterschied  im  Vegetationsleben  desselben,  im  Vergleiche  zu  jenem 
der  angrenzenden  Steppe.  Diese  macht  selbst  in  den  kurzen  Phasen  der 
Blüteentwicklung  den  Eindruck  des  Einförmigen.  Um  so  mehr  er- 
freut die  kleine  Waldzone  um  Pjätigorsk,  und  angenehm  fallt  das  saftige 
Grün  der  VViesenflora  auf  Das  Studium  der  lokalen  Flora  bietet 
hier  an  den  Bergen  des  Beschtausystems,  welche  als  isolierte  Er- 
hebungen über  die  umliegende  Oberfläche  emporragen,  dem  Botaniker 
hohes   Interesse. 

hl  den  Wäldern,  deren  Zone  sich  bis  zur  Höhe  von  iioo  m  er- 
streckt, stehen  Eichen,  Buchen  und  Birken  als  herrschende  Holzgattungen. 
Dazwischen  kommen  Bäume  vor,  die  in  einer  ihren  Arten  entsprechenden 
vertikalen  Verbreitung,  insbesondere  an  den  sanfteren  nördlichen  Abhängen 
stark  übergreifend,  bald  das  Gehölz  der  Ebene,  bald  den  Typus  der  Nieder- 
waldungen bis  zu  jenem  der  alpinen  Hölzer  repräsentieren,  darunter  zum 
Teil  viele   dem   Kaukasus  eigene  Spezien. 

Pjätigorsk  liegt  in  der  Höhe  von  530  m  am  Südfusse  des  nahezu 
1000  m  hohen  Maschuka-Berges,  einer  isolierten  Kuppe,  um  welche  sich 
der  Podkumok-Bach  windet.  Die  hübsche  Hügellandschaft  von  Pjätigorsk, 
eine  grünende  Oase  in  der  umgebenden  Steppe,  erhält  durch  den  Anblick 
der  am  Rande  des  Gesichtskreises  erscheinenden  kaukasischen  Schneekette 
einen  grossartigen  Abschluss.  Leider  war  das  Wetter  während  unseres 
Aufenthaltes  in  Pjätigorsk,  wenn  auch  nicht  schlecht,  so  doch  kein  für  Aus- 
sichten günstiges.  Eine  drückende  Schwüle  lag  über  dem  Ort,  die  Luft 
war  von  Staub  fast  undurchsichtig,  der  Himmel  eintönig  grau  und  die 
fernen  Berge  blieben  uns  verhüllt.  Wir  sehnten  uns  wieder  nach  frischer 
Bergluft  und  eilten  weiter  nach  Kislowodsk. 

Die  in  kurzer  Entfernung  von  einander  liegenden  Badeorte  Pjätigorsk, 
Dschelesnowodsk,  Essentucki  und  Kislowodsk  verdanken  den  Mineralquellen 
dieses  Gebietes  ihr  Entstehen.*)  hi  der  Ihngegend  gibt  es  noch  eine  An- 
zahl verschiedener  Quellen ;  die  meisten  derselben  liegen  am  Rande  der 
oberen  Kreidezone  oder  auf  eocänem  Gebiete,   die  Quelle  von  Kislowodsk, 


*)  Alle  diese  Quellen  sind  sowohl  ihrer  Temperatur,  wie  auch  ihrer  Zusammensetzung 
nach  sehr  verschieden.  Pjätigorsk  besitzt  heisse  Schwefelquellen  mit  einer  Temperatur  von  30  bis 
47°  C.  Dschelesnowodsk  hat  eisenhaltige  Wasser  von  13  bis  5  1°  C.  Die  zahlreichen  Quellen 
von  Essentucki  sind  alkalische  kalte  Wasser  mit  einer  Temperatur  von  10  bis  15°  C.  und  der 
»Narsan«   genannte  Brunnen  von  Kislowodsk  ist  ein  eisenhaltiger  Säuerling  von    14°  C. 

—     258     — 


VOX   KlSLciWODSK    INS    HOCllGEi;iR(;K. 

die  am    weitesten   !^eg-en    Süilen    vorgeschoben   ist,   steigt  jedcjch   bereits   auf 
dem   der  unteren   Kreide  auf. 

Das  Auftreten  dieser  Quellen  hängt  mit  den  Bruch-  und  Spaltungs- 
linien des  Gebirges  zusammen,  wie  denn  auch  eine  sehr  bestimmte  lineare 
Verteilung  der  Thermen  in  jenen  Hauptrichtungen  zu  konstatieren  ist, 
welchen  die  Gliederung  des  Gebirges  selbst  folgt.  Dagegen  steht  dieses 
Thermensystem,  trotz  des  im  Süden  und  relativ  nahe  liegenden  Elbruss, 
eines  ehemals  in  grossem  Massstabe  tätigen  vulkanischen  Herdes,  in  keinem 
direkten  Zusammenhange  mit  dem  Eruptivphänomen,  und  die  Wirkungen 
der  Vulkanität  erstreckten  sich  nicht  auf  diese   Ouellwasser. 

Am  Wege  nach  Kislowodsk  geht  das  steijpenartige,  fiachwellige 
Terrain  langsam  in  eine  breite,  vom  Podkumok  durchströmte  und  von 
niedrigen  Hügeln  gebildete  Talformation  über,  deren  Grund  zum  Teil  be- 
grünt, jedoch  vollkommen  baumlos  ist.  Aus  dem  mit  quaternären  Gebil- 
den bedeckten  eocänen  Gebiete  gelangt  man  ansteigend  in  die  Formation 
der  oberen  Kreide,  deren  Hügel  vor  Kislowodsk  und  diesem  zugekehrt 
steil  abbrechen.  Jenseits  dieses  Abfalles  folgt  das  Terrain  der  untercreta- 
ceischen  Sandsteine,  in  w^elchen  Erosion  eine  kesseiförmige  Talweitung 
schuf.  hl  ihrer  Mitte  breitet  sich  Kislowodsk  aus.  In  der  Höhe  von 
900  m,  dem  Hochgebirge  näher,  weht  dort  auch  schon  eine  frischere  Luft 
als  in  Pjätigorsk,  doch  ist  mit  Ausnahme  der  Anlagen,  Gärten  und  Alleen 
des  Ortes  selbst  die  landschaftliche  Lage  eine  geradezu  unschöne.  Die 
Umgebung  ist  monoton  in  ihren  Formen,  ohne  alle  Vegetation  und  ohne 
Wald,  und  nach  keiner  Seite  bietet  sich  ein  freier  Ausblick,  nirgends  treten 
anziehende  Objekte  in  Sicht.  Auch  Elbruss  ist  von  Kislowodsk  nicht  sicht- 
bar und  man  muss  die  im  Süden  aufragende  Jurakalkkette  des  Bermamut 
besteigen,   um  den  Anblick  des  höchsten  Kaukasusgipfels  zu   gewinnen. 

Am  Morgen  des  17.  Juli  fuhren  wir  in  einem  guten  Wagen,  von  einer 
Troika  munterer  Tatarenpferde  gezogen,  das  Podkumok-Tal  aufwärts,  wieder 
dem  weltentrückten,  einsamen  Gebirge  entgegen.  L^nser  nächstes  Ziel  war 
das  Kuban-Tal  und  eines  seiner  bedeutendsten  Seitentäler,  das  der  Teberda, 
welches  wir  bis  auf  die  Höhe  der  wasserscheidenden  Hauptkette  verfolgen 
wollten.  Der  Aul  Abukowa  ist  die  letzte  Ansiedlung  auf  unserm  W^ege. 
Erst  jenseits  der  scheidenden  Bergzüge,  schon  Im  Kubangebiete,  sollten 
wir  wieder  bewohnte   Ortschaften  antreffen. 

Der  orographische  Grundzug  des  Gebietes,  welches  wir  durchziehen, 
ist  der  eines  Tafellandes,  welches  durch  kleine  canonartige  Gräben  und 
Erosionsfurchen    durchschnitten    ist.      Diese   durch   die  Täler  der  Kuma,   des 

17* 
—     259     — 


Das  Tafelland  zwischkx  IMai.ka  und  Kuban. 

Podkumok  und  der  Malka  entwässerte  Tafelzone  neigt  sich  gegen  Nord- 
osten, dem  Bergzuge  entgegen,  welcher  die  Wasserscheide  zwischen  dem 
Schwarzen  und  Kaspischen  Meere  bildet.  Derselbe  beginnt  in  der  Axe  der 
Elbrusskegel  und  trennt,  weiter  gegen  Norden  streichend,  die  eben  an- 
gegebenen, dem  Terek  tributären  Täler  vom  Musssysteme  des  Kuban. 
Ueber  die  Plateauhöhen  dieser,  der  unteren  Kreide  angehörenden  Sand- 
steinformation  führte   unser  Weg. 

Abends,  nach  neunstündiger  Fahrt,  gelangten  wir  südöstlich  von  dem 
Kumbaschi  genannten,  etwa  2200  m  hohen  Berge  an  den  nach  dem  Kuban- 
gebiete abfallenden  Rand  der  Hochflächen,  welcher  nach  meinen  Messungen 
an  dieser  Stelle  2027  m  (A.  D.)  erreicht.  Mit  uns  war  ein  heftiges  Ge- 
witter herangezogen,  das  Hagel  und  Schnee  brachte.  Nachdem  das  Ge- 
witter ausgetobt  hatte,  schlugen  wir  unmittelbar  am  Plateaurande  das  Zelt 
auf,  und  trotzdem  es  noch  immer  etwas  regnete,  versuchten  wir  zu  kochen. 
In  der  Nähe  unseres  Lagerplatzes  war  ein  Kosch  und  auf  der  Kubanseite 
weideten  zahlreiche  Schafherden. 

Am  18.  Juli  brachen  wir  erst  nach  10  Uhr  auf,  da  die  hierher  be- 
stellten Pferde  nicht  früher  angekommen  waren.  Das  Tafelland  fiel,  soweit 
sichtbar,  der  ganzen  Ausdehnung  entlang  nach  Südwesten,  an  einzelnen  Stellen 
mit   klippigen  Steilwänden,   ab. 

Bis  an  den  Plateaurand  konnte  man  nur  weiche,  tonige  Sandsteine  be- 
obachten, hier  aber,  am  steilen,  gegen  Süden  gerichteten  Abhang,  veränderte 
sich    mit  einem   Schlafe   das   ganze   geologische   Bild.      Es  zeigten    sich    rot- 

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braune  Tonschichten,  und  unter  denselben  waren  bräunlich-weisse,  eben- 
flächige Kalksteine  sichtbar,  die  bloss  unter  einigen  Graden  nach  Nord  ge- 
neigt waren. 

Das  hügelige  Waldgebiet,  in  welches  wir  im  Abstiege  gelangen,  ge- 
hört der  Sandsteinformation  an.  Die  Jurakalkkette,  welche  vom  Ardon  bis 
zum  Bakssan  in  allen  nördlichen  Ouelltälern  des  zentralen  Kaukasus  zu  so 
mächtiger  Entwicklung  gelancrt,  fehlte  hier,  westlich  vom  Erhebungszentrum 
des  Elbruss,  gänzlich.  Der  tektonische  Aufl^au  des  Gebirges,  der  Lauf  der 
Flüsse  in  diesem  Gebiete  ist  ein  ganz  verschiedener. 

Am  Abend,  nach  einem  langen  Tagemarsch,  als  wir  uns  der  engen 
Mündung  des  Mara-Tälchens,  dessen  Bache  wir  gefolgt  waren,  näherten, 
erblickten  wir  vor  uns  das  breite  Tal  des  Kuban.  Die  Talland.schaft  bot 
ein  pittoreskes  Bild,  welches  in  wärmere  Farbentöne  getaucht  war,  als  sonst 
die  Nordtäler  des  zentralen  Kaukasus.  Der  Talgrund  bildet  eine  wellen- 
förmige,  zum  Teil   begrünte   P^läche,    durch  welche   der  Strom   rauscht.     Die 

—    260    — 


Wkchskl  I1KR  Gksteixsartex  im  Tehi-'.roa-Tai,?:. 

Häusergruppen  von  Chumara  und,  entfernter  davon,  der  Aul  Ssetinskü  sind 
sichtbar.  In  der  Mitte  der  Talflucht  erhebt  sich  ein  turmähnliches  Hügel- 
gebilde, an  dem  der  Muss  vorbeischiesst.  An  den  Talwänden  steht  dichter 
Laubwald.  Darüber  ragt  eine  mit  Zacken,  Zinnen  und  Türmen  besetzte 
Eruptivkette  auf.  Aus  der  berne  schauen  verblauende  Berge  herein.  Der 
Abendsonnenschein  umspielt  jetzt  das  rötlich-braune  Gestein  dieses  Fels- 
baues und  erglüht  später  noch  an  den  grünlich  gefärbten  Zacken  und 
Nadeln  der  Trachytkette,  während  in  der  Taltiefe  schon  die  Schatten  des 
Abends  lagern.'-') 

Vor  Chumara  liegen  hügelförmig  geschichtete  alte  Moränen  und  am 
Fusse  der  Tal  wände  ziehen  sich  von  Glazialschutt  bedeckte  Terassen  hin. 
In  der  Nähe  erscheinen  mächtige  Sandsteinbänke  mit  schwachen  nördlichen 
Einfällen,  welche  etwas  weiter  gegen  Süden  bei  Ssetinskü  in  Konglomerate 
übergehen. 

Die  Nacht  wurde  in  Chumara,  in  einer  früheren  Militärkaserne  ver- 
bracht,  nach   meiner  Messung  837   m   (A.   D.)  hoch  gelegen. 

Im  spitzen  Winkel  trifft  sich  der  aus  Südwesten  kommende  Kuban, 
der  Hauptquellfluss,  mit  der  vom  Süden  niederströmenden  Teberda.  Der 
von  den  Ouellbächen  des  Elbrussmassivs  gebildete  Kuban  führt  graue  und 
bedeutendere  Wassermengen  als  die  klare,  weissliche  Teberda.  Die  Ufer 
der  Teberda  werden  von  gelblich-braunen  Sandsteinen  gebildet,  über  welche 
dann  eruptive  Grünsteine  gelagert  erscheinen.  Während  vor  den  auf  einer 
kleinen  ebenen  Talfläche  gelegenen  ärmlichen  Hütten  des  Aul  Ssetinskü 
statt  der  Grünsteine  wieder  die  Sandsteinformation  durchbricht,  treten  südlich 
hinter  der  Ssetinskibrücke  (1064  m  A.  D.)  plötzlich  meist  grüne  und  rote, 
breccien-  und  konglomeratartige  Gesteine  und  vorwiegend  arkosenartige 
.Sandsteine  auf.  Diese  Konglomerate  besitzen  noch  Einschlüsse  von  Frag- 
menten kristallinischer  Schiefer,  von  Granitstücken  und  weiter  südlich 
auch  noch  von  lebhaft  rot  oder  rotbraun  gefärbten  Feldspatporphyren. 
Der  Wechsel  im  Gestein,  insbesondere  die  zum  Teile  demselben  ent- 
sprechenden scharfen  Zacken,  Zähne  und  Türme  der  Felsbildungen  am 
Talgehänge,  sowie  deren  lebhafte,  verschiedenartige  Färbung,  machen 
den  Weg  durch  die  Teberda  zu  einem  abwechslungsreichen.  Erst 
in  der  Nähe  des  Aul  Teberdinsk  (1-03  m  A.  D.)  werden  diese 
Formationen  von  kristallinischen  Schiefern,  Glimmerschiefern  und  Gneisen 
unterlaeert. 


*)   Diese  Ketten   bestehen   anscheinend  aus  Eruptivgesteinen. 
—     261      — 


Das  TF.nERDA-T.M.  v.v.i  Teberdinsk. 


Eingeborene  aus  Teberdinsk. 


Während  des  Auf- 
enthaltes in  Teberdinsk, 
führte  ich  langwierige 
Unterhandlungen  über 
unsere  Weiterreise,  Ziel, 
Pferde  und  Träger  untl 
machte  dann  noch  eine 
photographische  Auf- 
nahme von  drei  der  an- 
gesehensten Bergbewoh- 
ner des  Auls. 

Teberdinsk  liegt  in 
einer  ebenen,  baum- 
losen Tahveitung,  deren 
Boden  mit  diluvialem 
und  alluvialem  Gestein- 
schutt aufgeschüttet  ist, 
worin  sich  der  Fluss 
tief   eingeschnitten    hat. 

Hinter  dieser  Talstufe  beginnt  das  Tal  sich  wieder  zu  verengen.  Der 
Weg  führt  höher  oben  durch  dichten  Birkenwald,  schon  mit  Kiefern 
untermischt,   in  welche    sich   dann    die   Riesenstämme    der  Tannen    mengen. 

Immer      mehr 
nimmt  nun  die 

Landschaft 
den  Charakter 
eines    alpinen 
Hochgebirgs- 
Tales  an.   Die 
schönen   Tan- 
nenwälder, 
das        saftige 
Grün  der  Mat- 
ten,   der   rau- 
schende Bach, 
hochaufstre- 
bende     Fels- 
im  Teberda-Tai.  hörner       über 


262 


Alpine  Hociigeiurgslandschaft  in  der  Teberoa. 

dem  Falgehänne  und,  in  einer  Lücke  desselben,  im  Süden  der  Anblick  firn- 
bedeckter Gipfel  geben  ihr  dieses  Gepräge.  Im  Nadelholz  liegt  die  stilleWasser- 
fläche  eines  kreisrunden  Teiches,  eines  alten  Moränensees.  Unweit  de.sselben, 
am  andern  Ufer  der  Teberda,  in  einem  einsamen  Hause  schlugen  wir  unser 
Hauptquartier  auf  Die  Seehöhe  dieses  Punktes  beträgt  1322  m  (A.  D.). 
Erst  am  23.  Juli,  nach  drei  langen  Regentagen,  setzten  wir  unsere 
Reise  talaufwärts  fort.  Wir  hatten  beabsichtigt,  den  wasserscheidenden 
Kamm  der  Hauptkette  am  Kluchor-Pass  zu  überschreiten,  in  das  südliche 
Tal    des  Klytsch,    eines  Ouellflusses    des  Kodor,    niederzusteigen    und    über 


Die  Teberda  und  die  Gipfel  und  Gletscher  im  Amanaus-Tale. 

den  Nachar-Pass  nach  Utschkulan  im  Karatschai  zurückzukehren.  Allein, 
schon  hier  musste  ich  mich  dem  Starrsinne  der  Teberdaer  beugen.  Sie 
erklärten,  es  sei  unmöglich,  mit  Tragtieren  diesen  Weg,  insbesondere  die 
Ueberschreitung  des  Nachar-Pa.sses,  auszuführen,  und  sie  wollten  sich  um 
keinen  Preis  herbeilassen,  als  Träger  des  Reisegepäckes  zu  dienen.  Alles 
Zureden,  alle  Versprechungen  waren  umsonst,  und  es  blieb  nichts  übrig,  als  vom 
Kluchor-Passe  wieder  zurückzukehren  und  dem  Gebiete  von  Karatschai  über  die 
Utschkulan  von  der  Teberda  trennenden  Ouerjoche  des  Gebirges  zuzustreben. 


—     263     — 


DiK  Teüerda-Sciii.uciit, 


Durch  Wälder,  welche  aus  verschiedenen  Laubhülzern,  Buchen, 
Weissbirken  und  höher  oben  schon  aus  Kiefern  und  Nordmann -Tannen 
bestehen,  und  dann  über  grünes  Wiesenland  führte  drei  Stunden  lang  der 
Weg.  In  einer  Höhe  von  etwa  1450  m  tritt  die  Teberda  in  eine  wieder 
erweiterte  Talsohle,  welche  sie  zum  Teil  überflutet  und  von  welcher  sich 
ein  besonders  schöner  Anblick  des  eisigen  Hintergrundes  —  die  Gipfel  mit 
den  sie  umschlingenden  Gletscherströmen  im  Seitentale  des  Amanaus  —  bietet. 
Bis  hierher  hat  die  Teberda  eine  senkrecht  auf  die  Achse  des  Haupt- 
kammes ziehende  Richtung  eingehalten.  Nun  ändert  sie  diesen  Lauf  und 
strömt  durch  ein  längentalartiges,  gegen  Südost  streichendes  Tal.  Aus 
dem  im  .Süden  sich  öffnenden  Amanaus-Tale  dringt  ein  bedeutender  Ouell- 
fluss  der  Teberda.  Am  Zusammenfluss  der  beiden  Bäche  liegen  grosse, 
alte  Moränen,  aus  Graniten,  Gneisen,  Porphyren,  Amphiboliten  bestehend 
und  von  Glazialschutt  bedeckt,  einst  die  Mittelmoränen  der  aus  dem 
Amanaus-  und  dem  Kluchor-Tale  (südöstlicher  Zweig  der  Teberda)  nieder- 
ziehenden Gletscher,  die  sich  hier  vereinigten.  Die  Teberda  dringt  aus 
einer  Enge,  welche  fast  senkrecht  aufragende,  zum  Teil  baumbestandene 
Gneismauern  bilden.  Der  schmale  Pfad  steigt  zur  Linken  an  diesen 
Wänden  empor.  In  der  Tiefe,  in  felsiger  Klüse  tost  mit  dumpfem  Donner- 
ton der  Bach.  Nach  etwa  einer  Stunde  erweitert  sich  dieses  Taldetile  der 
Teberda  und  in  einer  Höhe  von  etwa  1  700  m  empfängt  den  Wanderer  ein 
lano-credehntes  Wiesenhochtal,  dessen  Bergwände  mit  Laubwald  und  Nadel- 
hölzern bedeckt  sind.  Bei  einer  Hüttengruppe  öffnet  sich  links  ein 
Seitentälchen,  aus  welchem  der  einem  bedeutenden  Gletscher  entströmende 
Buulgenbach  tritt.  In  der  Höhe  erscheint  das  Gebirge,  das  zwischen  den 
beiden  Ouellflüssen 
der  Teberda  sich  ein- 
keilt. Es  sind  schwarze 
Felswände  mit  steilen 
Abstürzen,  an  welchen 
nur  wenig  .Schnee  haf- 
tet. Die  Gipfel,  unter 
welchen  eine  Dru-ähn- 
liche  Nadel  auffällt, 
waren  leider  zum  Teil 
in   Wolken  gehüllt. 

Nach  einer  weite- 
ren   Stunde,    während  Mündung   des   Buulgcn-Tales. 


264 


Der  See  Tumanlv-Gel  in  der  Teüerda. 

der  wir  mit  Ausnahme  der  allerletzten  Strecke  kaum  gestiegen  waren,  stehen  wir 
am  Ufer  eines  runden  Bergsees  ;  Tumanly-Gel.*)  Es  ist  ein  typischer  Moränen- 
see, und  die  ihn  umgebenden  Tahvände  und  der  Talboden  haben  das  morpho- 
logische Aussehen  einer  Moränenlandschaft.  Bewaldete  Hänge  senken  sich  von 
beiden  Seiten  zu  ihnen  herab,  indes  in  der  Hintergrundsferne  schon  geformte 
Felsberge,  zum  leil  schnee-  und  gletscherbedeckt,  sich  erheben.  Es  ist  ein 
reizendes  Bild,  das  hier  im  Kaukasus,  bei  dem  nahezu  gänzlichen  Mangel 
an  Seen,  eine  überraschende  Wirkung  ausübt.  Denn  dem  Kaukasus  fehlen 
nicht  nur  die  grossen  Seebecken  der  Voralpen,   sondern   auch   die  höher  im 


Der  Kluchor-Gletscher. 

Gebirge  gelegenen  Seen,  welche,  wie  die  Seen  des  Engadin,  Silvaplana, 
Sils  und  St.  Moritz  oder  der  Thuner  und  Brienzer  .See  und  noch  so  viele 
andere,  in  der  xAlpenwelt  berückend  schöne  Landschaftsbilder  hervorzaubern. 
Selbst  den  kleinen  Hochgebirgsseen,  wie  solche  zahllos  in  den  Alpen  liegen, 
begegnet   man   im   Kaukasus  äusserst  selten. 

Ein  scharfer  Anstieg  führt  später  auf  eine  höhere  Talstufe,  den  flachen 
Boden  eines  typischen  glazialen  Trog-Tales.  An  der  oberen  Grenze  des 
Nadelwaldes,  unter  einem  der  letzten  Vorposten  desselben,  einer  einsam 
dastehenden  Tanne,  Hess  ich  um  6  Uhr  abends  abpacken  und  das  Lager 
aufschlagen.  Die  Seehöhe  dieses  Punktes,  nach  einer  Messung  mit  dem 
Ouecksilberbarometer,  beträgt  2072  m  (B.  D.).  Sie  gibt  uns  zugleich  auch 
die  obere  Grenze  für  die  Baumregion. 

*)  Gel  =  See. 


265 


Der    l'JSSKE    UNTERHAI.IS    DES    Kl.rc'HOR-PASSES. 

Mit  Tagesanbruch  des  24.  Juli  siml  wir  wieder  unterwegs.  Steil 
steigen  wir  an  den  I  längen  durch  dichtes  Gebüsch  trockener  Rhododen- 
dron empor.  Auf  einer  Hochfläche  liegt  ein  Kosch,  und  eine  kleine  Schaf- 
herde weidet  auf  kurzgrasigem,  mit  Steinblöcken  bedeckten  Boden,  wo 
Ranunkeln,  Caret  und  Potentillen  sich  zeigen.  Die  Umgebung  ist  wild  und 
einförmig,  doch  bald  darauf  erschliesst  sich  gerade  im  Süden  der  Einblick 
in  eine  vom  langgestreckten  Eisstrome  des  Kluchor- Gletschers  erfüllte  Tal- 
schlucht, die  lange  in  Sicht  bleibend,  immer  wieder  den  Blick  auf  sich 
zieht.  Die  Vegetation  wird  jetzt  spärlicher  und  erstirbt  mit  dem  Aufsteigen 
vollends.       Trümmermassen     und     Geröll     mehren     sich,     und     das     nackte 

Gestein  — 
Gneise  und 
Gneisgranite 
—   haben   die 

Alleinherr- 
schaft gewon- 
nen. Es  ist 
jener  wilde 
und  öde  Ter- 
raingürtel der 

Hochtäler, 
welcher  sich 
oft  zwischen 
die  grünende 
Welt  derTiefe 
und  die  eisige 
Eissee  unterhalb   des  Kluchor-Passes.  Recrion  der 

Höhe  Itgt. 
Diese  eröffnete  sich  dann  hier,  wie  mit  einem  Zauberschlage,  mit  all 
ihrer  eigenartigen,  majestätischen  Schönheit.  Auf  der  obersten  Stufe 
des  Tales,  in  einer  Höhe  von  2690  m  (2664  m  B.  D.),  ganz  nahe 
unterhalb  der  liöchsten  Zinken  des  Kammgrates,  liegt  die  stahlblaue 
Fläche  eines  Bergsees  ausgegossen.  Ein  abbrechender  Gletscher 
hängt  an  dem  umschliessenden  Bergrund,  unter  welchem  schult-  und 
schneebedeckte  Gehänge  bis  an  sein  Ufer  reichen.  Seitwärts  zieht  ein 
breites  Eirnfeld  in  langsamer  Steigung  zur  Passhöhe  des  Kluchor.  Auf  der 
Seeflut  aber  schwimmen  Schneeplatten  und  Eisblöcke,  eine  herrliche  Er- 
innerung an   die    Eisseen    der   Alpen.      Während     unseres   Aufstieges    hatte 


266 


Sturm  am  Kluchor-Pass. 

sich  der  Himmel  langsam  verdüstert ;  die  Sonne  war  unsichtbar  geworden 
und  ein  kalter  Ton  lagerte  auf  der  Landschaft,  der  den  polarartigen 
Charakter  derselben   noch   mehr  zur  Geltung  brachte. 

Durch  weichen  Schnee  watend,  gelangten  wir  zur  Passhöhe  des 
Kluchor.  I'Ls  war  9  Uhr.  Weite  Schneegefilde  dehnen  sich  im  Umkreise 
der  breiten  .Sattelhöhe  aus,  in  welcher  bizarre  Felsmassen  aufragen.  Doch 
die  Landschaft,  die  mit  ihrer  weissen  Hülle  im  Lichte  eines  klaren  Tages 
blendend  glänzen  muss,  hatte  eine  graue  I*"ärbung  angenommen;  immer 
dichter  wurde  die  Nebelhülle  der  Berge,  und  über  ihre  Abhänge  und  Grate 
brauste  der  Sturm. 

Die  Höhe  des  Kluchorpasses  beträgt  2816  m.  Die  Temperatur  der 
Luft  war  auf  3,2"  C.  gesunken.  Die  kristallinischen  Gesteine  der  Haupt- 
kette sind  schon  vom  Eissee  an  von  Granitporph\ren  und  andern  eruptiven 
Gesteinen  durchsetzt.  Sowohl  diesseits,  wie  auch  jenseits  der  Sattelhöhe 
treten  solche  bis  2  m  mächtige  Diabas-Grünsteingänge  im  Granit  auf, 
Zeugen  jener  Gewalten,  die  weiter  im  Osten,  nördlich  der  Hauptkette,  die 
den  Kaukasus   beherrschenden   Vulkanriesen   aufvvarfen. 

Um  Mittag  waren  wir  wieder  bei  unserer  Lagerstelle,  wo  in  grösster 
Eile  zusammengepackt  wurde,  da  es  jetzt  zu  regnen  begann.  In  einer 
Stunde  waren  wir  am  Tumanlysee,  in  einer  weiteren  -Stunde  am  Kosch  an 
der  Oeffnung  des  Amanaus-Tales,  dessen  Felsnadeln  uns  jetzt  im  Nebel- 
wallen noch  wilder  und  steiler  erschienen,  und  um  8  Uhr  nachts  trafen  wir  wieder 
im  Stand(]uartier  ein  —  im  ganzen  ein  langer,  aber  interessanter  Tagesmarsch. 

25.  Juli.  L'eber  die  vom  Hauptkamme  gegen  Norden  ausstrahlenden 
Bergzüge,  welche  zwischen  den  oberen  Talgebieten  der  Teberda  und  des 
Kuban  streichen,  wollte  ich  jetzt  nach  Utschkulan,  dem  am  Kuban  gelegenen 
Hauptort  des  Karatschaigau,  gelangen. 

Im  Osten  öffnet  sich  auf  das  Teberda -Tal  das  kleine  Seitentälchen 
des  Eptschik-Ssu,  durch  welches  unser  Weg  führt.  Eine  üppige  Vegetation 
umfängt  uns  hier,  welche,  wie  es  scheint,  der  von  hohen  Wänden  um- 
schlossenen, geschützten  Lage  ihr  Entstehen  zu  verdanken  hat.  Später 
folgt  Laubwald  und  dann  eine  Weideregion,  begrünte  Talterrassen,  die 
immer  wieder  mit  vegetationslosen,  steinigen  Stufen  abwechseln.  Wir  waren  erst 
um  10  Uhr  vormittags  aus  der  Teberda  aufgebrochen,  und  die  Hitze  auf  dem  oft 
sehr  steil  ansteigenden  Wege  wurde  drückend.  Der  Himmel  war  bewölkt, 
kein  Lüttchen  regte  sich  und  es  herrschte  eine  beängstigende  Gewitterschwüle. 

Von  einzelnen  Punkten  boten  sich  hübsche  Blicke  auf  die  rechte 
Talwandung  der  Teberda,   sonst  war  der  Weg  höchst  einförmig.     Wir  be- 

—      267      — 


Über  dkx  Teberda-Dout-Pass. 

nötigten  4Y2  Stunden  bis  wir  den  Uebergangspunkt  im  Ouerrücken  er- 
reichten, welciier  zwischen  der  Teberda  und  dem  Dout  -Tale  streicht.  Die 
Höhe  des  Passes  beträgt  3033  m  (B.  D.)  nach  einer  Messung  mit  dem 
Ouecksilberbarometer,  es  waren  daher  1  700  m  im  Anstiege  von  der  Teberda 
zu  überwinden  gewesen.  Die  Passhöhe  liegt  höher  als  der  im  Hauptkamm 
eingeschnittene  Kluchor-Pass.  Die  von  der  Hauptkette  nach  Norden  ausstrah- 
lenden Ouerrücken  erheben  sich  zu  relativ  bedeutenden  Höhen,  bilden  schmale 
Kämme  und  zeichnen  sich  durch  die  steile  Neigung  der  Hänge  auf  beiden 
Seiten  aus.  Das  Gestein,  welches  wir  auf  der  Teberdaseite  bis  zur  Passhöhe  vor 
uns  hatten,  war  Glimmerschiefer,  aber  unmittelbar  nördlich  davon  —  in  geolo- 
gischer Beziehung  von  ganz  besonderem  Interesse  —  liet  die  Grenze  zwischen 
den  kristallinischen  Schiefern  und  den  roten  und  braunen  Konglomeraten, 
denen  wir  im  Teberda-Tale  nördlich  des  Aul  Teberdinsk  zuerst  begegnet  sind. 

Als  wir  die  Passhöhe  erreichten,  war  jede  F"ernsicht  verdeckt,  und 
auch  auf  den  umliegenden  Höhen  lag  dichter  Nebel.  Es  wurden  die  In- 
strumente beobachtet  und  dann  sofort  der  Abstieg  in  das  Dout -Tal  an- 
getreten. Wir  waren  jedoch  kaum  einige  Schritte  abwärts  geeilt,  als  plötz- 
lich die  Grathöhe  der  uns  gegenüberliegenden  Wand  des  Dout -Tales  sicht- 
bar wurde  und  über  der  Wolkenschicht,  welche  alles  deckte,  bergähnliche 
F"ormen  erschienen,  die  im  ersten  Augenblicke  kaum  von  derselben  zu  unter- 
scheiden waren,  bald  aber  immer  mehr  sich  abklärten.  Atemlos  stürmte 
ich  zurück,  die  Höhe  hinan.  Das  Schneegebirge,  das  dort  hoch  über  die 
Wolkenburgen  ragte,  einsam  und  in  gewaltiger  Grösse,  war  Elbruss,  der 
Minghi-Tau.  Es  ist  nur  der  westliche  Gipfel  sichtbar,  und  zwar  nur  der 
unter  der  höchsten  Spitze  liegende  Kratereinbruch,  der,  von  hier  gesehen, 
die  Eorm  von  zwei,  mit  dunkeln  Felsen  bepanzerten  Erhebungen  annimmt, 
welche  auf  der  mächtigen  Firnbasis  des  Gebirges  ruhen. 

Erst  um  4  Uhr  30  INIin.,  nachdem  ich  auch  versucht  hatte,  die  Er- 
scheinung photographisch  festzuhalten,  verHessen  wir  wieder  die  Höhe.  Nun 
stürmten  wir  zwei  Stunden  lang  durch  Gräben  steil  abwärts  und,  aus  einem 
engen  Steindefile  tretend,  sahen  wir  plötzlich  die  Hütten,  welche  den  Aul 
Dout  bilden,  vor  uns.  Es  ist  ein,  nach  meiner  Barometermessung  1S3S  m 
(B.  D.)hoch  liegendes,  ärmliches  Dorf,  in  trostlos  öder  Umgebung,  nahezu  ohne 
alle  Vegetation,  ohne  Baumwuchs.  Nach  allen  .Seiten  trifft  der  Blick  nur 
nackte   Gesteinhänge:    ein    einförmiges,    beinahe    hässliches    Landschaftsbild. 

Unsern  Kosaken  hatte  ich  als  Quartiermacher  vorausgeschickt;  allein, 
als  wir  in  Dout  anlangten,  konnte  er  nichts  anderes  als  einen,  neben  einem 
Viehstall  gelegenen,    fensterlosen,    feuchten   Raum   anbieten.      Da,    wie    man 

—     268     — 


Ünv.K  HKX  Dout-Utsciikulax-Pass. 

sich  rasch  überzeugen  konnte,  in  dem  elenden  Dorfe  kaum  etwas  Besseres 
zu  finden  war,  Hess  ich  abpacken  und  die  nötigen  Vorbereitungen  zur  Be- 
reitung des  Abendmahles  —  wir  hatten  tagsüber  fast  nichts  gegessen  — 
treffen.  Ich  selbst  stellte  sofort  die  Instrumente  auf,  da  ich,  wenn  nur 
möglich,  abends  um  7  Uhr  zu  beobachten  trachtete.  Zuerst  las  ich  wie 
immer  das  Ouecksilberbarometer,  System  Gay-Lussac,  ab,  entdeckte  jedoch 
zu  meiner  grössten  Bestürzung,  dass  Luft  in  die  Ouecksilberröhre  gedrungen 
war.      Dies  drückte  auf  die  auch  sonst  nicht  sonderlich  gute  Stimmung  des 


Elbruss  vom   Dou t-Utschkulaii-Pass. 


Abends  noch  mehr.  Zum  Glück  hatte  ich  diesmal  zwei  Ouecksilberbarometer 
mitgenommen,  und  so  konnten  die  Beobachtungen  noch  immer  an  dem 
andern,   einem   Fortinbarometer,   vorgenommen   werden. 

26.  Juli.  Von  Dout  hat  man  abermals  einen  schmalen,  steilen  Scheide- 
rücken zu  überschreiten,  um  jenseits  die  Ortschaft  Utschkulan  am  Kuban  zu 
erreichen.  Der  Weg  führt  wieder  an  der  Grenze  zwischen  Glimmerschiefer 
einerseits  und  Konglomeraten  und  roten,  tonig-sandigen  Schiefern  anderseits. 
In  tektonischer  Beziehung  bot  das  linke,  steile  Talgehänge  mit  seinen  stark 


Anblick  dks  Elbruss. 

gefalteten  Schichten  bei  Dout  ein  höchst  interessantes  Bild,  das  sich  um  so 
schöner  entwickelte,  je  höher  wir  an  der  gegenüberliegenden  Talwand 
emporstiegen.  Die  Gegend,  in  welcher  wir  wanderten,  war  in  landschaft- 
licher Beziehung  womöglich  noch  einförmiger  als  die  am  Tage  vorher  durch- 
zogene, da  sich  von  keinem  Punkte  eine  Aussicht  bot  und  der  Rückblick 
auf  das  Tal  des  Dout-Baches  nur  ödes  Steingehänge  traf.  Dagegen  trat 
uns,  als  wir  nach  2V2  Stunden  die  Passhöhe  erreicht  hatten,  wieder  Elbruss 
in  überraschender  Grösse   entgegen,   ein  herrlicher  und  ergreifender  Anblick. 

Die  Höhe  des  Dout-Utschkulan-Passes  beträgt  nach  meinen  Messungen 
2567  m  (B.  D.),  ist  also  niedriger  als  der  Dout -Teberda-Pass.  Ich  erklomm 
eine  südlich  des  Ueberganges  sich  erhebende  Kuppe  und  photographierte 
von   dort  aus   das  Elbrussbild. 

Der  Abstieg  führte  durch  in  den  Wänden  tief  eingeschnittene  Gräben. 
Auf  mitderer  Höhe  dehnen  sich  begrünte  Weideterrassen  aus,  auf  welchen 
zahlreiche  Kosch  sich  befanden.  Die  gegen  Utschkulan  geneigte  Abdachung 
des  überstiegenen  Ouerrückens  ist  weniger  steil  als  die  Doutseite.  Während 
des  Abstieges  bleibt  Elbruss  immer  in  Sicht.  Um  die  Gipfelhöhe  hatten 
sich  weisse  Nebelstreifen  geschlungen,  die  jedoch  bald  wieder  zerflatterten, 
und  noch  zur  Mittagszeit  ragte  der  eisumhüllte  Vulkanriese  unbewölkt  in 
das  dunkelblaue  Firmament. 

In  der  Taltiefe  wurden  die  Hüttengruppen  von  Utschkulan  sichtbar, 
und  am  frühen  Nachmittage,  3'/o  Stunden  nach  dem  Verlassen  der  Pass- 
höhe,  hatten  wir   sie   erreicht.      (1427  m.) 


Aul  Chursuk. 


XX.  KAPITEL. 

Nordwärts  um  den  Elbruss. 

Ks  ragt   iler  hcihe  Elborus, 

So  weit  der  Himmel  reicht. 

Der  Frühling  blüht  an  seinem  Ftiss, 

Sein  Haupt  ist  schncefjebleiclit. 

Mirza  Schafty. 

Das  Elbrussmassiv  wird  mit  der  wasserscheidenden  Hauptkette  durch 
einen  kurzen,  südlich  streichenden  Kammzug  verbunden,  welcher  recht- 
winklig auf  dieselbe  stösst  und  dort  eine  scharfe  Ecke  bildet.  An  den 
westlichen  Abhängen  des  Elbrussmassivs  und  dieses  Verbindungszuges,  so- 
wie an  der  nördlichen  Abdachung  des  Hauptkammes  entspringen  die  Bäche, 
welche  den  ösdichen  und  bedeutendsten  Ouellfluss  des  Kuban,  den  Ullu-kam 
nähren,  der  eine  kurze  Strecke  nördlich  von  Utschkulan  sich  mit  dem 
gleichnamigen,  aus  dem  Süden  strömenden  Ouellbach  vereinigt  und  den 
Kuban  bildet.  Etwa  8  km  vor  der  Einmündung  des  Utschkulan  nimmt 
derselbe  den  gleichfalls  von  dem  VVestgehänge  des  Elbruss  niederziehenden 
UUu-chursuk-Bach  auf  In  diesem  Ouellgebiet  des  Kuban  beabsichtigte  ich 
vorzudringen   und,   das  Ullu-kam-Tal  bis  an  seinen  Ursprung  verfolgend,   den 


—     271 


Das  Volk  der  Karatschaek. 

das  Elbrussmassiv  mit  der  Hauptkette  verbindenden  vergletscherten  Kamm- 
zug zu  übersteigen,  der  im  Osten  das  Firngebiet  des  Asaugletschers  über- 
ragt,  um  zu   den   Bakssanquellen   und   nach   Urussbieh  zu   gelangen. 

Utschkulan,   der  Aul,   den  wir  am  Abend   des  26.  Juli   erreicht  hatten, 

ist  Hauptort  des  Karatschai- 
Gaues.  Die  Berglandschaften 
im  östlichen  Ouellgebiet  des 
Kuban  werden  \on  moham- 
medanischen Tataren  be- 
wohnt, Stammverwandten  der 
weiter  im  Osten,  in  den  Tälern 
des  Bakssan,  Tschegeni  und 
Tscherek  sesshaften  Bergtata- 
ren. Es  ist  einVolkvon  patriar- 
chalischen, aber  rohen  Le- 
bensgewohnheiten. Die  Klei- 
dung, sowohl  für  Männer  als 
Frauen,  ist  dieselbe  wie  bei 
den  Bakssantataren,  mit  wel- 
chen sie  auch  in  Sitten  und 
Gebräuchen  viel  ähnliches 
haben.  Sie  sollen  vor  drei- 
oder  vierhundert  Jahren,  ver- 
eint mit  den  Bakssantataren, 
aus  der  Krim  gekommen 
sein  und  nach  kürzeren  und 
längeren  Aufenthalten  an  ver- 
schiedenen Orten  sich  in 
den  hohen  Gebirgstälern  der  von  ihnen  jetzt  bewohnten,  damals  menschen- 
leeren Gegend  niedergelassen  haben.  Viehzucht  bildet  die  Hauptbeschäf- 
tigung der  Karatschaier  und  verschafft  ihnen  Nahrung.  An  zahlreichen, 
auf  den  Gebirgsmatten  liegenden  -Kosch  wird  sie  in  gleicher  Weise  wie 
bei  den  in  den  nördlichen  Ouertälern  ösdich  vom  Elbruss  lebenden 
mohammedanischen  Tataren  getrieben.  Wo  der  dürftige,  wenig  ertrag.s- 
fähige  Boden  es  erlaubt,  wird  er  bestellt,  und  1  lolzschlag  und  Hinabflössen 
auf  dem    Kuban    gibt   vielen   Karatschaiern    einen    geringen  Erwerb. 

Am     Morgen      des      27.     Juli      verliessen      wir       den      Aul      Utsch- 
kulan,   wanderten     bis     zum    nahen     Zusammenfluss     des    Utschkulan      mit 


Karatschaifiauen    aus  Utschkulan. 


272 


WkICKRINC    DKK   ClUKSLKKi;   ÜllER    GLETSCHERPÄSSE   ZU   GEHEN. 


dem  Ullukam  und  dann,  uns  in  das  Tal  des  letzteren  wen- 
dend, nach  dem  Aul  Chursuk  (1479  m  B.  D.)-  In  einer  Lücke 
der     Talwande     erhob     Elhruss  sein    blendendweisses    Haupt. 

Ich  hatte  schon  früher 
am  Abend  unsern  Ko- 
saken nach  Chursuk  ge- 
schickt, um  zur  Ausfüh- 
rung unseres  Reisepla- 
nes Pferde  und  Trag- 
tiere für  die  Talreise 
und  die  genügende  An- 
zahl Träger  für  den 
Gletscherübergang  zu 
werben.  Als  wir  in 
Chursuk  eintrafen,  fan- 
den wir  vor  dem  Ge- 
meindehause die  ganze 
Dorfeinwohnerschaft  ver- 
sammelt, erhielten  aber 
sofort  die  unerfreuliche 
Mitteilung,  dass  nie- 
mand willens  sei,  uns 
auf  der  geplanten  Tour 
zu  begleiten.  Die  Berg- 
bewohnergaben an,  den 
Weg  nicht  zu  kennen, 
und  als  ich  mich  erbot, 
die  Leitung  der  Kara- 
wane zu  übernehmen,  er- 
klärten sie  die  Ausfüh- 
rung eines  solchenUeber- 
ganges  für  unmöglich. 
Alle  Mittel  der  Beredsamkeit,  Vorstellungen  und  Geldanerbieten  verfehlten 
ihre  Wirkung.  Nur  zu  bald  hatte  ich  mich  überzeugt,  dass  nicht  so  sehr 
wirkliche  Bedenken,  als  Unlust,  uns  zu  begleiten,  die  Ursache  der  Weigerung 
war.  Die  unter  einem  ohrenbetäubenden  Lärm  geführten  Verhandlungen 
dauerten  mehrere  Stunden,  blieben  aber  leider  ohne  Erfolg,  und  da  das 
Wetter  schön   war   und   ich   die  goldene   Zeit  nicht  ganz  verlieren  wollte,   so 

Dechy:  Kaukasus.  ^^ 

—       273       — 


Karatschaer  aus  Utschkulan. 


Ix    PAS    HOCIITAI.    DES    Ul.I.UKAM, 

sammelte    ich    rasch    entschlossen  einen   Trui)p   Leute,    um    wenigstens    den 
Talhintergrund   zu   besuchen. 

Um  3  Uhr  nachmittags  zogen  wir  dem  Ulki-kam-Bache  entlang,  gegen 
Süden.  Wir  befanden  uns  hier  ganz  im  kristallinischen  L'rgebirge.  Das 
Gefälle  des  Tals  ist  in  seinem  unteren  Teile  nur  gering,  und  in  erweiterten 
Talpartien  oder  auf  weniger  geneigten  Halden  der  Seitenwände  sieht  man 
sorgfältig  gepflegte  Ackerfelder  und  Heuschläge.  Dann  schliessen  sich  die 
Bäume,  meist  Weissbirken  und  Kiefern,  zu  au.sgedehnten  Waldbeständen 
aneinander. 

Nach  zweistündiger  Wanderung  verengt  sich  das  Tal.  Mit  steilen 
Felsen  erheben  sich  zu 
beiden  Seiten  die  Tal- 
wände, zwischen  welchen 
ein  hoher  bewaldeter 
Riegel  die  ebene  Tal- 
sohle schliesst.  Der  Rie- 
gel ist  zweifelsohne  eine 
alte  Endmoräne  des 
Ullukam- Gletschers  der 
Eiszeit.  Rechts  hat  der 
Bach  in  tiefer  Rinne 
seinen  Weg  eingeschnit- 
ten. Darüber  erscheint, 
in  Wolken  gehüllt,  glet- 
schertragendes Gebirge. 
Nachdem  wir  diese  Bar- 
rikade hinter  uns  hatten,  war  die  Wanderung  durch  das  einsame  I  loch- 
tal,  das  stellenweise  noch  immer  schöne  W^eidegründe  bietet,  einförmig. 
Eine  Reihe  von  Seitentälern  öffnet  sich  auf  dasselbe.  Erst  bei  einbrechender 
Dunkelheit,  fast  fünf  Stunden  nach  dem  Verlassen  von  Chursuk,  kamen  wir 
zu  mehreren  in  der  Höhe  von  2224  m  (A.  D.)  liegenden  Hütten.  Von  den 
Hirten  wurden  wir  freundlich  aufgenommen,  und  in  einer  kleinen  niedrigen 
Hütte  bezogen  wir  unser  Nachtquartier.  Ein  Karatschai-Fürst,  der  sich  uns 
hier  vorstellte,  half  den  Abend  kürzen.  Draussen  war  es  sternenhell  und 
alles  versprach   für  morgen   einen   schönen  Tag. 

hl  der  Frühe  des  28.  Juli  ging  es  weiter  talaufwärts;  vorerst,  nach 
kurzem  Steilanstiege,  schon  jenseits  der  Grenze  der  Fichtenwälder,  in  eine 
höhere   Talstufe,   in   die   Region  der    Alpenwiesen.        Man    gelangt    dann    in 


Riegel  im   Uilukam-Tal. 


274 


DKR    CHf)T|l.TAl'-Gl.ETS(llKR    UND    SEIXK    UMRANDUNG. 

ein  ebenes  Talbecken,  dessen  ßoden  mit  Gerolle  und  stellenweise  mit 
Rhododendrongebüsch  bedeckt  ist,  und  in  welchem  zwei  Bergbäche  zusammen- 
treffen. Der  linke  Zufluss  kommt  aus  der  Oeffnung  der  von  den  Berg- 
bewohnern Chotjutau  genannten  Schlucht,  welche  wir,  steil  an  den  Talwänden 
ansteigend,  umgingen.  In  der  Höhe  traten  wir  in  einen  Kessel,  der  sich 
plötzlich  öffnet.  Fast  kreisförmig  erhebt  sich  über  eine  zum  Teil  geröllbcdeckte, 
zum  Teil  etwas  begrünte,  von  mehreren  Wasseradern  durchzogene  Fläche  ein  steil 


Das  Bergrund   des   Chotjutau-Gletschers. 


abfallendes,  von  gezähnten  Felsbändern  durchzogenes  Bergrund.  Von  dessen 
F'irnlagern  wird  der  stark  zerklüftete  Gletscher  genährt,  der  unten  in  das  ihn 
kreisförmig  umschliessende  Felsgehänge  gebettet  ist.  Ich  nannte  ihn 
Chotjutau-Gletscher.  Die  Szenerie  ist  malerisch,  ohne  jedoch,  sei  es  in 
den  Formen  der  Berggipfel,  sei  es  in  der  Ausdehnung  der  Fisbedeckung, 
bedeutend  zu  werden,  wie  man  es  bei  der  Nähe  des  Elbrussmassivs  vor- 
aussetzen könnte;  denn  der  vor  uns  liegende  Bergwall  gehört  zum  Elbruss- 
gebirge und  die  sichtbare  F'irnkuppe  zu  seinen  westlichen  Gipfelhöhen.  Die 
Nähe    des  V'ulkanriesen   wird    auch    schon  durch   .Andesitströme   angedeutet, 


Das  glaziale  Trii(;tal  des  Ulluosen. 

welche  im  Chotjutaukessel  mit  den  Graniten  und  Gneisgraniten  des  Grund- 
gebirges in  unmittelbarer  Ueberlagerung  sichtbar  werden,  und  die  Felsab- 
brüche  in  der  Höhe  dürften  alte  Kraterreste  sein.  Der  Kesselboden  liegt 
nach   meiner  Messung-   2700   m   (A.   D.)   hoch. 

Im  südöstlichen  Talast,  nach  welchem  wir  später  wanderten,  sehen  wir 
ein  Becken,  dessen  Flachboden  vollkommen  eben  auf  das  Haupttal  mündet 
und  mit  seinen  Tahvänden,  an  welchen  die  korrespondierenden  Terrassen 
deutlich  erkennbar  sind,  die  typische  Form  des  glazialen  Trog-Tales  zeigt. 
Ein  das  Tal  erfüllender  grosser  Gletscher  zieht  mit  sanftem  Gefälle  in  das- 
selbe —  der  Ulluosen-Gletscher ;  aus  zwei  Zuflüssen  zusammengesetzt,  trägt 
er  auf  seinem   Rücken   reinen   Eises  eine  breite,   schwarze  Mittelmoräne  ;  das 


Ulluosen-Gletscher, 


Nährgebiet  liegt  schon  an  den  Firnmulden,  welche  die  Hauptkette  und  die 
Ecke  des  von  ihr  zum  Elbruss  ziehenden  Bergzuges  bilden.  Die  Berg- 
bewohner bezeichnen  die  Firnhöhen  dieses  Gletschertales  mit  dem  Namen 
Asau,  also  mit  jener  Bezeichnung,  welche  die  Bakssantataren  dem  jenseits 
im  Osten  gelegenen  Gletscher,  welchem  die  Baksanquellen  entspringen, 
geben.  -Schon  diese  Namensbezeichnungen  scheinen  zu  beweisen,  dass  Ueber- 
gänge  über  diese  Gletscher  in  das  Bakssangebiet  auch  den  Karatschaiern 
bekannt  sein   müssen. 

Gegen  Abend  trafen  wir  wieder  in  Chursuk  ein,  wo  wir  uns  im 
Gemeindehause  einquartierten.  Da  ich  durch  die  Weigerung  der  Berg- 
bewohner, uns  auf  Gletscherwegen  nach  dem  Bakssantale  zu  begleiten, 
gezwungen    wurde,    diesen    Plan     fallen    zu     lassen    und    nur     den     soeben 


Festgkiiai.tkx  i\  Ciil'ksuk. 

geschilderten  Ausilug  in  den  Hintergrund  des  Ullukam-Tales  zur  Ausführung 
bringen  konnte,  hatte  ich  an  die  Stelle  des  ersten  Planes  eine  Umwanderung 
des  Elbrussmassivs  im  Norden  bis  nach  Urussbieh  im  Bakssan-Tal  gesetzt, 
welche  mir  die  Gelegenheit  bieten  sollte,  seine  nördliche  Abdachung  kennen  zu 
lernen   und   in  geologischer   Beziehung  lohnende  Aufschlüsse  versprach. 

Für  den  folgenden  Tag  waren  die  Lastpferde  und  die  Treiber  be- 
stellt. Am  frühen  Morgen  waren  wir  wach  und  hatten  bald  darauf  unsere 
Betten,  welche  wir  auf  dem  Boden  der  Gemeindestube  ausgebreitet  hatten, 
eingepackt  und  das  Reisegepäck  fertiggestellt.  Es  hiess  vorerst,  dass  drei 
Pferde  bereit  seien  und  die  übrigen  von  den  Weideplätzen  bald  kommen 
würden.  Bald  gab  es  aber  keine  Pferdetreiber,  bald  wurde  die  zugesagte 
Bezahlung,  trotzdem  sie  die  höchste  war,  die  man  bis  jetzt  im  Kaukasus 
gefordert  hatte,  zu  gering  gefunden,  dann  kamen  wieder  Leute,  die  das 
Gepäck  auf  das  Gewicht  prüften,  und  endlich  waren  auch  die  angeblich 
schon  vorhandenen  Pferde  verschwunden.  Die  ganze  Zeit  tobte  vor  dem 
Hause  eine  aufgeregte  Menge,  wie  es  schien,  in  strittigem  Meinungsaus- 
tausche, laut  schreiend,  begleitet  von  lebhaften  Gestikulationen.  Der  uns 
begleitende  Milizsoldat  war,  wie  immer  in  solchen  Fällen,  von  keinem  Nutzen, 
der  Starschina  hatte  schon  längst  seine  Ohnmacht  eingestanden  und  wusste 
keine  neuen  Lügen  mehr  zu  erdichten,  bis  endlich  gegen  Mittag  Ruhe  ein- 
trat, die  Menge  sich  verlief,  uns  unserm  Schicksale  überlassend.  So  sassen 
wir  denn,  trauernd  ob  des  verlorenen  schönen  Tages,  ohne  Ahnung,  wie 
uns  aus  der  unleidlichen  Situation  zu  ziehen,  irritiert  durch  das  Gefühl 
unserer  Ohnmacht,  auf  unsern  Gepäcksballen,  die  in  der  Stube  umher- 
lagen. Der  Hunger  —  wir  hatten  seit  frühem  Morgen  nichts  gegessen  — 
machte  sich  geltend,  und  wir  mussten  endlich  unsere  Gepäcksäcke  wieder 
öffnen,   um   unser  Mittagsmahl  zu   bereiten. 

Nach  längerer  Zeit  kam  wieder  der  Dorfälteste,  nach  unsern  Wünschen 
fragend.  Es  klang  dies  beinahe  wie  Hohn.  Meine  Drohung,  mit  Rück- 
lassung  meines  Gepäckes  unter  Aufsicht  des  Milizsoldaten  nach  Batal- 
patschinsk,  dem  Wohnsitze  des  Pristaws  —  allerdings  zwei  Tagereisen!  — 
zu  wandern  und  das  Gebahren  der  Chursuker  in  gebührendes  Licht  zu 
setzen,  schien  nicht  ganz  ohne  Wirkung  zu  bleiben,  denn  er  beteuerte  nun, 
nach  allen  Himmelsrichtungen  auf  die  Weideplätze  geschickt  zu  haben,  um 
Pferde  zu  beschafi'en.  In  diesem  Augenblicke  traten  zwei  Bergbewohner 
mit  dem  Gemeindeschreiber  ins  Zimmer.  Der  eine,  der  schon  früher  die 
Menge  haranguiert  hatte  und  den  ich  Mita  nennen  hörte,  ergriff  die  offene 
Order  des  Kubangouverneurs,   welche  ich  in   Händen  hatte,    schleuderte   sie 

—     277      — 


Durch  das  Chursuk  Tat,  Pj.bkuss  kntgegen. 

zu  Boden  und  schrie  mir  ins  tiesiclit,  ich  mÖL^e  mich  nun  überzeugen,  wie 
viel  Achtung  dem  Befehle  des  Gouverneurs  in  Chursuk  geschenkt  werde. 
Ich  glaube,  dieser  Ausbruch  der  Zügellosigkeit  des  Karatschaiers  war  unser 
Glück.  Dieser  hatte  das  Zimmer  verlassen,  und  der  Gemeindeschreiber, 
der  das  Papier  vom  Boden  aufgehoben  hatte,  schien  dem  Dorfältesten  Vor- 
stellungen zu  machen,  welche  Polgen  es  haben  könnte,  wenn  ich  gezwungen 
wäre,  nach  solchen  Vorkommnissen  nach  Batalpatschinsk  Berichte  zu  senden. 
Man  Hess  uns  wieder  allein,  und  nach  einiger  Zeit  kam  dann  der  Starschina 
mit  dem  Schreiber  und  einigen  Bergbewohnern,  welche  nach  genauer  Durch- 
sicht des  Reisegepäckes  sich  verpflichteten,  uns  am  nächsten  Tage  in  der 
von  mir  angezeigten  Wegrichtung  mit  Pferden  bis  nach  Urussbieh  im 
Bakssan  -  Tale  zu  begleiten. 

An  einem  trüben  Morgen  —  um  7  Ihr  des  30.  Juli  —  verliessen 
wir  Chursuk.  Wir  waren  froh,  dem  Karatschai  den  Rücken  zu  wenden, 
trotzdem  eine  drei  bis  vier  Tage  währende  Wanderung  durch  gänzlich  un- 
bewohntes Hochgebirge  uns  bevorstand,  bis  wir  das  Bakssan -Tal  zu  er- 
reichen hoftten,  und  wir  uns  in  Anbetracht  der  Anzeichen  schlechten  Wetters 
auf  nasse   Biwaks   in   hohen   Lagen  gefasst  machen   mussten. 

Am  linken  Ufer  des  von  steilen  Talhängen  eingefassten  Ullu-Chursuk- 
Baches  zogen  wir  aufwärts,  in  streng  östlicher  Richtung.  Die  Talflucht  des 
Ullu-Chursuk-Baches,  welcher  den  Gletschern  des  Elbrussmassivs  entspringt, 
sowie  die  Täler  der  andern,  dem  gleichen  Ouellgebiete  entstammenden 
Bäche  haben  eine  längentalähnliche  Bildung,  indes  wir  während  der  Wande- 
rungen im  Ouellbezirke  des  Kuban  gesehen  haben,  dass  die  der  kaukasischen 
Hauptkette  enteilenden  Zuflüsse  —  Teberda,  Dout,  Utschkulan  —  ihren  Weg 
durch  (Hiertäler  nehmen.  Dass  die  dem  Elbrussmassive  entströmenden 
Wasser  von  dieser  Richtung  abgelenkt  werden,  deutet  klar  darauf  hin,  wie 
im  Gebiete  der  Eruptivmassen  des  Elbruss  der  tektonische  Aufbau  des  Ge- 
birges ein   verschiedener  wurde. 

Drei  Stunden  lang  stiegen  wir  das  enge,  noch  mit  Eichten-  und 
Kiefernwaldung  bestandene  Tal  empor,  bis  wir  zu  einem  stattlichen  Kosch 
mit  grossen  Sennhütten,  gelangten.  P'lbruss  war  lange  sichtbar  geblieben, 
die  schwarzen  Kraterabstürze  hoben  sich  scharf  von  der  schneeigen  Hülle 
ab.  Zur  Rechten  zog  ein  weites  Schneeplateau  in  massiger  Steigung  zur 
Gipfelhöhe  empor.  Aber  dem  Berge  nahegerückt,  zeigt  sich  alles  schon  in 
bedeutender  Verkürzung,  und  der  Anblick  entbehrt  jener  Grossartigkeit, 
macht  nicht  jenen  beherrschenden  Eindruck,  welchen  derselbe  bietet,  wenn 
Elbruss   von   entfernteren   und   höheren   Standpunkten   erschaut  wird. 

—      27S      — 


Im  Noruwkstkn  i.ÄNf.s  des  Im.i'.kissmassivs. 

Bei  den  Sennhütten  vereinigen  sich  die  beiden  Bäche,  welche  den 
L'Ihi-Chursuk  bilden.  Der  aus  Süden  kommende  Bach  entsprinot  dem 
grossen  Kjukurtly  -  Gletscher,  welcher  von  den  westlichen  Flanken  des  El- 
bruss  niederzieht. 

Wir  verfolgten  den  nördlichen  (Juellbach,  Iiitjuk-tjube-kol.  Die  Weo-- 
richtung  bog  später  scharf  gegen  N.  N.  O.  ab  und  führte  —  ohne  jeden  Steg 
—  durch  einen  tiefen  Erosionsgraben,  immer  im  Bereiche  des  kristallinischen 
Grundgebirges,   welches   nackt  und   zerklüftet  ansteigt. 


Elbruss  vom  Nordwesten. 


Gegen  2  Uhr  erreichten  wir  auf  unserer  Elbrussumwanderung  die  erste 
Passhöhe  mit  2996  m  (B.  D.)  unter  den  Wänden  des  Ssadyrlar-Baschi. 
Uns  gegenüber,  im  Südosten,  dehnte  sich  das  langgestreckte  Firnplateau 
des  Elbruss  aus,  weite,  stellenweise  zerrissene,  wenig  ansteigende  Eis- 
flächen, welchen  das  niedrig  erscheinende,  kegelförmige  Gebilde  des 
Gipfelstockes  aufsitzt  —  alles  zum  Greifen  nahe.  Ich  wüsste  mich 
keiner  Szenerie  in  den  Alpen  zu  erinnern,  welche  sich  mit  dem  Anblicke 
vergleichen  Hesse,  welchen  das  Elbrussmassiv,  von  hier  gesehen,  darbietet. 
Es    mahnt    mehr    an    die    Bilder    norwegischer    Fields    als    an    die    steil    an- 


Der  Burun-tasch-Pass. 

strebenden  Linien  unserer  Alpengipfel  oder  der  Hauptkette  des  Kaukasus 
und  ihre  wechselvolle  Umwallung.  Unser  Standpunkt  war  eine  längs  des 
Elbrussmassivs  hinziehende  Hochfläche,  welche  am  ostlichen  Rande  dann 
plötzlich  abfällt.  Stellenweise  war  diese  von  Gruppen  hochalpinen,  phanero- 
gamen  Kräuterwuchses  bedeckt.  Es  erscheint  mir  bemerkenswert,  dass  hier 
an  der  Nordseite  des  Elbruss  die  hochalpine  Vegetation  eine  bedeutende 
Höhe  erklimmt.  Durch  eine  Lücke  der  im  Norden  aufsteigenden  Berg- 
wände erblickte  man  zwei  einander  folgende  Eelsketten,  von  welchen  die 
erste,  näherliegende  eine  gezackte  Gratlinie  zeigte,  die  zweite,  höhere  eine 
Dolomiten  ähnliche  Krönung  besass  und  an  die  Sellagruppe  in  Tirol  erinnerte. 

hides  ich  die  histrumente  ablas  und  dann  am  nördlichen  Gehänge 
emporstieg,  um  von  höheren  Standpunkten  aus  zu  photographieren  und  zu 
zeichnen,  hatte  Schafarzik  eine  kleine  geologische  Exkursion  in  der  Richtung 
eesfen  das  Elbrussmassiv  anoetreten.  Wir  trafen  um  s  Uhr  wieder  zu- 
sammen  und  stiegen  dann  in  einem  gegen  Norden  zur  Schlucht  des 
Tschimart-kol-Baches  ziehenden  Graben  sehr  steil  abwärts.  Nach  einer  kleinen 
Stunde  gelangten  wir  zu  einem  armseligen  Kosch.  Als  Unterkunft  diente 
den  Hirten  ein  aus  Holzstangen  bestehendes  Gerüste,  über  welches  einige 
Fetzen  eines  undefinierbaren  Stoffes  geworfen  waren.  In  der  Nähe  schlugen 
wir   das  Zelt  auf.     Die   Seehöhe  unseres  Lagerplatzes  betrug  2602  m  (B.  D.). 

Die  Nacht  im  Zelte  war  kalt  —  das  Minimalthermometer  zeigte  am 
Morgen  —  i"  C.  Wir  waren  früh  wach,  wärmten  uns  mit  heissem  Tee, 
was  bei  unsern  Leuten  länger  währte,  als  bei  uns  — ■  sie  müssen  auch 
ausserhalb  des  Zeltes  mehr  gefroren  haben  als  wir  — ,  so  dass  die  Karawane 
sich  erst  um   7   Uhr  (31.   Juli)   in  Bewegung  setzte. 

Trostlos  öde  war  alles  rund  um  uns  her,  bis  wir  nach  einem  pfad- 
losen Anstiege  von  i'/2  Stunden  wieder  die  Grathöhe  erreichten.  Wir 
standen  jetzt  auf  dem  vom  Elbrussmassiv  sich  gegen  Norden  loslö.senden 
Bergzuge,  der  das  Ouellgebiet  des  Ullu-Chursuk  vom  Malkaflusse  trennt,  also 
die  Wasserscheide  zwischen  Kuban  und  Terek  bildet.  Die  Höhe  des 
Burun-tasch-Pass  genannten Ueberganges  beträgt  307 2  m (31  lömB.D.).  W^ieder 
lag  das  Elbrussplateau  vor  uns;  von  seinen  Höhen  zog  eine  Reihe  von  Gletschern 
hinab.  Das  langgestreckte  Gletschergebilde  vor  uns,  der  Ullu-tschiran,'^')  birgt 
die  höchste  Malkaquelle.  Indes  ich  photographierte,  mass  Schafarzik  die 
Höhe  des  Gletscherendes  mit  2914  m  (A.  D.).  Die  Gletscher  an  der  Nordseite 
des  Elbrussmassivs  endigen  alle   in  bedeutender  Höhe,  und  auch   die  Schnee- 


*)  Tschiran   im  Tatarischen  gleich   Gletscher. 


Dkk  Vfk(;i.etsciiekun(;stvi>u.s  dks  I'Xp.rl'ssmassivs. 

grenze  liegt  mit  etwa  3450  m  sehr  hocli.  Hier  haben  sich  zu  den 
kHmatischen  Verhältnissen,  welche,  wie  an  anderer  Stelle  schon  bemerkt 
wurde,  eine  Verschiebung  in  Bezug  auf  die  Höhe  der  Gletscherenden  an 
der  nördlichen  und  südlichen  Abdachung  des  zentralen  Kaukasus  bewirkt 
haben,  noch  topographische  Faktoren  gesellt,  Terrainbildungen,  wie  sie  der 
Tektonik  der  hier  zur  Entfaltung  gelangten  Eruptivmassen  entsprechen. 
Die  unzähligen  schwarzen,  pechsteinartigen  und  roten,  perlitischen  Trachyt- 
blöcke,  welche  Schafarzik  auf  der  Endmoräne  vorfand,  entsprechen  der 
Trachytformation,  in  welche  diese  Gletscher  gebettet  sind.  Granitstücke  sah 
man   nur  in    untergeordneter  Menge. 

Von  dem  eisigen  Walle,  dessen  Höhen  schon  in  Wolken  gehüllt 
sind,  dringen  hinter  dem  Ullu-Gletscher  noch  drei  Gletscher  hinab,  und 
ganz  im  Osten  fliesst  aus  weiten  Firnreservoiren  eine  breite  Eismasse 
nieder,  welche  über  zerklüfteten  Felswänden  abbricht.  (Kyngyr-Ssyrt- 
Gletscher.) 

Hier  an  der  nördlichen  Abdachung  des  Elbrussmassivs,  die  ich  jetzt 
überblicken  konnte,  fand  ich  eine  wertvolle  Ergänzung  meiner  Beobachtungen 
an  den  Gletschern  seiner  Südseite  im  Bakssangebiete  und  am  Firnplateau, 
welches  ich  bei  der  Ersteigung  des  Elbrussgipfels  überschritt.  Im  Elbruss- 
massiv ist  der  geologische  Aufbau  und  die  durch  die  späteren  vulkanischen 
Eruptionen  erfolgte  tektonische  Ausgestaltung,  dem  es  sein  Entstehen  ver- 
dankt, weiteren  gebirgsformenden  Einwirkungen  wenig  ausgesetzt  gewesen, 
so  dass  der  geologische  Aufbau  auch  endgültig  das  morphologische  Bild  be- 
stimmt. Eine  mächtige  Eisdecke  hat  die  konvexe  Plateauoberfläche  des 
Massivs  schützend  umhüllt.  Dieses  weit  ausgedehnte  Firnplateau  ist  nun 
das  Nährgebiet  der  Gletscherströme,  welche  dem  Elbrussmassiv  entfliessen. 
Erst  wo  die  Firnmassen  den  Rand  der  Plateauhöhen  des  Elbruss  überfluten, 
bilden  sich  am  Gesteinsgehänge  des  mächtigen  Sockels  die  Begrenzungen, 
welche  die  einzelnen  Gletscherströme  überragen  und  voneinander  trennen. 
Wir  sehen  also  in  der  Vergletscherung  des  Elbrussmassivs  eine  Aehnlichkeit, 
eine  Uebergangsform  zwischen  dem  Inlandseis  Skandinaviens,  der  arktischen 
Gebiete  und  dem  alpinen  Vergletscherungstypus.  Statt  der  Muldenform 
der  Firnbecken,  die  das  Nährgebiet  eines  einzelnen  Gletscherindividuums 
bilden,  statt  der  schon  in  der  Firnregion  durch  diese  überragende  Fels- 
grate getrennten  Gletscher,  wie  solche  die  Alpen  und  auch  der  Kaukasus  be- 
sitzen, dessen  V^ergletscherungstypus  mit  dem  der  Alpen  analog  erscheint, 
ist  das  Firnplateau  am  Elbruss  das  gemeinsame  Sammelgebiet  der  Schnee- 
massen,  welche   die   nach  allen  Richtungen   abfliessenden  Gletscher  ernähren. 

—      2«!      — 


Das    OUELl^GEBIET   DER   MaLKA. 

Mächtige  Lavaströme  liegen  ausgegossen   an   den  Hängen,   an  welchen  auch 
die  Eismassen  niedergleiten. 

Die  Wegrichtung  im  Abstiege  wendet  sich  jetzt  östlich.  Die  Höhen 
waren  schon  längst  in  dichte  Wolken  gehüllt.  Bald  beginnt  mit  Regen  und  Hagel 
ein  Unwetter,  welches  aber  nicht  lange  anhält.  In  der  .Seehöhe  von  2564  m, 
am  Kajaeschik-Fass  (von  unsern  Leuten  Baschil-Tau  genannt),  wird  eine 
niedrige  Bergwelle  überstiegen.  Weit  sieht  man  durch  das  Tal,  das  unter 
uns  liegt,  hinaus.      Dort  windet  sich  der  Flu.ss  —    es    ist   die   Malka  —  in 


Trachytwände  im  Malka-Tal. 


schöner  Biegung  um  vorspringende  Ecken ,  welche  das  tafelförmige 
Gebirge,  das  sich  gegen  Norden  zu  ausdehnt,  bildet.  Die  Plateau- 
höhen brechen  mit  Steilwänden  ab,  oft  mit  grünen  Hängen  bis  an  den 
Fluss   herantretend. 

hnmer  dem  gletscherbedeckten  Wall  des  Elbrussmassivs  entlang  zogen 
wir  der  Tiefe  zu.  Die  Landschaft  wird  freundlicher,  der  Talgrund  weitet  sich 
und  wird  stellenweise  begrünt.  Vm  Mittag  sind  wir  bei  der  Vereinigung 
von  zwei  Bächen,  Malkazufiüssen,  angelangt.  Die  Talwände,  welche  in 
ihrer    nördlichen    Fortsetzune     immer     weiter     auseinandertreten,     sind     von 


TRACHVTWÄNnF,    l'NO    EklirVRAMIDEN    IM    OÜERSTEN    MAI.KA-TAL. 

bizarren  Felspartien  durchbrochen.  Die  Uferwände  der  Malka  zeigen  hier 
an  mehreren  Stellen  säulenförmig'  abgesonderten  Trachyt.  Dann  findet  sich 
wieder  unmittelbar  unter  Trachytiagern  ein  weisser  quarzitischer  Sandstein 
oder  ein  diabasartiges  Gestein,  und  auch  Ouarzporphyr  wurde  anstehend 
beobachtet.  Wo  dieser  Ouarzporphjr  mit  einer  Lage  glazialen  Schuttes 
bedeckt  ist,  hat  sich  mm  diircii  PIrosion  imd  Verwitterung  eine  Reihe 
von  Erdpyramiden  gebildet. 

Am    rechten   Malkaufer     waren  wir  auf   das    Grundgebirge    in   Form 
von   kristallinischen   Schiefern   gestossen,   das  erst  in   einiger  Entfernung  von 


Erdpy raniiden  im   Malka-Tal. 

einem  vom   Elbrussmassive  in   nordöstlicher  Richtung  zum   Malkatale   hinab- 
ziehenden,  mächtigen   Trachytlavastrome  unterbrochen  wird. 

Um  4^*2  Uhr  haben  wir  weit  ausgedehnte,  begrünte  Hochflächen  er- 
reicht, auf  welchen  Schafe  und  Rinder  weiden.  Bald  kommen  wir  zu  einer 
armseligen  Sennhütte,  welche  uns  als  Bakssankosch  bezeichnet  wird.  Es 
ist  ein  Hirte  aus  dem  Bakssantale  da,  auch  die  Herden  gehören  dahin. 
Die  Wasserscheide  zwischen  den  Bächen  Malka  und  Ullu-Chursuk,  also 
zwischen  den  Systemen  des  Terek  und  des  Kuban,  bildet  auch  die  Grenz- 
scheide zwischen  den  Völkerschaften  —  den  Karatschaiern  und  den  Baks- 
santataren   — ,   welche  westlich   und   östlich   derselben  leben. 


283 


NACim.ACKR    IN    DFK    HÜTTK    EINES    SCHÄFKKS    \()M    BAKSSAN-TaLE. 

Da  es  wieder  regnete,  zogen  wir  es  vor,  von  der  Hütte  Besitz  zu 
ergreifen  und  unser  Zelt  nicht  aufzuschlagen,  obgleich  das,  was  ich  Hütte 
nenne,  auch  hier  nur  aus  einem  einfachen,  aus  einigen  Stäben  errichteten 
Holzgerüste  bestand,  über  welches  Reste  einer  Burka  und  anderes 
Zeug  gebreitet  waren.  Am  Boden  lag  etwas  trockenes  Gras  und 
Reiser,  mit  welchen  auch  rund  herum  eine  Art  Wall  aufgeschichtet 
war.  Vorne  stand  die  so  erstellte  Hütte  dem  Wind  und  Regen 
offen.  Die  Seehohe  dieses  Lagers  beträgt  nach  meiner  Messung 
2336  m  (A.   D.). 

Am  Abend  wurde  das  Wetter  besser,  und  ich  gab  Befehl,  früh  aufzu- 
brechen. Um  6  Uhr  morgens  waren  wir  reisefertig,  das  Gepäck  sollte  auf  die 
Pferde  geladen  werden  —  aber  die  Pferde  erschienen  nicht.  Statt  derselben 
war  der  Pferdetreiber  gekommen,  mit  der  trotzig  vorgebrachten  Forderung,  es 
möge  ihnen  der  Lohn  ausbezahlt  werden,  sonst  würden  sie  die  Reise  nicht 
fortsetzen.  Ich  hatte  die  ähnliche  Geschichte  aus  dem  Jahre  1884  im 
Tscherek-Tale  noch  nicht  vergessen.  Ich  wies  den  Mann  ruhig,  aber  energisch 
mit  seinem  Begehren  ab,  sicherte  ihm  nochmals  die  ausbedungene  Bezahlung 
nach  Beendigung  der  Reise  in  Urussbieh,  im  Hause  des  Fürsten  Ismael  zu 
und  forderte  ihn  auf,  die  Pferde  zu  beladen.  Aber  die  Pferde  kamen  nicht, 
imd  das  vor  der  Hütte  aufgestapelte  Gepäck  blieb  unberührt  liegen. 
Stunde  um  Stunde  verstrich;  es  war  8  Uhr  geworden.  Höhnisch  lächelnd, 
lungerte  der  führende  Pferdetreiber  um  die  Hütte  herum.  Es  musste  ein 
Ende  gemacht  werden.  Gebieterisch  forderte  ich  den  Milizkosaken,  der  uns 
zu  unserm  Schutze  beigegeben  war,  auf,  die  Pferde  einfangen  und  zur 
Weiterreise  beladen  zu  lassen.  Ich  drohte,  nach  Urussbieh  zu  wandern 
und  meinen  Gefährten  beim  Gepäck  zurückzulassen,  auf  Kosten  der  Pferde- 
treiber Pferde  von  Urussbieh  zu  bringen,  wodurch  sie  ihres  Lohnes  ganz 
verlustig  gehen  würden,  und  setzte  hinzu,  dass  sie  einer  strengen  Bestrafung 
seitens  der  russischen  Behörde  entgegenzusehen  hätten.  Aber  jetzt  ergrift 
auch  der  Milizkosak  die  Partei  der  Pferdetreiber,  stellte  sich  dicht  vor  mich 
hin  und  legte  drohend  die  Hand  an  seinen  Kindschal.  Nun  ergriff  Schafarzik 
den  Revolver  und  trat  an  meine  Seite,  fest  entschlossen,  dem  meuternden 
Soldaten  bei  der  eerinesten  Aneriffsbeweeunof  eine  Kupfcl  in  die  Beine  zu 
jagen  In  diesem  Augenblicke  der  höchsten  Aufregung,  in  welchem  wir  beide 
bereit  waren,  einen  Angriff  mit  unsern  Waffen  abzuwehren,  erschien  plötzlich 
ein  zweiter  Hirte  aus  dem  Bakssantale,  der  mich  als  den  Bruder«  seines 
Herrn,  des  Knjas  Ismael  Urussbiew  erkannte,  sofort  auf  den  Kosaken  mit 
Entrüstung   eindrang    und    dann    bemüht    war,    sichtlich    zu    unsern    Gunsten 

—    284     — 


Die  canoxakiii.k  l'i.ATEAi'LANnscHAFT  IM  Maeka-Gkuietk. 

mit  einem  Ungeheuern  Wortschwall  und  unter  ohrenbetäubendem  Lärm  auf 
die  Leute  einzuwirken.  Ich  entfernte  mich;  der  andere  Bakssanhirte  brachte 
zuerst  ein  Pferd,  machte  sich  mit  dem  Gepäck  zu  schaffen,  dann  halfen 
auch  die  andern  Treiber  und  Träger  mit,  die  Pferde  zu  bepacken,  und  — 
eine  halbe  Stunde  später  waren  wir  unterwegs. 

Durch  mehrere  Gräben  auf  und  ab  zogen  wir  eine  Zeit  lang  vor- 
wärts. Die  Umgebung  wird  wieder  rauher,  wilder.  Noch  einen  Weide- 
platz trafen  wir,  auf  welchem  eine  kleine  Schafherde  sich  munter  umher- 
tummelte, von  grimmigen  Hunden  bewacht,  die  heulend  auf  uns  zustürzten. 
Dann  stiegen  wir  an  steinigen  Wänden  steil  und  pfadlos  empor.  Um 
lo  Uhr  ist  die  Hohe  eines  Bergrückens  erreicht,  welcher  vom  3905  m  hohen 
Balyk-Baschi  nach  Norden  ausstrahlt.  Unser  Uebergangspunkt  liegt  nach 
meiner  Messung  2884  m  (A.  D.)  hoch.  Auf  dieser  Gebirgsrippe  wurden 
alte  eruptive  Gesteine,  namentlich  Diabase,  Diorite  und  Porphyre,  be- 
obachtet. 

Wir  standen  am  Höhenrande  eines  fast  kreisrunden,  sich  gegen 
Süden  senkenden  Beckens,  welches  dort  von  einer  Bergmauer  begrenzt  ist,  die 
wieder  unsern  Weg  kreuzt.  Im  Rückblick,  im  Norden,  hat  sich  eine  Fernsicht 
eröffnet,  welche  im  Gegensatze  zu  der  uns  umgebenden  Oede  um  so  freund- 
licher wirkt.  Weit  hinaus  schweift  der  Blick  auf  Ketten  von  Vorbergen, 
schon  in  duftiger  P'erne  verblauend.  Dorthin  zieht  die  canonartige  Plateau- 
landschaft, welche  wir  im  Durchblick  durch  die  Flucht  des  Malka-Tales  schon 
am  vorhergehenden  Tage  erschaut  hatten.  Die  tafelförmigen  Hochplateaus, 
von  tiefen  Rinnen  durchschnitten,  konnten  jetzt  in  ihrer  Gesamtheit  über- 
sehen werden.  Ihre  Höhen  sind  oft  phantastisch  mit  Zinnen  und  Türmen 
gekrönt.  Weite  Flächen  deckt  das  Grün  der  Matten.  Die  lebhafte  Färbung 
des  Gesteins  wirkt  im  Panorama  noch  bis  zu  unserm  schon  etwas  fernen 
Standpunkte. 

Es  sind  diese  Landschaften,  welche  wir  zuerst  auf  unserer  Wanderung 
von  Kislowodsk  nach  dem  Kubangebiete  an  ihrem  westlichen  Rande  durch- 
zogen hatten  und  von  denen  wir  jetzt  Abschied  nehmen,  höchst  interessant 
und  durch  ihren  P^ormenreichtum,  ihre  Farbenfülle  und  eine  gewisse  ernste 
Grösse  fesselnd.  Auf  weite  Ausdehnung  hin  liegen  hier  Berglandschaften 
gänzlich  unbewohnt,  in  weltentrückter  Einsamkeit.  Nur  auf  den  grünenden 
Flächen  trifft  man  zur  Sommerzeit  Herden.  Ein  oder  zwei  Schäfer  mit 
ihren  mächtigen  Hunden  sind  die  Wächter.  Sie  ziehen  von  Weideplatz 
zu  Weideplatz.  Ihr  schwankes  Haus  ist  rasch  abgebrochen  und  rasch  wieder 
aufgestellt.      Das  Brausen  der  Welt   da    draussen  dringt    nicht  in  die  Ruhe 

—    285    — 


Ueber  di;\  K^■RTVK•PASS. 

und  Stille  dieser  Bergeinsamkeit,  und  auch  heute  noch  wird  hier  ein  Schäfer- 
leben geführt,  das  in  seiner  Primitivität  gewiss  dem  vor  tausend  Jahren 
geführten  gleicht. 

''Eine  Trift  auch   erschuf  der  hinkende   Feuerbeherrscher 
Im  anmutigen  Tal,  durchsch wärmt  von  silbernen   Schafen, 
Hirtcngeheg  und  Hütten  zugleich  und  schirmende  Ställe.« 

(Ilias  Will) 

Steil  stiegen  wir  in  den  Kessel  hinab,  dessen  teils  mit  Geröll,  teils 
mit  kümmerlichem,  braungrünem  Graswuchs  bedeckten  Boden  ein  klares 
Bächlein  durchrauscht.  Am  linksseitigen  Gehänge  zwischen  Blöcken  traver- 
sierend,  kamen  wir  zu  der  vor  uns  aufstrebenden  Bergwand,  an  welcher 
wir    in   Zickzacks    empordrangen.        Um    I27i   Uhr    sind   wir  auf   der  Höhe. 

Die  umgebende  Szenerie  hatte  sich  nicht  verändert.  Zu  unsern 
Füssen  im  Norden  lag  ein  ödes  Hochtal,  von  felsigen,  zu  keiner  bedeuten- 
den Höhe  sich  erhebenden  Bergwänden  umschlossen.  Jensehs  desselben  jedoch 
steht  eine  in  die  Wolken  ragende  Bergmauer.  Es  ist  der  Hauptkamm  des 
Kaukasus,  die  grosse  Kette  mit  ihren  Firngipfeln  und  Felshörnern,  mit  den 
von  ihr  ausstrahlenden  Gratzügen,  in  der  Höhe  schneebedeckt,  in  ihren 
Faltungen  mächtige  Eisströme  eingebettet,  an  ihrem  Fusse,  in  ihren  Gründen 
Matten  und  Wälder.  Es  war  ein  ebenso  grossartiges  als  schönes,  mit 
seinen  Gegenstäzen  wechselvolles  Panorama,  welches  von  diesem  Stand- 
punkte sich  erschloss.  Die  Wolken,  die  sich  in  den  eisbedeckten  Ein- 
schartungen  gelagert  hatten,  die  Nebel,  welche  um  die  F"irnpyramiden 
flatterten,  sie  störten  die  Entzifferung  der  topographischen  \'erhältnisse,  sie 
störten   aber  nicht  die  .Schönheit  des  Bildes. 

L^er  Einsatdung,  welche  den  Uebergang  aus  dem  vielgegliederten 
IJerglande  im  Norden  des  Elbruss,  aus  dem  Malkagelände  nach  dem  Bakssan- 
'Pale  und  seinem  Hauptorte  Urussbieh  vermittelt,  glaubte  ich  den  Namen 
Kyrtyk-Pass,  nach  dem  Tale  an  seiner  Südseite,  beilegen  zu  dürfen.  Die 
Höhe  des  Passes  beträgt  3242  m  (3225  m  B.  D.)  Lufttemperatur  um  i  Uhr 
p  m.  5 "  C.  Der  Ouerrücken,  in  welchem  er  liegt,  besteht  aus  Muskowit 
führendem  roten   und   weissen   Granit. 

Der  nördliche,  oberste  Ouellbach  des  Kyrt\k  tliesst  zuerst  östlich, 
später  tritt  er  in  einen  schon  begrünten,  sich  weitenden  Talabschnitt,  auf 
welchen  das  im  Westen  gelegene,  den  Hauptquellfluss  führende  Hochtal 
mit  einer  schönen  Gletscherszenerie  sich  öffnet.  Das  Tal  wendet  sich  dann 
gegen  SSO.  welche  Richtung  es  bis  Urussbieh  beibehält.  Im  west-östlichen 
Abschnitte  des  Kyrt\ktales  erscheint  Glimmerschieter,  welchen,  das  nord- 
östliche   Gehänge    bildend,    ein    Ouarz-Trachyt    durchbricht.      Mit    der    süd- 


Gedi.ogisciiios  \üm  1\.\  rtvktal. 


Abstikc;  nach  Urussbikh. 


südöstlichen  Abschwenkung  des 
Tales  werden  dann  die  Glim- 
merschiefer, denen  der  Trachyt 
kurz  vor  dem  Buge  wieder 
Platz  machte,  von  hochkristalli- 
nischen Gesteinen,  Gneisen  und 
Gneisgraniten,   abgelöst. 

Nach  der  grünenden  Wei- 
tung, die  einer  Herde  schöne 
Weideplätze  bot,  verengt  sich 
das  Tal,  senkt  sich  mit  starkem 
Gefälle  und  nimmt  wieder  ein 
steiniges,  einförmiges  Aeussere 
an.  Vor  seinem  Ausgange 
wird  ein  schluchtiges  Defile 
durchschritten,  in  welchem  der 
Bach  wiederholt  übersetzt  wird. 
Aus  der  Enge  tretend,  stehen 
wir  auf  einer  kleinen  Terrasse, 
welche  steil  in  das  vor  uns 
liegende  Bakssan-Tal  abfällt.  Nur  wenig  unter  uns  liegen,  am  Tal- 
gehänge klebend,  die  Hütten  des  Aul  Urussbieh.  Der  Bakssan,  in  meh- 
rere Arme  geteilt,  durchflutet  den  Talgrund,  und  uns  gegenüber  schnei- 
det sich  in  den  hohen,  nur  am  Fusse  grün  bewaldeten,  oben  gezackten 
Bergwänden  die  enge  Oeffnung  des  Adyrssu-Tales  ein,  und  über  derselben 
ragen  die  eisigen  Höhen  auf,  vom  Abendlichte  vergoldet. 
Ich   bin  wieder  in   l'russbieh. 


Kyrt)'k-GIetscher. 


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Das  Seitental  des  Adyl-Ssu   (Bakssantal). 


XXI.  KAPITEL. 


Zu  den  Gletschern  des  Bakssan-Tales. 

Es  besteht  eine  enffe  Bcziehuiif^  zwischen  der 
Kunst,  die  das  Schöne  sucht,  und  der  Wissenschaft, 
die  das  Scliöne  nicht  üliersehcn  kann. 

Friedr.   Ratzel. 


In  Urussbieh  fanden  wir  bei  Fürst  Ismael  dieselbe  gastfreundliche 
Aufnahme  wie  in  den  vorhergehenden  Jahren.  Es  war  Abend  geworden, 
als  wir  eintrafen,  und  es  tat  wohl,  wieder  unter  Dach  zu  sein.  Man  hatte 
rasch  den  Samowar  gebracht,  und  der  heisse  Tee,  die  Panacee  des  Kaukasus- 
wanderers, machte  die  Runde,  als  nach  dem  ersten  Glase  Ismael  an  mich 
herantrat,  mir  eine  Bitte  vorzutragen.  Er  erzählte  folgendes :  Vor  zwei 
Tagen  sei  einer  der  Bewohner  Urussbiehs  bei  der  Arbeit  im  Felde  zu- 
sammengestürzt und  bewusstlos  in  sein  Haus  im  Aul  getragen  worden.  Seit 
jener  Zeit  liege  er  einem  Toten  gleich  leblos  da,  mit  geschlossenen  Augen, 
zusammengepresstem  Munde,  und  alle  Versuche,  ihn  zu  erwecken,  seien  ver- 
geblich gewesen.  Nun  bat  mich  Ismael,  wenn  es  mir  nicht  zu  viel  Mühe 
verursache,  den  Mann  noch  heute  Abend  anzusehen,  vielleicht  finde  sich 
in   meiner  Apotheke   ein  Mittel,   um   ihn   zum   Leben   zurückzurufen. 


Der  la'Rdi'ÄisciiK  Reiskxuk  (;ilt  im  Osten  als  Arzt. 

Im  fernen  Osten  gilt  jeder  europäische  Reisende  als  Arzt,  Hakim. 
Schon  wahrend  meiner  ersten  kaukasischen  Reise  hatten  sich  die  Eingeborenen 
in  den  Dörfern,  aber  auch  Hirten  in  den  Kosch  welchen  wir  begegneten,  wieder- 
holt um  ärztlichen  Rat  an  mich  gewandt.  Besonders  häufig  waren  Fieber- 
kranke insbesondere  auf  den  Weideplätzen  im  Gebirge,  und  die  Bitten  um 
Verabreichung  von  Chinin  nahmen  mit  jedem  Jahr  zu.  Ich  hatte  auf  der 
ersten  Reise  eine  kleine  Handapotheke  mit,  die  ich  vor  meiner  Himalaja -Ex- 
pedition in  Kalkutta  gekauft  hatte  und  die  mir  ausgezeichnete  Dienste  leistete. 
Namentlich  war  mir  ein  kleines  medizinisches  Büchlein,  welches  mit  der 
Apotheke  abgegeben  wurde,  sehr  nützlich,  weil  es  in  klarer  praktischer 
Form  Anweisungen  zum  Erkennen  der  am  häufigsten  auftretenden  Krankheits- 
erscheinungen und  zur  Verabreichung  der  entsprechenden  Medikamente  gab. 
Im  folgenden  Jahre  hatte  ich  ausser  dieser  Handapotheke  einen  grösseren 
Koffer,  in  welcher  auch  diese  Platz  fand,  als  Arzneikoffer  mitgenommen, 
der  insbesondere  grössere  Quantitäten  der  gebräuchlichsten  Arzneimittel, 
hauptsächlich  Chinin  und  Verbandzeug,  enthielt.  So  nahm  dann  meine 
ärztliche  Praxis  in  erstaunlicher  Weise  zu.  Es  gab  absolut  keine  Möglich- 
keit, mich  derselben  zu  entziehen,  denn  eine  Weigerung,  dem  Kranken  ein 
Arzneimittel  zu  verabreichen,  wäre  von  den  armen  Bergbewohnern  als  Hart- 
herzigkeit ausgelegt  worden.  Ich  fasste  übrigens  meinen  Beruf  ernst  auf 
Ich  gab  mir  alle  Mühe,  den  Kranken  genau  zu  befragen,  in  gewissen  Fällen 
Maximalthermometer  einzulegen,  suchte  eine  Diagnose  aufzustellen  und 
studierte  in  jedem  einzelnen  Falle  mein  medizinisches  Handbuch.  Der  Fall 
aber,  den  mir  Ismael  vortrug,  stellte,  wie  es  schien,  höhere  Anforderungen 
an  meine  ärztliche  Wissenschaft,  als  die  meisten  der  Erkrankungen,  denen 
ich  bis  jetzt  begegnet  war  und  für  welche  immer  einige  der  gebräuchlichsten 
Mittel  verordnet  wurden,  die,  wie  Chinin,  Doverpulver,  Laudanum,  Zinkwasser, 
Ipecacuanha,  wenn  sie  auch  nicht  immer  die  Krankheit  vertrieben,  jedenfalls 
oft  eine  vorübergehende  Besserung  erzielten  und  keinen  Schaden  anrichteten. 
Nach  der  Mitteilung  Ismaels  nahm  ich  sofort  mein  medizinisches  Buch  zur 
Hand,  um  nach  einem  Krankheitsfall,  wie  ihn  Ismael  beschrieb,  zu  suchen  und 
mich  schon  im  vorhinein  zu  informieren.  Auch  das  ärztliche  Kapitel  in  dem 
von  der  königl.  geographischen  Gesellschaft  in  London  zum  Gebrauche  für 
Forschungsreisende  herausgegebenen  Handbuch  wurde  durchstudiert,  aber  kein 
ähnlicher  Fall  unter  den  angeführten  Erkrankungen  gefunden.  Nun  musste 
der  Kranke  jedenfalls  besichtigt  werden  und  wir  machten   uns  auf  den  W^eg. 

In  den  Auls  der  kaukasischen  Berge  ist  das  Haus  des  Reisenden 
immer   von    einer  Menge    Neugieriger    belagert,    die,  wenn    sie    nicht    den 

Dechy;  Kaukasus.  19 

—        289       — 


.Mkim'.  ärztliche  Praxis.  —  Ein  despekatkr  Fall. 

Wohnraum  selbst  fiillcn,  in  welchem  Falle  sie  zumeist  nach  längerer  oder 
kürzerer  Zeit,  mehr  ()(_lc;r  weniger  unzart  zum  Verlassen  desselben  auf- 
gefordert werden  müssen,  gewiss  draussen  oft  stundenlang  verweilen,  um 
sich  ja  nicht  einen  günstigen  Augenblick  entgehen  zu  lassen,  in  welchem 
vielleicht  der  Reisende  sichtbar  wird,  oder  doch  Zeugtm  irgend  eines  Vor- 
ganges zu  sein,  sei  es  im  Innern,  sei  es  ausserhalb  des  Hauses.  Benötigt  der 
Reisende  aber  irgend  einer  Dienstleistung,  so  greift  er  einfach  einen  oder 
mehrere  aus  der  Zahl  der  Gafter  heraus,  ilie  sie  dann  auch  in  den  aller- 
meisten Fällen  wie  bons  enfants  willig  erfüllen.  Als  wir  aus  dem  Hause 
traten,  waren  in  einem  Augenblick  Leute  da,  die,  der  eine  die  Handapotheke, 
der  andere  den  Arzneikofler,  trugen,  während  ein  dritter  sich  der  Bücher 
bemächtigte,  und  als  wir  uns  schon  bei  finsterer  Nacht  in  das  Haus  des 
Kranken  begaben,  war  es  ein  langer  Zug,  der  sich,  auf  den  schmalen  Stegen 
zwischen   ditn   Dorlluitten   ansteigend,   aufwärts  bewegte. 

Wir  traten  durch  die  niedere  Türöffnung  in  das  Haus.  Das  Innere 
erhellte  nur  schwach  das  Licht,  welches  von  einem  Fett  enthaltenden  offenen 
Gefäss  aufflackerte.  In  der  Mitte  des  Raumes  lag  auf  der  Erde  auf 
einem  niedrigen  Gestell  der  Kranke,  mit  Decken  und  Tüchern  bedeckt. 
Einige  Frauen  und  Kinder  sassen  zusammengekauert  auf  der  PIrde.  Die 
Leute  waren  \-or  der  Türe  geblieben,  nur  Ismael  und  zwei  oder  drei  Männer, 
die  von  seinem  Hause  mit  uns  kamen,  waren  eingetreten.  Ich  besichtigte 
den  Kranken.  Er  war  totenbleich,  fast  bläulich,  Augen  und  Mund  waren 
geschlossen  und  konnten  nicht  geöffnet  werden.  Der  Körper  fühlte  sich 
eiskalt  an,  kein  Puls,  kein  Herzschlag  war  hörbar.  Die  Glieder  waren  starr 
und  konnten  nicht  bewegt  werden.  Der  Fall  ging  über  meine  Kräfte.  Ich 
stand  einen  Augenblick  ratlos  da.  Die  anwesenden  Männer  hatten  sich  ein 
wenig  zurückgezogen;  es  herrschte  eine  atemlose  Stille.  Ich  wechselte 
einige  Worte  mit  meinem  Reisegeftihrten.  Dann  kam  mir  (;in  Gedanke. 
In  meiner  Handapotheke  befand  sich  ein  Flakon  ^  Eau  de  luce  ,  und  dem 
medizinischen  Ratgeber  nach  sollte  es  in  verzweifelten  Fällen,  wenn  bei 
starken  Fieberanfiillen  ein  collaps,  d.  h.  ein  rapider  Verfall  der  Kräfte  ein- 
tritt, verabreicht  werden.  Die  Maximaldosis  war,  glaube  ich,  15  Tropfen. 
Ich  Hess  mir  die  Handapotheke  geben,  entnahm  ihr  das  Flakon,  ein  Tropf- 
flaschen, und  füllte  in  dasselbe  das  Doppelte  der  Dosis,  30  Tropfen.  Dann 
erklärte  ich  Ismael,  dass  man  dem  Kranken  den  Mund  öffnen  müsse,  um 
ihm  das  Arzneimittel  einzuflössen.  Die  Zähne  waren  fest  zusammengepresst; 
Ismael  schnitzte  zwei  Holzstäbe  und  mit  der  Hülfe  eines  andern  gelang  es  ihm, 
das  Gebiss  zu   trennen   und   zu  öffnen   und   die   zwei  Holzstäbe  an   den  .Seiten 

—     290    — 


Der  SriiKiNToiK  KRWAciri'  ziM  Lki;i:x. 


einzuführen,  um  ein  Schliessen  zu  verhindern.  Sobald  mir  die  OeHnung 
gross  genug  schien,  schüttete  ich  die  Flüssigkeit  in  den  Rachen.  Im 
nächsten  Augenblick  schon  griff  der  Kranke  mit  der  Hand  nach  dem  Hals, 
ein  Zucken  des  Gesichtes,  wie  von  einem  Schmerzgefühl,  folgte,  und  er 
schlug  die  Augen  auf.  Eine  Bewegung  des  Staunens,  der  Ueberraschung, 
welche  in  einem  mehrstimmigen  Alla  il  alla  illaha  Ausdruck  fand,  ging 
durch  die  Reihe  der  Zuschauer,  pflanzte  sich  fort  zu  den  bei  der  Tür- 
öffnung in  grösster  Spannung  Stehenden,  und  die  Ausrufe  der  Menge,  welche 
vor  dem  Hause  sich  angesammelt  hatte,  wurden  hörbar,  immer  starker, 
immer  lauter. 

Da  ich  die  Tropfen  des  Eau  de  luce,  einer  stark  riechenden,  äther- 
artigen Flüssigkeit,  absichtlich  nicht  mit  Wasser  gemischt  hatte,  um  ein  um 
so  kräftiger  wirkendes  Mittel  verwenden  zu  können,  nahm  ich  an,  dass  die- 
selbe dem  Kranken,  der  wiederholt  nach  dem  Hals  griff,  ohne  aber  einen 
Laut  hervorbringen  zu  können,  einen  brennenden  Schmerz  verursache,  und 
Hess  etwas  Oel,  das  die  Leute  irgendwo  auftrieben,  einflössen.  Der  Kranke 
hielt  die  Augen  offen;  ich  verordnete  ihm  etwas  Tee  mit  einigen  Tropfen 
Kognak  löffelweise  zu  verabreichen  und  sandte  beides  sowie  auch  .Spiritus, 
um,  falls  sich  Schwächezustände  einstellen  sollten,  Herzgegend,  Gesicht 
und  Schläfen  einzureiben.  Dann  verliess  ich  das  Haus.  Ismael  und  die 
Männer  dankten  mir. 
Auf  der  Strasse  ging  ein 
Murmeln  der  Bewunde- 
rung durch  die  Menge. 
Die  Alten  drängten  sich 
an  mich,  um  mir  die 
Hand,  sich  tief  beu- 
gend,  zu   drücken. 

Am  andern  Mor- 
gen, als  ich  vor  die 
Türe  trat,  fand  ich 
den  Hof  voll  von  Leu- 
ten, Kranken  und  Ge- 
sunden, welchi-  das  Mit- 
tel, das  sie  für  ein  Le- 
benselixier zu  halten 
schienen,  zu  erlangen 
hofften,      wenn      nötig,  Bakssantatarin  am  Webstuhl. 

—     291       - 


Grosse  Nachkrage  nach  meixkm  Lkiskxsei.ixikk. 

kaufen  wollten.     Ich   konnte  leider  den  Wünschen  der  armen,  leichtgläubigen, 

einfältigen    Leute    nicht    entsprechen.       Viele    zogen    mit    schweren    Herzen 

wieder  heim.      Unser  Scheintoter  aber  war    auf  dem  Wege    der  Besserung, 

hatte  gegessen,    getrunken   und    auch  die    Sprache  wieder  erlangt.     Als  ich 

später     zu     ihm     kam,    sass    sein   Weib    vor    der    Haustüre     am    Webstuhl: 

»drehend  die  zierliche  Spindel  mit  purpurfarbener  Wolle«. 

Odyssee  VI. 

und    fertigte   ein   neues   Kleid   für   den   Auferstandenen. 

Zu  mehreren  Kranken  musste  ich  noch  am  Vormittage,  der  Bitte 
Ismaels  willfahrend.  Alles,  was  ich  verordnete  —  gerade  in  ernsten  Fällen 
konnte  ich  ja  nichts  als  X'erhaltungsmassregeln  geben,  den  Organismus 
stärkende  Mittel  raten  — ,  wurde  mit  Dank  und  mit  allen  Anzeichen  grössten 
Vertrauens  in  meine  Wissenschaft,  voll  Hoffnung  auf  eine  sichere  Wirkung 
entgegengenommen. 

Niemals,  weder  früher  noch  später,  habe  ich  einen  solchen  Erfolg 
meiner  ärztlichen  Praxis  erlebt,  wie  diesmal.  Der  Fall  war  in  der  Tat  ein 
ausserordentlicher,  und  jeder  professionelle  Heilkünstler  hätte  sich  des  Er- 
folges rühmen  können.  Ein  Mann  liegt  nahezu  drei  Tage  leblos,  starr, 
leichenkalt  da,  man  hätte  ihn  wahrscheinlich  schon  einen  Tag  später  be- 
erdigt, und  der  Inhalt  einer  kleinen  Phiole,  die  ich  gefüllt  hatte,  gibt  ihm  das 
Leben  prompt  wieder.  Das  hätte  auch  bei  andern  als  den  wilden  Moham- 
medanern des  Kaukasus  seine  Wirkung  nicht  verfehlt.  Später  kam  es  mir 
noch  oft  vor,  dass  die  Bergbewohner  sich  um  Arzneimittel  bewarben  und 
ich  nicht  recht  wusste,  was  ihnen  zu  geben.  Waren  es  Fälle,  in  welchen 
mir  ein  gelindes  Brechmittel  oder  ein  Purgativ,  wenn  auch  nicht  immer  nötig, 
so  doch  unschädlich  erschien,  und  ich  die  Bitten  der  Leute  um  eine  Arznei 
nicht  abschlagen  konnte,  so  gab  ich  ihnen  das  eine  oder  das  andere,  und 
dann  war  insbesondere  das  Brechmittel  dasjenige,  dessen  Wirkung  zu 
grösstem  Staunen  hinriss.  Die  Wirkung  eines  Pulverchens,  welches  sich 
meist  rasch  in  so  gewaltiger  Weise  äusserte,  erfüllte  die  Eingeborenen  mit 
Bewunderung,  trotz  der  bangen  Minuten,  die  oft  der  Explosion  vorangingen, 
die  sie  aber  sichtlich  gerne  ertrugen,  und  Hess  sie  fest  an  die  Heilkraft  des 
Mittels  glauben. 

Begehrter  noch  als  Arzneimittel  war  von  selten  der  Eingeborenen 
Tabak,  insbesondere  die  Swanen,  die  in  ihren  kurzen  kleinen  Holzpfeiten 
alles  mögliche  Kraut  rauchten,  waren  für  die  kleinste  Gabe,  ein  Pfeifchen 
wirklichen  Tabaks,  ausserordendich  dankbar.  Aber  auch  die  höhergestellten 
Persönlichkeiten   des   Landes  nahmen  gerne  die  angebotene  Zigarette,  in  der 

292     


DiK  cKSTKRRiaciiisc'iiK  ViR( nxiA -Zk ;ARRi':  IM  Kaukasus. 

sie  etwas  einer  AuszeiclinunL;'  gleichendes  sahen,  wenn  auch  ich  tUeselbe 
rauchte,  hn  vorigen  jähre  konnten  wir  allerdings  den  Fürstlichkeiten  etwas 
Besseres  oder  wenigstens  für  den  Kaukasus  eine  no\'.  sj).  von  Rauchmaterial 
bieten:  es  waren  dies  österreichische  Virginia-Zigarren.  Mein  vorjähriger 
Reisegefährte,  Prof.  Lojka  hatte  die  einzige  Bedingung  für  seine  Teilnahme 
an  der  Reise  gestellt,  dass  ich  ihm  gestatte,  einige  hundert  Virginia-Zigarren 
mitzunehmen.  Dieselben  wurden  zu  je  hundert  Stück  in  Blechbüchsen  ver- 
lötet, und  noch  jahrelang  erhielt  sich  in  den  weltabgeschlossenen  Hochtälern 
des  Kaukasus,  schon  in  Form  der  Ueberlieferung,  die  Erinnerung  an  jene 
langen,  dünnen  Glimmstengel,  aus  welchen  vor  dem  Anbrennen  zuerst  der 
durchlaufende  Strohhalm  herausgezogen  werden  musste,  etwa,  wie  ich  sechzehn 
Jahre  nach  der  Reise  von  Freshfield  und  Genossen  immer  wieder,  als  ein- 
zige von  ihrer  Reise  zurückgebliebene  Erinnerung,  von  dem  staunenswerten 
Appetit  erzählen  hörte,  mit  dem  die  Engländer  wiederholt  am  Tage  ihre 
Mahlzeiten  abgehalten  hätten,  staunenswert,  —  weil  im  Gegensatze  zu  den 
Bergbewohnern,  welche  selbst  auf  dem  Marsch  tagsüber  nichts  zu  essen 
pflegen  und  nur  eine,  wenn  auch  ausgiebige  Mahlzeit,  zumeist  abends,  halten. 


Eintritt   ins    Tal    des  Ad\l-Ssu. 


—     293 


In  das  Tal  des  Adyl-Ssu. 

Am  3.  August  wanderten  wir  das  Bakssantal  aufwärts.  Die  schöne 
Partie,  welche  es  dort  bietet,  wo  im  Süden  das  Tal  des  Adylssu  sich 
öffnet,  entzückte  auch  diesmal.  Der  .schäumende  Bach,  der  dem  Tale  ent- 
eilt, die  herrlichen  Baumgruppen,  welche  es  umstehen,  und  —  von  den 
felsigen  Steilwänden  als  Kulissen  umrahmt  —  der  edel  geformte,  dem 
kaukasischen  Hauptkamme  angehörende  Hintergrund  ;  dies  alles  vereint  sich 
hier  zum  Bilde  einer  der  schönsten  Berglandschaften.  Wir  treten  in  das 
Tal,  welches  sich  mit  einer  kleinen,  nahezu  ebenen  Fläche  öftnet,  durch 
welche  der  Bach  dahinschiesst.  Dieselbe  ist  bald  durchschritten;  dann 
wendet  sich  der  Pfad  längs  der  linken  Talwand,  rasch  ansteigend,  und  führt 
später  oft  durch  dichten  Nadelwald.  Nach  dieser  ersten  .steilen  Stufe  ge- 
langt man  wieder  auf  eine  ebene  Strecke,  wo,  aus  zwei  Talästen  kommend, 
die  Bäche  sich  vereinigen.  Links  vom  Wanderer  zieht  das  Adyl  genannte 
Haupttal  in  die  Höhe.  Man  kann  weit  hinein  blicken.  Der  Talboden  ist 
mit  riesigen  Gesteinstrümmern  bedeckt.  .Stürmisch  schie,s.st  der  trübe  Berg- 
bach, in  mehrere  Arme  zerrissen,  dahin.  Geknickter  Wald  weist  auf 
die  Taten  der  Lawine.  Alles  spricht  hier  von  Zerstörung.  Nur  in  der 
Höhe  zieht  in  ruhigen  Linien  die  schneeige  Kette.  Drei  grosse  Gletscher- 
ströme senken  sich  in  den  Talgrund:  der  Kajacha-,  der  Baschkara-  und  der 
Dschankuat-Gletscher.  Ihre  Enden  liegen  zwischen  2350  m  und  2750  m. 
Der  alte  Moränenwall  an  der  Gabelung  des  Tales  stammt  aus  Zeiten  ihrer 
früheren  Grösse.  Eine  Gipfelreihe,  in  welcher  Baschkara-Tau  4129  m, 
Ullukara-Tau  4302  m  und  Bscheduch-Tau  4271  m  erreichen,  umsteht 
diesen  gletscherreichen  Zweig  des  Adyl-Tales. 

Der  westliche  Talzweig,  der  senkrecht  auf  den  Haujjtkamm  stösst, 
ist  schluchtartig  geschlossen.  Doch  über  dem  waldigen  Vorgrund  ist  auch 
hier  der  Hintergrund  sichtbar,  mit  seinen  kühnen  Formen  in  Fels  und  Eis 
ein  packendes  Bild,  das  leichte  Nachmittagsdünste  mystisch  umschleiern, 
ohne   es  dem   Blicke   zu   entziehen. 

In  diesen  westlichen  Talzweig,  aus  welchem  der  Schcheldy  genannte 
Bach  strömt,  lenken  wir  unsere  Schritte.  Wir  haben  viel  Zeit  mit  photo- 
graphischen Arbeiten  verloren.  .Schon  dämmert  der  Abend,  und  die  Nacht 
droht  rasch  hereinzubrechen.  In  der  Dunkelheit  muss  man  später  am 
steilen  Gehänge  der  linken  Talseite  bald  durch  Buschwerk,  bald  durch 
das  Geäste  eines  dichten  Waldes  sich  den  Weg  bahnen.  Es  ist  dies  nicht 
leicht,  insbesondere,  wenn  der  Wald  auf  ansteigendem  Terrain  steht.  Man 
muss  acht  haben,  dass  man  sich  nicht  im  Gezweige  am  Boden  verfängt 
oder    mit    dem    Kopf    gegen    die    Aeste    stösst.       Mit    den    Händen    muss 

~      294     — 


Der    SciICHF.LDV-GLK'rSCIIER. 

man  Gestrii|)i)  und  Zweige  zurücktlrängen,  die  dann  nur  zu  oft  dem  Nach- 
folgenden ins  Ciesicht  schlagen,  was  nicht  eben  angenehme  Rekriminationen 
hervorruft.  Neben  einem  Kosch,  an  steiler  Berghalde,  schlagen  wir  das 
Zelt  auf.  (2223  m  B.  D.)  Ismaels  Sohn,  Naurus,  ist  mit  uns.  Nur  seinem 
Drängen,  beim  Kosch  zu  übernachten,  haben  wir  nachgegeben,  als  wir  noch 
in  dunkler  Nacht  weiterwanderten.  Jetzt  bereuen  wir  es  nicht,  denn  herr- 
licher Eiram   labt  uns   müde  Wanderer. 

4.   August.      Die    linke    Talwand,     an    welcher    wir    hinziehen,    tritt 
zurück.     Ein   mächtiges  Gletschergebilde  wirft   sich  in   den  Talgrund,   welches 


Der  westliche  Talzweii 


Advlssu-Talcs. 


dessen  ganze  Breite,  bis  hoch  an  die  Talwände  hinan,  erfüllt.  Die  Eis- 
masse flutet,  olien  zu  beiden  Seiten  von  vorspringenden  b'elsecken  ein- 
geengt,  nieder    und    breitet    sich   dahinter  wieder  aus   —   wie    eine   Riesen- 


schutt- und  trümmerbedeckt.  In  hohen  steilen  Eiswänden  bricht  die  Gletscher- 
masse rundherum  ab.  Dem  Gletschertore  (2208  m)  entströmen  brausend 
die  trüben  Wasser.  Ich  sah  keine  deudich  wahrnehmbare  End-  oder  Grund- 
moräne. Alles  wies  darauf  hin,  dass  der  Gletscher  bedeutend  im  Vor- 
rücken war.  Kein  Gletscher,  den  ich  je  gesehen  habe,  hat  mir  die  Mög- 
lichkeit bedeutender  erodierender  Kraft  so  nahe  gelegt,  wie  der  Schcheldy- 
Gletscher.  Der  Eindruck,  den  diese  mächtige  Eismasse  auf  uns  machte, 
wurde   noch   dadurch  erhöht,   dass   in  der  Taltiefe  ein  Dämmerlicht  herrschte, 


Wandekunc  über  den  Schchei.dv-Gletscher. 


Der  Schcheldy-Gletscher. 

SO  dass  man  die  Grössenverhältnisse  nicht  klar  erkennen  konnte  und  nichts 
den  düstern  Anblick  erhellte.  Um  so  prachtvoller  war  es  anzuschauen, 
wie  an  den  Firnflächen,  welche,  von  pittoresken  Felszacken  durchbrochen, 
die  Höhe  des  Gratzuges  bilden,  der  Adyl  von  Schcheldy  trennt,  und  an 
den  Eiszinnen,  die  aus  dem  Talhintergrunde  hervorblicken,  die  Morgen- 
strahlen  der  Sonne   ein  zartes  Rot  entzündeten, 

»die  dämmernde  Frühe  mit  Rosenfingern  erwachte«. 

Odyssee  IX. 

Zu  immer  grösserer  Helle  steigerte  sich  das  Licht,  es  glitt  hinab 
an  den  felsigen  Talwänden,  bis  es  auch  auf  der  weiten  Gletscherfläche  er- 
glänzte. Nur  das  Ende  des  Schcheldy-Gletschers,  die  sich  noch  einmal  auf- 
bäumende und  dann  abbrechende  Eismasse,  blieb  lange  in  unheinflichem 
Dunkel   liegen,   beschattet  von   der  Talwand. 

Ueber  den  trümmerbedeckten  Rücken  des  Schcheldy-Gletschers,  der 
im  unteren  Teile  sehr  wenig  geneigt  ist,  zog  nun  unsere  kleine  Karawane. 
Mächtige  Seitenmoränen  begleiten  den  Gletscher;  ein  Chaos  von  Riesen- 
blöcken  liegt  im  Räume   zwischen  Gletscher,   Seitenmoräne  luid  Talgehänge, 


296 


Dil'.  Firnregion  des  Schcheldv-Gi.etscuers. 


gewiss  zum  Teil  Reste  eines  grossen  Bergsturzes.  Durch  dieses  lilock- 
gewirre,  oft  über  einzelne  derselben  kletternd  und  kriechend,  dringen  wir 
vorwärts,  wenig  ansteigend.  Wie  Pygmäen  sehen  die  Leute  häufig  neben 
den  gigantischen  Felsblöcken  aus. 

Um  lo  Uhr  sind  wir  auf  der  obersten  Terrasse  des  Gletschers 
(2701  m  A.  D.)  angelangt;  wir  stehen  in  seiner  Firnregion,  die  nun  offen 
vor  unsern  staunenden  Blicken  liegt.  Fin  sich  in  den  kühnsten  Formen 
aufbauender  Berggrund  umschliesst  sie.  Felsige,  mit  Eis  bepanzerte  Wände, 
ragen  in  die  Hohe.  Die  Firnmassen,  welche  alle  Einbuchtungen,  alle 
Höhlungen  an  diesen  Mauern  bedecken,  sind  chaotisch  zerrissen,  zerklüftet 
und  bilden  von  allen  Seiten  steil  niederziehende  Hängegletscher,  welche 
sich  mit  dem  grossen  Eisstrome  vereinigen,  der  mit  seinem  F"irngebiete 
eine  Fläche  von  ungefähr  28  qkm  bedeckt.  In  der  Höhe  der  Mauern 
bilden  pittoreske  Fels- 
zacken, eisige  Firnschnei- 
den die  Krönung.  Zur 
Rechten  erhebt  sich  über 
den  aus  Osten  niederzie- 
henden Firnmassen  die 
Eiskuppe  des  Schcheldy- 
Tau  (4320  Meter).  Der 
schön  geformte  Gipfel, 
der  sich  am  andern  Ende 
der  grossartigen  Berg- 
dekoration mit  einem 
Diadem  von  Felszacken 
aufschwingt,  ist  Tscha- 
tyn-Tau  (4363  m).  Weit 
blickt  man  zur  Linken  in 
das  östliche  Firnbecken 
des  Schcheldy  -  Glet- 
schers, wo  eine  tiefe 
Einsattlung  in  das  mit 
spitzen  Felshörnern  aus- 
gipfelnde Bergrund  ein- 
schneidet. 

Bewundernd  stehen 
wir  vor    der   Grossartig-  Oestliches  Firnbecken  des  Schcheldy-Gletschers. 


—      297      — 


15K()i!Acii'rr\(;KN  am  Asau-  und  Teksskdl-Gletscher. 

keit  dieser  Nalurschö|)hino-,  von  welcher  keine  Worte  eine  würdige  Vfir- 
stellung  gtiben,  von  welclier  auch  die  aufgenommenen  Photograpliien  nur 
(in  farI)loses,  den  Riesendimensionen  nicht  entsprechendes  Bild  gewähren 
kimnen.  1  Her  ist  es,  wo  der  Kaukasus  die  Alpen  schlägt.  Nichts  in  tlen 
Alpen  kann  sich  diesen  höchsten  Regionen  des  Kaukasus  gleichstellen,  in 
welchen  Fels,  l'"irn  und  Kis  in  den  herrlichsten  Bildungen,  in  unsäglicher 
W'iklheit  und  in  mächtiger  Grosse  aufstreben.  Nur  aus  dem  fernen  Hima- 
laja schweben  mir  ähnliche  Bilder  vor  Augen.  Wer  je  unter  den  Süd- 
wänden des  Kangtschendschunga,  wie  ich,  im  Banne  seines  Anblickes  ge- 
standen hat,  den  mag  dort,  wie  hier,  das  (iefühl  überkommen,  sich  zu 
beugen  vor   der  Grosse   und    der  Schönheit  der  Schöpfung. 

Die  geologischen  Verhältnisse  dieses  Gebietes  entsprechen  dem, 
aus  hochkristallinischen  Gesteinen  aufgebauten  Hauptkamme,  in  welchen 
diese  Ouertäler  eingeschnitten  sind,  und  auch  die  Moränen  des  Schcheld)- 
Gletschers  bestehen  aus  Gneis  -  Granit  oder  diesem  sehr  nahe  stehenden 
Gesteinsarten. 

Den  folgenden  Tag  verbrachten  wir  an  den  Elbruss-Ciletschern,  welche 
dem  Bakssantale  tributär  siml.  \'orerst  lenkten  wir  unsere  Schritte  zum 
Talgletscher  des  Bakssan,  zum  Asau-Gletscher.  Die  1SS5  an  seinem  Zungen- 
ende errichteten  Mauern  wurden  nicht  mehr  vorgefunden,  der  Giletscher  war 
im  Vorrücken  begriffen  und  muss  die  Signale  zerstört  haben.  Die  Photographien, 
von  gleichen  Standpunkten  wie  in  den  Jahren  1884  und  1S85,  auch  1886 
genommen,  bestätigten  dies.  Dagegen  zeigten  die  Signale  am  I  laupt- 
gletscher  der  Ter.sskolschlucht  einen,  wenn  auch  geringen,  Rückzug  von 
etwas  über  einen  Meter  an. 

hiteressant  ist  es,  dass  beide  Gletscher,  sowohl  der  Asau-  als  der 
Tersskol-Gletscher,  dem  Firnplateau  des  Flbruss  entströmen,  also  demselben 
Nährgebiete  entstammen  und  dennoch  in  Bezug  auf  ihre  Bewegungser- 
scheinungen verschiedene  Resultate  zeigen.  Allerdings  darf  nicht  übersehen 
werden,  dass  der  Asau-Gletscher  auch  noch  vom  Hauptkamme  andere  Zu- 
flüsse erhält,  indes  der  Tersskol-Gletscher  ganz  den  Firnreservoiren  des 
Elbrussmassivs   seinen   Bestand   verdankt. 

Auch  meinem  Gefährten  Schafarzik  war  an  den  Bergwänden  im 
Asau-  und  Tersskolgebiete  der  säulenförmig  abgesonderte,  überall  gleich 
Orgelpfeifen  auf  granitischer  Ihnerlage  ruhende  Trachyt  aufgefallen,  der 
uns  1884  im  ersten  Augenblick  wie  Basaltsäulen  erschienen  war.  An  einigen 
Punkten  sich  über  die  Schutthalden  zu  ihnen  emporarbeitend,  konnte  er 
aus    unmittelbarer  Nähe     sehen,    dass    die  Säulen     immer     normal     zur  Ab- 

—    298     — 


WlliliKRSKHEN    DES    ELKRUSSOTPKKLS. 

kühlungstlache  gelagert  sind,  und  zwar  die  untersten  senkrecht  auf  die 
Oberfläche  des  Granites,  die  zweite  Partie  senkrecht  auf  die  bereits  ab- 
gekühlten untersten  Säulen,  die  dritte  auf  die  zweite,  und  so  fort,  was 
dann  in  grösserer  Entfernung  von  der  Basis  zu  scheinbar  regelloser  Lagerung 
der   Säulen   führt. 

Während  unseres  Aufenthaltes  im  Kosch  Asau  war  ich  an  einem  klaren 
Morgen  auf  eine  der  im  Süden  sich  erhebenden  Höhen  geklommen,  um 
den  Anl)lick  des  Elbrussgipfel  zu  gewinnen.  Welch  herrliches  Wiedersehen  ! 
In  erhabener  Majestät  schwingt  der  Vulkanriese,   alle   überragend,   sich   stolz 


^^^^^N^^^^K  ^^^^^^^^H 

^*^3SJ*^'^WIfei^E'*^^^i^ 

Der  Elbruss  von  Südosten. 

in  die  Lüfte.  In  unbeflecktem  Eirnweiss,  mit  funkelndem  Neuschnee  um- 
hüllt, erschien  er  mir  wie  eine  V'ision  aus  nordischen  Regionen.  Alle 
Einzelheiten  meiner  Ersteigung  wurden  in  meinem  Gedächtnis  wach,  und 
mit  dem  Eernrohr  suchte  ich  die  Richtung  unseres  Anstieges  festzustellen. 
Nie  sah  ich  Elbruss  grösser,  erhabener,  schöner  als  an  diesem  frühen,  kalten 
Morgen. 

Nachdem  wir  unsere  Aufnahmen  und  .Sammlungen  an  den  Gletschern 
im  obersten  Bakssantale  beendigt  hatten,  kehrten  wir  nach  Urussbieh  zu- 
rück. Aber  dort  sollte  uns  kaukasisches  Ungemach  ereilen.  Eine  von 
Wladikawkas    nach    Urussbieh    dirigierte    Kiste    mit    Provisionen,    Ersatz   des 


299 


ZÜCEI.I.OSTOKKTT    DER    EiNOKüOKKNEN   IN    URTSSniKH. 

Packmaterials  für  Sammlungen  und  ])hoti)^Taphische  Platten,  welche  alle 
verbraucht  waren,  war  nicht  eingetroffen.  Boten,  welche  wir  nach  Naltschik 
sandten  —  der  Ortschaft,  wo  der  Kreisvorsteher  wohnt  und  wohin  die  Kiste 
von  W'ladikawkas  geschickt  wurde  — ,  brachten  keine  Mitteilung  über  ihren 
X'erbleib.*)  Ohne  dieselbe  wäre  die  F"ortsetzung  der  Reise  wissenschaftlich 
resultatlos  verlaufen.  Schon  hatten  wir  Zeit  verloren,  und  es  blieb  nichts 
anderes  übrig',  als  selbst  nach  Naltschik  zu  reiten,  eine  Rückkehr  war  aber  um 
so  mehr  au.sgeschlossen,  als  bei  der  bemessenen  Reisezeit  meines  Ge- 
fährten der  in  das  Reiseprogramm  vom  Beginn  an  aufgenommene  Plan 
eines  flüchtigen  F^esuches  des  Berglandes  von  Daghestan  und  der  Naphtha- 
quellen  von  Baku  nicht  mehr  hätte  zur  Ausführung  gelangen  können.  So 
war  ich  gezwungen,  wenn  auch  schweren  Herzens,  den  geplanten  Ueber- 
gang  nach  Swanetien  aufzugeben  und  von  den  Bergen  und  Gletschern  des 
zentralen  Kaukasus  Abschied  zu  nehmen. 

In  Urussbieh  hatte  sich  seit  meinen  früheren  Besuchen  vieles  ge- 
ändert. Mohammed,  der  hochgewachsene  Bruder  Ismael  Urussbiews,  dem 
ich  1884  die  kurze,  blaue,  pelzgefütterte  Jacke  verdankte,  die  mir  im 
nächtlichen  Abstiege  vom  Elbrussgipfel  so  treffliche  Dienste  geleistet  hatte, 
war  durch  Meuchelmord  gefallen.  Es  hie.ss,  dass  Eamilienzwist  hieran  teil 
gehabt  habe.  Fürst  Ismael  Urussbiew  hatte  diesbezüglich  Auseinandersetzungen 
mit  den  Behörden  gehabt  und  schien  seinen  Einfluss  im  Dorfe  verloren  zu 
haben,  er,  der  einzige  Kaukasier,  der  Interesse  und  Verständnis  für  die 
Absichten  und  Wünsche  des  Reisenden  besass,  mit  Wissbegierde  den  Arbeiten 
zusah,  sie  zu  fördern  trachtete  und  selbst  gerne  an  der  Lösung  mancher 
Frage  mithalf.  Jedenfalls  hat  Ismael  durch  sein  sympathisches  Wesen, 
durch  schöne  Gastfreundschaft,  der  oft  nur  die  Verhältnisse  eine  engere 
Grenze  steckten,  sich  die  dankbarste  Erinnerung  derjenigen  gesichert,  die 
unter  seinem  Dache  geweilt  haben.  Um  so  mehr  bedauerte  ich,  dass  ge- 
rade dieser  Mann  seines  Einflusses  und  der  Oberhoheit  über  seine  Stammes- 
genossen \'erlustig  gegangen  war.  Wir  hatten  zur  Genüge  erfahren,  wie 
die  Befehle  der  Behörden  im  Karatschai  missachtet  wurden.  Jetzt  wurden 
sie  auch  in  Urussbieh  nicht  befolgt,  und  die  Zügellosigkeit  der  Eingeborenen 
trat  auch  hier  hervor.  Wir  mussten  kämpfen,  bis  wir  Pferde  erhielten, 
um  talauswärts  zu  ziehen.      Nach  drei  Reisetagen  waren  wir  in  Wladikawkas. 


•■■')  Trotz  aller  Versicherungen  des  Chefs  der  Gouvernementskanzlei  in  Wladikawkas,  der 
die  Kisten  allerdings,  wie  es  sich  später  ergab,  pünktlich  mit  der  entsprechenden  Order  nach  Nalt- 
schik dirigiert  hatte,  wurde  so,  durch  die  Fahrlässigkeit  eines  dortigen  Beamten,  die  Ausführung 
meiner  Reisepläne  behindert  und  der  Erfolg  unserer  Arbeiten  geschädigt. 


Ein  Stkp:ikzl'g  durch  1)p:n  Nokufl'ss  des  Dac;iikstan. 

Ein  Streifzuo-  durch  den  Nordfuss  des  Daghestan  sollte  uns  am 
Schlüsse  der  Reise  noch  an  das  Kaspische  Meer  führen.  Zuerst  kostete 
es  eine  endlose  Fahrt  auf  rüttelnder  Tarantass  durch  die  Ssunndschasteppe, 
um  nach  Grosny  zu  gelangen,  dann  folgte  eine  Reihe  von  Reittagen, 
welche  uns  über  Weden,  Botlich  und  Chunsach  nach  der  Bergfeste  Gunib 
brachten.  Die  Berge  des  nördlichen  Daghestan  sind  kein  Feld  für  den 
Hochalpinisten,  aber  ihre  charakteristische  Steinwelt  ist  besonders  interessant 
für  den  Geologen,  und  mit  den  Erinnerungen  an  die  Kämpfe  der  Russen 
gegen  die  Bergvölker,  die  sich  an  diese  Landschaften  knüpfen,  werden  sie 
immer  ein  höchst  interessantes  Reiseziel  bilden.  Für  das  Verständnis  des 
Aufbaus  des  kaukasischen  Gebirgsystems,  des  äusseren  Reliefs  in  den 
ösdichen  Teilen  desselben,  war  der  kurze  Streifzug  auch  für  mich  höchst 
belehrend. 

Mit  der  Herrschaft  der  Rus.sen  ist  hier  Sicherheit  imd  ( )rdnung  ein- 
gezogen. Das  nördliche  Daghestan  ist  den  Reisenden  offen,  und  kann 
ebenso  wie  die  grusinische  Heerstrasse  nach  Tiflis  oder  die  nordkaukasischen 
Badeorte,  ohne  jede  Schwierigkeit  besucht  werden.  Mit  PLmpfehlungen  aus- 
gerüstet, wird  man  im  nördlichen  Daghestan  auf  sicheres  Fortkommen 
rechnen  können  und  wird  an  jedem  Abend  die  schönste  Gastfreundschaft 
bei  den  russischen  Kreischefs  finden,  der  auch  wir  dankend  gedenken. 
Ja,  die  meisten  Reisenden  werden  kaum  ahnen,  dass  oft  nur  eine  Tage- 
reise weiter,  im  weltabgeschiedenen  Hochgebirge,  inmitten  uralter  Völker- 
schaften, aller  Hilfsquellen  entblösst,  die  für  das  Leben  und  das  Fortkommen 
der  Reisenden  nötig  sind,  in  pfadloser,  den  Eindringling  abschreckender 
Hochgebirgswildnis,  wie  ich  dies  in  späteren  Jahren  erfahren  sollte,  jeder 
Schritt  erkämpft  w^erden   muss. 

Durch  die  heisse  staubige  Steppe  fuhren  wir  von  Temir-Chan-Schura 
nach  Petrowsk  an  das  Ufer  des  Kaspischen  Meeres.  Ein  Dampfer  der 
kaspischen  Merkur -Kompanie  brachte  uns  nach  Baku,  in  die  Stadt  der 
Petroleumquellen   und  der  ewigen   Feuer. 

Tiflis  —  die  alte  Cyrus-.Stadt  —  ist  immer  ein  interessanter  Ruhe- 
|)unkt  für  ein  bis  zwei  Tage.  Ein  mehrtägiger  Ausflug  wurde  noch  den 
transkaukasischen  Sommerfrischen  Borschom  und  Abastuman  gewidmet.  Auf 
die  schöne  Vegetation  von  Borschom  folgte  ein  Einblick  in  die  Oede  des 
armenischen  Hochlandes  bei  Achaltzich.  Von  Abastuman  fuhren  wir  über 
das  Gebirge  nach  Kutais.  Bei  hellem  Wetter  erschliesst  sich  auf  der  Höhe 
des  Ueberganges  ein  prächtiger  Anblick  der  Kaukasuskette.  Der  Nieder- 
stieg  durch   tropenartigen   Vegetationsreichtum  ist  überraschend. 


lli:iMKKISK    CUKR    KOXSTAXTIXl H'EL,    AtIIEX    L'NI)    KoRKU. 

In  Batum  nahmen  wir  den  Lloyddampfer,  der  uns  längs  der  reichen 
Slidküste  des  Schwarzen  Meeres  nach  Konstantinopel  führte.  Nun  brachte 
uns  jeder  Tag  der  Heimat  näher. 

Noch  zwei  Besteigungen  führten  wir  aus.  Die  eine  auf  den  Seras- 
kierturm  in  Konstantinopel,  die  andere  auf  den  Olympus  bei  Brussa.  Die 
erste  zu  Fuss,  die  zweite  Ijis  nahe  unterhalb  des  Gipfels  zu  Pferde.  Die 
Erinnerung  an  beide   ist   mir  wert  geblieben. 

Lieber  Athen  und  das  kleine  Paradies  von  Korfu  reisten  wir  weiter 
heimwärts;  mein  Reisegefährte  nach  P'iume,  um  nach  nahezu  viermonatlicher 
Abwesenheit  in  Budapest  einzutreffen,  ich  nach  Priest,  von  wo  ich  in  un- 
unterbrochener Fahrt  nach  dem  Atter-See  fuhr,  glücklich  im  Wiedersehen 
meiner  Pamilie,  im  Anblick  unserer  Alpen,  die  den  müden  Kaukasusreisenden 
"Tüssten. 


Kliabdocidaris  caucasica  nov.  sp."'") 


*J  Versteinerung  aus  dem  Bakssantale.     Siehe  Bd.  111:   Geologische  Ergebnisse. 


Lager  im  Tale   des    Advr-Ssu. 


XXII.   KAPITEL. 


Aus  dem  Bakssan-Tal  über  den   Adyr-Mestia-Pass 
nach  Swanetien. 

Der  grossartige  Cliarakter  einer  Gegend  ist 
vorzüglich  dadurch  bestimmt,  dass  die  eindruck- 
reichsten Naturerscheinungen  gleichzeitig  vor  die 
Seele  treten,  dass  eine  Fülle  von  Idcon  und  Ge- 
fühlen gleichzeitig  erregt   werden. 

A.  V.   Humboldt:   Kosmo.s. 

Die  F"ort.setziinL;-  meineir  l'"oi-schungen  führte  mich  1 887  wieder  nach 
dem  Kaukasus.  In  Charkow  traf  ich  mit  Herrn  Dou^-las  W.  Freshfield  zu- 
sammen, dem  ersten  Reisenden,  der  in  die  Gletscherwildnisse  des  für  un- 
nahbar gehaltenen  kaukasischen  Hochgebirges  gedrungen  war  und  als  erster 
seinen  Fuss  auf  die  Gipfel  des  Eibruss  und  Kasbek  gesetzt  hatte.  Herr 
Freshfield  brachte  seinen  alten  Führer  Frangois  Devouassoud  aus  Chamonix 
mit,  der  mit  ihm  vor  nahezu  20  Jahren  die  Reise  im  Kaukasus  ausgeführt 
hatte.  Mit  Devouassoud  waren  noch  sein  Bruder  Michel  und  sein  Xefle 
Josef  Desailloud  gekommen.  Den  grössten  Teil  der  Reiseausrüstung,  da- 
runter zwei  Zelte,  Schlafsäcke,  Decken,  Packkisten,  Satteltaschen,  Kon- 
serven, Instrumente,  photographische  Kamera  und  Platten,  hatte  ich 
besorgt.  Mehreres,  unter  anderm  einen  Messti.sch  für  toi)Ograj)hische 
Aufnahmen,    brachte    Herr  Freshfield   aus    England    mit.      i\m    Bahnhofe    in 


—      303 


Dil-:  Ti-:rekki;i:ne  im  Norden  des  zentralen  Kaukasus. 

Charkow  war  unser  gesamtes  Reisegepiick  ausserordentlich  angewachsen 
und  ziihhe  mehr  als  30  Koffer,  Kisten  und  Säcke,  abgesehen  von  zahl- 
reichem Handgepäck,  welches  wir  in  solchen  Mengen  und  in  einem  solchen 
Volumen  im  Waggon  mit  uns  nahmen,  wie  dies  auf  den  Bahnen  ausser- 
halb Russlands  undenkbar  gewesen  wäre. 

Am  frühen  Morgen  des  19.  Juli  wurden  die  Hügel  um  Pjätigorsk 
sichtbar.  Das  ferne  Schneegebirge  war  umwölkt.  Der  Kaukasus  tritt  hier  mit 
seinen  Vorbergen  in  die  Steppe,  wie  die  Alpen  sich  der  lombardischen 
Ebene  nähern.  Aber  hier  fehlen  die  Kulturen  und  Campanili ;  nur  mit 
Schilfdickicht  bestandene  Flussufer,  weite  Flächen  mit  Malven  und  wilden 
Sonnenblumen  sind  sichtbar,  und  hie  und  da,  auf  den  in  denselben  auf- 
ragenden Hügeln,  die  Ruinen  einer  primitiven  Bergfestung  oder  der  Tumu- 
lus  irgend  eines  vergessenen  Kriegers.  So  müssen  die  Alpen  den  Römern 
erschienen   sein,   als  Gallia  Cisalpina   noch   eine   neu    eroberte   Provinz    war 

Einen  Tag  verbrachten  wir  in  W'ladikawkas  mit  offiziellen  Besuchen 
vmd  den  letzten  Einkäufen  für  unsere  Ausrüstung.  Am  21.  Juli  fuhren 
wir  von  Kodarewskaja  in  rüttelnder  Telega  nach  Naltschik,  wo  wir  in 
einem  schmutzigen  Bauernhause  ein  schlechtes  Unterkommen  fanden.  Hier 
trafen  wir  Hamsat  Urussbiew,  meinen  Begleiter  auf  meiner  ersten  kauka- 
sischen Reise,  mehrere  Chefs  der  Bergtataren,  den  über  2  m  hohen  Riesen 
von  Besingi  und  meinen  alten  Gastfreund  aus  Tschegem.  Der  Bezirkschef 
von  Naltschik  stellte  einen  kabardinischen  Milizsoldaten  zu  unserer  Ver- 
fügung,  ein   dienstfertiger  Mann,    der   drei  Wochen  lang  bei   uns   blieb. 

Am  nächsten  Morgen  war  die  Schneekette  von  Naltschik  klar  sicht- 
bar; Koschtan-Tau  zur  Linken  und  Dych-Tau  zur  Rechten  nehmen  domi- 
nierende Stellungen  ein.  Nach  Dych-Tau  folgt  im  langen  Eiswall  der 
Dschangagipfel. 

Den  Vormittag  verbrachte  ich  wieder  mit  dein  Umpacken  und 
Sichten  eines  Teiles  des  Gepäcks  und  der  Provisionen  —  nach  den  Worten 
Freshfields  eine  riesige  Aufgabe,  bei  welcher  ich  angeblich  grossen  Enthusias- 
mus, Ausdauer  und  Geschicklichkeit  entfaltete,  während  bei  ihm  —  P^resh- 
held  —  das  Gegenteil  der  Fall  war.  Ich  glaube,  ich  verdiente  eine  solche 
Charakterisierung  meiner  Tätigkeit  nicht,  wenigstens  von  Enthusiasmus 
verspürte  ich  wenig,   aber  die   Sache   musste   eben   gemacht  werden. 

Am  Vormittag  fuhren  wir  über  die  Steppe  zum  Bakssanposten  und 
weiter  nach  dem  Kabardaerdorfe  Ataschukin.  Gegen  Abend  schien  die 
Atmosphäre  zu  leuchten;  die  Entfernungen  waren  klar  und  weich  in  der 
Farbe,    wie    oft    in    der    römischen    Campagna.      In    der    Ferne    bietet    der 

—     304      — 


Wieder  in  Uklsskikh. 


Kasbek,    eine    schlanke    Pyramide    reinen    Schnees,    hoch    über    ihren   Nach- 
barn im   Osten   einen   herrlichen   Anblick. 

Wir  übernachteten  wieder  im  Hause  des  Kabardaerfürsten  Ataschukin, 
bei  dem  ich  schon  früher  die  gastfreundlichste  Aufnahme  gefunden  hatte. 
Ein  schweres  Souper  wurde  uns  nach  Landessitte  erst  um  Mitternacht  vor- 
gesetzt. Für  uns  müde  und  hungrige  Reisende  war  dieses  lange  Warten 
eine  starke  Zumutung,  und  ich  hatte  alle  Mühe,  Freshfield,  der  seinem  Un- 
willen in  Worten  Luft  machen  wollte,  zu  beruhigen  und  ihm  wiederholt  vor- 
zustellen,  dass  wir  als   Gäste   uns  eben   fügen   müssten. 

23.  Juli.  Es  ist  ein  langer  Tagesritt  nach  Urussbieh,  den  wir  erst 
um  9  Uhr  antreten  konnten,  da  unsere  zahlreiche  Karawane  nicht  eher  fertig 
war.  Am  Nachmittage  ereilte  uns  ein  starker  Regenguss.  Wir  waren  noch 
weit  vom  Ziele,  als  die  Nacht  hereinbrach.  Der  Mond  war  durch  die 
steilen  Bergwände  verdeckt,  und  nur  die  Sterne  flimmerten  hell  am  klaren 
Himmel. 

Es  war  i  i  Uhr  Nachts,  als  unsere  Karawane  von  den  Pferden  stieg, 
um  die  Brücke  über  den  Bakssan  zu  überschreiten  und,  die  einzelnen  Rinnen 
des  Kyrtykbaches  übersetzend,  das  Dorf  IVussbieh  betrat.  In  Anbetracht 
der  späten  Stunde  wurden  wir  ziem- 
lich rasch  im  alten,  für  Gäste  be- 
stimmten  Hause   untergebracht. 

Es  ist  aus  vielfachen  Ursachen 
leicht,  im  Kaukasus  aufzustehen,  und 
am  nächsten  Morgen  waren  wir  früh 
wach.  Am  Schlüsse  des  Tales  erhob 
1  )ongusorun  sein  breites  Schneehaupt 
in  einen  wolkenlosen   Himmel. 

Während  Preshfield  die  Er- 
müdung der  langen  Eisenbahnfahrt 
von  London  nach  Wien  und  Wladi- 
kawkas  und  des  gestrigen  Rittes  von 
30  Meilen  in  einem  Spaziergange 
auf  die  Kyrtykhänge  abzuschütteln 
suchte  und  im  Dorfe  alte  Be- 
kanntschaften von  vor  19  Jahren 
auffrischte,  auch  einen  ziemlich 
reichlichen  Nachwuchs  konstatieren 
konnte    — ,    war    ich    mit    den    um- 

Dechy:     Kaukasus. 


Kleine    Bakssan t.itarin 
(Familie  Urussbiewj   mit  ihrer  Dienerin. 


VkRIIAXDLUXGEN    mit    I5AKSSANTATAKKX. 


Ständlichen  Verhandlungen,  betreffs  des  Transportes  unseres  Gepäcks  über 
die  Hauptkette  nach  Swanetien,  beschäftigt.  Die  Tataren  wünschten  natürlich, 
class  wir  den   Dongusorun  -  Pass  als  Uebergang  wählen  sollten.     Wir  waren 

jedoch    fest    entschlossen,    einen 
■^_  von   europäischen  Reisenden   un- 

betretenen Gletscher  -  Pass  im 
Hintergrunde  des  Adyrssu-Tales 
zu  versuchen.  Ein,  wie  es  schien, 
sehr  annehmbarer  Kompromiss 
wurde  endlich  abgeschlossen. 
Ein  Teil  des  Gepäckes  sollte, 
auf  Esel  geladen,  über  den 
Dongusorun-Pass  nach  .Swanetien 
geschickt  werden,  und  sechs 
Träger  waren  einverstanden  das, 
was  übrig  blieb,  über  den 
Adyr  -  Pass  nach  Mestia  zu 
tragen.  Dieser  Beschluss  wurde 
jedoch  erst  nach  einen  ganzen 
Tag  währenden  Diskussionen  er- 
zielt. Früh  am  folgenden  Morgen 
begann  der  Streit  aufs  neue ; 
diesmal  war  es  die  genaue  Zu- 
weisung der  Lasten,  welche  in 
Frage  stand.  Ein  sehr  beweis- 
süchtiger Tatar  brachte  eine 
Wage  zum  Vorschein  und  wog 
die  Last  eines  jeden  Mannes  mit 
vermehrter  Sorgfalt.  Endlich, 
um  Mittag,  nachdem  ein  Extra-Träger  noch  bewilligt  worden  war,  konnten 
wir  aufbrechen. 

Steile  Zickzacks  brachten  uns  in  das  Tal  des  Adyrssu,  dessen 
Szenerie  ganz  das  Gepräge  einer  Alpenlandschaft  trägt.  Pur  mehrere 
Stunden  folgten  wir  dem  schäumenden  Gletscherstrome  durch  schöne 
Fichtenwälder,  welche  reizende  Vistas  auf  schneebedeckte  Berge,  grünendes 
Gehänge  und  bachdurchrauschten  Talboden  umrahmen.  Die  Seitenzüge  des 
Hauptkammes  sind  hier,  wie  in  den  penninischen  Alpen,  von  grosser  Höhe. 
Im   Kammzuge,   östlich    des  Ad\Tssu,    zwischen    diesem    und    der    westlichen 


Lastesel  mit  Treiberjungen. 


Im  Talk  dks  Advr-Ssu. 

Abzweigung  des  Tschegem-Tales,  erheben  sich  drei  Gipfel  von  4200  bis 
über  4500  m  Höhe.  Die  Gletscher  sind  ausgedehnt  und  die  Pässe  an  ihrem 
Ursprünge  sehr  hoch  Heide  aber,  Gipfel  und  Pässe,  sind  weniger  steil  als 
gewöhnlich   im   Kaukasus. 


Die    Oeffnung    des  Adyrssu-Tales   mit  UUu-Tau-tschana  im   Hintergrunde. 


Nach  einem  stetigen  Anstiege  erreichten  wir  eine  Terrainwelle  — 
keine  alte  Moräne,  sondern  eine  natürliche  Erhebung  — ,  hinter  welcher 
zwischen  steilen,  mit  Fichten  und  Buchen  bestandenen  Talwänden,  eine 
breite  Fläche  sich  ausdehnt.  Der  kurznarbige  Grasboden  ist  vom  Bache 
verwüstet     und     von     Geröll     übersät.       An     ihrem    jenseitigen     Ende,     am 


307 


SZKXERllL    IM    OBERSTEN    AdVRS.SU-TaLE. 

Mange  nahe  zum  Gletscher,  stieg  der  Rauch  aus  dem  Kosch  eines  Schaf- 
hirten empor.  Dort  wollten  unsere  Träger  die  Nacht  verbringen.  In  einem  Hain 
von  zwerghaften  Buchenstämmen  schlugen  wir  unsere  Zelte  auf  (2500  m  A.  D.). 
h^s  war  eine  liebliche  Lage.  Der  Abend  war  schön,  und  wir  hatten  Zeit, 
ihn  zu  geniessen.  Der  von  Urussbieh  sichtbare  Gipfel  des  Ullu-Tau- 
tschana  (4203  m)  stand  gerade  im  Süden,  ein  breiter  Wall  mit  von  beiden 
Flanken  niederströmenden  Gletschern."')  Nach  einer  tiefen  Einsenkung  er- 
heben sich  dunkle  Felsmauern,    mit  abbrechenden  Eisfeldern,    in   der  Hohe 


Ullu-Tau-tschana    im    Advrssu-Tale. 


von  scharfen,  steil  sich  aufschwingenden  F^irngraten  gekrönt,  die  dem  Rerg- 
zuge  angehören,  der  im  Lazga-Tau  und  im  Tscheget-Tau-tschana  gipfelt. 
l'Usere  Urussbiehträger,  welche,  einmal  ausserhalb  ihres  Dorfes,  sich 
als  gute  Kerle  erwiesen,  gruppierten  sich  mit  grösster  Bereitwilligkeit  zu 
einer  photographischen  Aufnahme  und  bildeten  dann  einen  Kreis  um  das 
Lagerfeuer.  Wie  gewöhnlich  im  Kaukasus,  gab  es  auch  hier  keine  Hütte, 
welche  sich  mit  den  Chalets  oder  Sennhütten  der  Alpen  vergleichen  Hesse. 
Ein  niedriger  Wall,  einige  .Stangen  sowie  Decken  aus  .Schaffellen   genügten 


•"■■)  Früher  irrtümlich  für  Adyrssu-Basch  gclialten   (siehe  S.  97). 


Lackr  im  Advrssu-Tale. 

den  Schafhirten  als  Unterstand.  Der  Sonnenuntergang-  war  herrlich.  Das 
Souper  war  zufriedenstellend.  Der  Kaimak,  die  dicke  Sahne  der  Tataren, 
o-emischt    mit    eno-lischer    l-"ruchtmarmelade,    war    mehr    als    ent :    nach    der 


Lagerplatz    im    Adyrssu  -  Tale. 

Meinung    Freshfields,     viel     zu    gut    für     unsere     Alpenführer,     welche     am 
nächsten  Tage   mehr  oder  weniger   krank  waren. 

26.  }uli.  Um  i'üni'  Vhv  morgens  machten  wir  uns  auf  den  Weg 
gerade  am  Gletscher  hinauf.  Sein  Ende  reicht  bis  zu  2488  m. 
Fre.shfiekl   und  ich   wanderten    zuerst   über  Moränen    und    über    das  sich   er- 


309 


Anstieg  zum  Ah.vk-MI'.stia-Pass. 

hebende  lüs  voran,  an  einem  schönen  Wasserfall  vorbei,  welcher  von  einem 
hohen   Schnceplateau,   westlich  vom   Adyrssu-Basch,   niederrauschte. 

Die  Träger  frugen,  wie  der  graue  Mann  —  Freshfields  Haare  sind 
frühzeitig  gebleicht  —  über  die  Berge  kommen  werde.  Als  man  dann  zu 
schlüpfrigen  Schneehängen  gelangte  und  zu  einem  Kamine  zwischen  Fels 
und  lüs,  erhielten  sie  eine  praktische  Antwort,  welche  sie  vollkommen  be- 
friedigte. Die  höchsten  Felsen,  einer  Kanzel  gleich,  am  Rande  riesiger 
i'irnfelder,  boten  ein  weites  Panorama  fremdartiger  Schneelandschaften, 
welche  ich  durch  die  Photographie  festhielt.  Wir  waren  so  recht  im  Herzen 
eines  weiten  Bassins  schimmernder  tiletscher.  Noch  fern,  hinter  einer  Reihe 
von  P'irnwellen,  zeigte  eine  breite  Depression  die  Lage  unseres  Passüber- 
ganges an,  dem  wir  zustrebten.  Zur  Rechten  (S.W'.)  erhoben  sich  in 
prachtvoller  Schneeumhüllung  die  feinen  Eisspitzen  der  sattelförmigen  Gipfel- 
höhe des  Ulhi-Tau-tschana,  und  an  ihn  gelehnt  der  spitz  ausgipfelnde  Zug 
des  Tscheget-Tau ;  links  (S.O.)  ziehen  Schneehalden  und  zerklüftete  P'irn- 
terassen  zur  breiten  felsdurchbrochenen  Gipfelkrone  des  Baschil-Tau  (4171  m) 
empor.  Die  zwei  Gipfel  des  Elbruss  erhoben  sich  schon  hoch  über  die 
vorliegenden  Gratzüge. 

Unser  Pass  liegt  im  Südosten,  so  dass  wir  von  da  an  von  der  im 
allgemeinen  südlichen  Richtung,  in  welcher  wir  am  Gletscher  aufgestiegen 
waren,  abbogen.  Wir  hatten  das  Seil  angelegt.  Wäre  der  Schnee  von 
guter  Beschaflenheit  gewe.sen,  so  hätte  der  Marsch  zur  Passhöhe  wenig 
Mühe  gemacht.  Dies  war  nicht  der  P'all,  und  wir  sanken  den  ganzen  Weg 
tief  in  weichen  Schnee  ein.  Die  schwer  beladenen  Träger  stampften  tüchtig 
hindurch.  Der  letzte  Hang  war  steil,  aber  der  Firn  war  wenig  zerklüftet. 
F"reshfield  führte  hier  eine  Strecke  lang  und  bahnte  die  P'ährte  im  Schnee. 
Dafür  schüttelte  ihm  dann  einer  der  Träger  die  Hände,  mit  den  bewun- 
dernden  Ausrufen:   Dschigit,   Dschigit! '■') 

Die  Höhe  des  Adyr-Mestia-Passes  war  eine  breite  Plateauwelle,  und 
wir  wanderten  eine  .Strecke  lang  über  die  Schneeflächen  bis  zur  Kante  des 
Abfalles,  bevor  wir  anhielten.  Der  Ausblick  gegen  Süden  und  Westen  war 
von  überraschender  Grossartigkeit.  Der  Standpunkt  erinnerte  an  den  Col  du 
Geant,  den  Blick  gegen  Savoyen  gewendet.  Uns  gegenüber  erhob  sich  eine 
riesige  Kette,  von  Eis  und  Firnschnee  starrend,  welche  annähernd  dem  Zuge 
der  Chamoni.x-Aiguilles  entsprechen  würde.  Diese  Nebenkette  (höchster 
Gipfel:  Sswjetgar  4109  m)  kam  an  Höhe  tlem  wasserscheidenden  Haupt- 
kamme gleich,   war  ausserordentlich  steil   und   ihre   Klippen  waren  zum    Teil 

*)   Im  .Sinne  eines   Helden,   sonst  auch  Räuber,   Bandenfühler,   ta|)ferer  Krieger. 


Al'SSlCHT  VOM   Am'Rssu-rASS. 

von  abbrechenden  HänL,'-er.letschern  bedeckt,  zum  Teil  von  einer  Riistunor 
zart  geschmiedeter  lMrn])latten  umschlossen.  Sie  endete  im  Südwesten  mit 
einem  kühnen  ilunkeln  Felshorn  (Margjan,  3568  m),  einem  Wall  steil  auf- 
strebender, wild  zerrissener  Gneiszacken  entragend,  hinter  welchem  in  der 
Ferne  der  lange,  schneebedeckte  Zug  der  Leilakette  erschien.  Zu  unserer 
Linken  lag  ein  weites  Firnbassin,  das  höchste  Reservoir  des  Leksyr- Glet- 
schers. Swanetiens  begrünte  Bergwelt  im  Süden  brach  nicht  den  eisigen 
Ring,  der  die  Aussicht  vom  Adyrssu-Pass  umschloss,  und  die  fernen  Tiefen 
der  Rionlandschaft  blielien   unsichtbar. 

Eine  kurze  Zeit  blieb  ich  in  Bewunderung  der  herrlichen  Eisland- 
schaften versunken  und  wechselte  mit  Freshfield  Ausrufe  des  Entzückens. 
Dann  aber  folgte  die  für  mich  wichtigste  Arbeit  —  die  photographischen 
Aufnahmen.  Es  war  nicht  leicht  zu  erreichen,  dass  der  Apparat  während 
der  Exposition  fest  stehen  blieb,  da  die  Stativfüsse  im  weichen  Schnee 
immer  wieder  einsanken.  Die  kleinste  Veränderung  in  der  Stellung  des 
Apparates,  und  wäre  es  auch  nur  ein  Millimeter,  gibt  ein  unscharfes  Bild. 
Der  Reisende,  welcher  nach  stundenlangem,  mühsamem  Anstiege  auf  diesen 
eisigen  Höhen  .Stativaufnahmen  mit  einer  Kamera  machen  will,  meist  mit 
Kälte  und  bewegter  Luft  kämpfend,  benötigt  ein  hohes  Mass  von  Ruhe, 
Geistesgegenwart  und  Kraft  zur  Beherrschung  der  ungünstigen  Verhältnisse, 
unter  welchen  er  arbeiten  muss.  In  den  letzten  Jahren  ist  die  Verwend- 
barkeit von  Aufnahmen  mit  sogenannten  Handapparaten  durch  die  gesteigerte 
Empfindlichkeit  der  jetzt  zur  Verfügung  stehenden  photographischen  Platten 
und  die  hohe  Lichtstärke,  welche  bei  der  Fabrikation  von  photographischen 
Objektiven  erreicht  wurde,  sehr  gefördert  worden.  Wenn  auch  die  Formate 
der  Aufnahmen  meist  klein  sind,  stellt  die  Anwendung  solcher  Handapparate 
zu  Momentaufnahmen  an  den  Reisenden  viel  geringere  Anforderungen,  und 
das  Arbeiten  damit  ist  viel  müheloser  —  insbe.sondere  auf  exponierten 
Punkten,  in  Kälte  oder  Sturm  —  als  mit  den  grösseren  Kameras,  welche 
auf  Stativen  verwendet  werden  und  vor  der  Aufnahme  eine  genaue  Ein- 
stellung des  Objektes  auf  der  Visierscheibe  erfordern.  Nachdem  die  photo- 
graphischen Aufnahmen  beendet  waren,  wurden  die  (Juecksilber-Barometer 
und  Thermometer  abgelesen.  Die  Temperatur  der  Luft  war  6"  C.  Die 
Höhe  des  Passes  beträgt  3751  m  (3733  m  B.  D.). 

Wir  hatten  vom  Lager  sechs  Stunden  auf  die  Passhöhe  gebraucht. 
Die  drei  Alpenführer  waren  krank  und  in  einem  Zustande  grösster  Er- 
schöpfung angelangt.  Es  trat  bei  ihnen  auch  nach  längerer  Ruhe  keine 
Besserung  ein   und   sie   konnten   keine  Nahrung  zu  sich  nehmen. 

—      311      — 


Ar.sTiEi;  CiiKR  pkn  Leks\k-Gletscher. 

Zu  unscrn  Missen  zog  ein  weiter  Gletscherstrom,  breiter  als  das 
Mer  de  GIa(;e,  und  erfüllte  das  riesige  Becken  zwischen  uns  und  der  im 
Süden  aufragenden  Kette.  Es  war  der  Leksyr-Gletscher,  damals  namenlos;  wir 
nannten  ihn  Gwalda-Gletscher.     Niemand  hatte  ihn  je  gesehen,  ihn  bewundert. 

Wir  stiegen  unter  den  Klippen  des  LHlutschana  und  der  Lazga  über 
Firngehänge  und  über  steile  Flächen  Lawinenschnees  abwärts.  Ueber  eine 
breite  Lücke  in  der  östlichen  Umrahmung  des  Gletschers  erhoben  Tetnuld 
und  Gestola  ihre  eisigen  Gipfelhrste.  Aus  der  Firnregion  des  Leksyr- 
Gletschers  tretend,  eröffnet  sich  der  tiefere  Teil  des  mächtigen  Eisstromes, 
im  Westen  überragt  von  den  Massen  des  Tschatyn-Tau  und  vom  doppel- 
gipfligen   Uschba  —   ein  herrlicher  Anblick. 

Der  Gletscher  war  breit,  ziemlich  eben  und  zeigte  Gletschertische, 
Mühlen  und  alle  die  bekannten  F"ormationen  der  Eiswelt  im  grossen  Mass- 
stabe. Die  Felsgehänge  an  seinem  rechten  Ufer  prangten  in  einem  köst- 
lichen Grün  —  ein  wunderbarer  Farbenkontrast  mit  dem  Weiss  des  sie 
umgebenden  Schnees  und  Eises.  Sie  müssen  dort  beliebte  Weideplätze 
der  Steinböcke  und  wilden  Bergziegen  sein,  nach  welchen  unsere  Bakssan- 
tataren  vergeblich    spähten. 

Von  Westen  zieht  ein  grosser  Eisstrom,  ein  Zufluss  unseres  Gletschers, 
aus  einem  Firnbassin,  welches  die  Grösse  des  F'irnreservoirs  des  Talefre- 
Gletschers  besitzt,  und  die  vereinigten  Eismassen  wenden  sich  plötzlich  im 
rechten  Winkel  und  fliessen  durch  eine  Oeffnung  der  im  Süden  streichenden 
Kette  abwärts,  den  Wäldern  Swanetiens  zu.  Wir  verHessen  hier  den  Gletscher 
und  wanderten  über  sein  linkes  (östliches),  begrüntes  llfergehänge.  Flächen 
von  weissen  und  cremefarbigen  kaukasischen  Rhododendron  waren  in  voller 
Blüte ;  der  Rasen  war  das  Bett  von  Anemone  narcissiflora,  Ranunculus, 
Gentianen,  gelben  Mohnblumen,  dem  bläulichen  Vergissmeinnicht  und  blass- 
roten Gänseblümchen  —  ein  Blumcnstrauss  von  höchster  Ueppigkeit  in  den 
Schoss   ewigen   Frostes  geworfen. 

Das  Gehänge  wurde  steiler  und  klippig,  so  dass  wir  es  vorzogen, 
wieder  auf  dem  Gesteinschutt  abzusteigen,  der  den  Gletscher  bedeckte. 
Es  war  ein  mühsames  Marschieren  über  denselben,  bis  wir  nach  Ueber- 
kletterung  des  griesigen  Gehänges  auf  die  Höhe  einer  Moräne  gelangten, 
die  alt  genug  war,  um  mit  Gesträuch  bedeckt  zu  sein,  dabei  geschmückt 
mit   wilden   Rosen,   Lilien   und   Rittersporn. 

Unser  Weg  wurde  jetzt  \()n  einem  tiefen  Graben  unterbrochen, 
durch  welchen  ein  Bach  floss,  der  einem  Gletscher  entströmte,  welcher  in 
der  Kette   zu   unserer  Linken  verborg-en  lieoft.     Um   uns  den   Umweg-  zu   er- 


LACEK    XAIIK    \I>M    ICnde    DKS   TSCIIAI  A.M -("iir/ISI  i  ikks. 


sparen,  den  eine  Unigehuny  iles  Cirabens  in  der  Möhe  erfordert  hätte, 
kehrten  wir  wieder  auf  den  Ciletscher  zurück.  Das  Ende  des  gigantischen 
Eisstromes  kam  endlich  in  Sicht;  ein  schmaler  Steg  lief  längs  der  Bergseite 
oberhalb  desselben.  Die  Sonne  ging  schon  unter,  als  wir  etwa  eine  Stunde 
später  an  eine  Stelle  kamen,  welche  zum  Lagerplatz  geeignet  war.  Seit 
Tagesanbruch  hatten  wir  nirgends  einen  Fleck  PLrde  gesehen,  gross  genug, 
um   darauf  ein  Zelt   aufzuschlagen. 

Eine  alte  Moräne,  etwa  hundert  Meter  oberhalb  der  jetzigen  Ober- 
fläche des  Eises  und  überwuchert  mit  Unterholz,  Kräutern  und  Pflanzen, 
umschloss  mit  dem  Gehänge  der  Talwand  hier  ein  kleines  Tälchen.  Wasser 
war  zur  Hand,  und  da  die  Dämmerung  nahte,  waren  wir  froh,  sofort  unsere 
Zelte  aufschlagen  zu  können  und  zündeten  unser  Lagerfeuer  an.  Die  Träger 
schnitten  mehrere  Armvoll  Gräser  und  Zweige,  schütteten  sie  in  die  Höhluno- 
des  Bodens  neben  unserm  Zeltplatze,  hüllten  sich  in  ihre  Burkas  und 
fielen  in  einem  schwarzen  Haufen,  Köhlern  gleich,  auf  die  Erde.  Ich  sorgte 
für  ein  gutes  Abendessen 
aus  unsern  V^orräten,  und 
dann  richteten  wir  unser 
Nachtlager    in    den    Zelten. 

Ein  lautes  Plätschern 
auf  der  Zeldeinwand  weckte 
uns  vor  Tagesanbruch.  Ein 
schwerer  Regenguss  fiel, 
und  unsere  Begleiter  hatten 
sich  unter  den  Schutz  eines 
nahen  Fichtenhaines  zurück- 
gezogen, von  wo  ihr  Feuer 
pittoreske  Strahlen  aut  den 
finsteren  Wald  warf. 

Als  der  Morgen  heran- 
brach, hatte  sich  der  Himmel 
aufgeklärt,  und  die  ersten 
Objekte,  welche  unsern 
Augen  begegneten,  waren 
die  Türme  des  Uschbagip- 
fels,  welche  mit  prächtigen 
Abbruchen  sich  über  den 
Firnen     eines      fremdartigen        Uschba  und  Tsehatyn-Tau  mit  Tschalaat-Gletschcr. 


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In  das  Tal  tikk  Mui-cifara. 

Gletschers  erhoben,  der  geo-en  uns  in  steilem  und  geschlungenem  Laufe 
abfiel;  damals  namenlos,  ungekannt  und  ungesehen,  nannten  wir  ihn 
Mestia- Gletscher.  Er  ist  jetzt  in  t\ci\  Karten  als  Tschalaat- Gletscher  ein- 
geführt. Infolge  der  Steilheit  der  allgemeinen  Neigung  seines  Bettes 
dringt  er  tiefer  im  Tale  herab,  als  der  grössere  Strom  des  Lek.syr- 
Gletschers.  Kr  erreicht  in  der  Tat  bei  1628  m  den  tiefsten  Punkt  unter 
allen  Gletschern  des  Kaukasus  auf  beiden  Seiten,  indes  der  Leksyr-Gletscher 
mit  1734  m  endigt.  Nicht  viele  Jahre  zurück,  müssen  die  Enden  der  beiden 
Gletscher    sich    berührt    haben.       Die    Gesteine    der    Moränen,    welche    der 


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Mestia  und   die   Leilakcttc.                        g|| 

Gletscher  von  seiner  Umgebung  herabbringt,  sind  Gneisgranite,  Syenite, 
mit  feinem  Korn,  bestehend  aus  Feldspat  und  x'\niphibolit  sowie  Pegmatite 
mit  Ouarzeinschlüssen. 

Nach  einem  kurzen  Abstiege  führte  ein  nahezu  ebener  Pfad  durch 
Unterholz  und  Gebüsch,  reich  an  wilden  Rosen  von  den  zartesten  Tönen 
und  reifen  Himbeeren  Am  Bache  angelangt,  war  es  unmöglich,  die 
stürmischen  Wasser  zu  übersetzen.  Wir  mussten  daher  in  der  Höhe  auf 
dem  linken  Ufer  bleiben  und  wanderten  dort  über  hügelige  Heuschläge 
und  sonnige  Matten,  unterbrochen  von  tiefen  Schluchten,  in  welchen  riesige 
Gräser  und  Blumen  wucherten,  hinab  in  das  Haupttal  der  Mulchara.  Die 
Uschbagipfel,   selten   ausser  Sicht  in   der  swanetischen  Landschaft,   erschienen 


Nach  Mestia,  Latal  i'xd  Retscho. 

wieder  über  den  niedrigen  GratzUgen,  und  die  lange  Linie  der  Gletscher 
an  der  Leilakette  gaben  einen  schönen  Hintergrund  für  die  siebzig  Türme 
von  Mestia,  welche  sich  jenseits  des  breiten  Bachbettes  zwischen  Obstbäumen 
und   Gerstenfeldern   erheben. 

Um  2'/-  '-'br  nachmittags  waren  wir  in  Mestia,  wo  wir  im  Gebäude 
der  Dorfkanzlei  unser  Quartier  einrichteten.  Der  Dorfälteste,  ein  hoher, 
wild  aussehender  Mann  mit  einer  breiten,  babylonischen  Physiognomie,  die 
Kette  der  Starschinas  um  die  Brust  geschlungen,  kam,  uns  zu  begrüssen. 
Ein  kleiner  Junge,  der  etwas  Russisch  verstand,  machte  den  Dolmetscher. 
Wir  kauften  ein  Schaf  und  gaben  den  Urussbiehleuten  einen  Festschmaus. 
Am  Abende  sassen  wir  lange  unter  einer  oberhalb  der  Dorfkanzlei  stehenden, 
sehr  alten  Birke,  die  von  rohen  Steinsitzen  umgeben  ist,  im  Anschauen  der 
herrlichen   swanetischen   Landschaft  versunken. 

28.  Juli.  Ein  guter  Weg  führt  in  etwa  vier  Stunden  am  rechten 
Ufer  der  Mulchara  von  Mestia  über  Latal  nach  Betscho.  Wiederholt  hatte 
ich  ihn  zurückgelegt,  und  immer  wieder  rissen  die  herrlichen  Szenerien, 
welche  man  durchschreitet,  zur  Bewunderung  hin.  \m  \'orgrunde,  in- 
mitten goldgelber  Gerstenfelder  und  zwischen  kleinen  Birkenhainen,  erheben 
sich  die  weissen  Türme  des  swanetischen  Dorfes.  Dahinter  ziehen  gewellte 
Hügelflächen,  auf  welchen  dunkle  Gruppen  von  Tannen  und  Fichten  ihre 
Schatten  zwischen  das  hellere  Laub  der  Pappeln-,  Birken-  und  Buchen- 
wäldchen werfen.  Und  über  dem  Defile,  welches  die  beiden  Ingurzuflüsse 
trennt,   erglänzen   die   Gipfel   des  schneeigen   Hintergrundes. 

Von  Latal  überstiegen  wir  den  Bergrücken  nach  Betscho.  Schon 
auf  der  Seite  gegen  Betscho,  kurz  unterhalb  der  Höhe,  dehnt  sich  eine 
ebene  Halde  üppiger  Heuwiesen  aus,  umringt  von  Pappeln,  Birken  und 
Azaleen,  gerade  im  Angesichte  Uschbas,  ein  Punkt,  wie  man  ihn  sich  nicht 
schöner  denken  kann. 

In  Betscho  waren  wir  in  leeren,  geräumigen  Zimmern  eines  unbe- 
wohnten grossen  Steinhauses  gut  untergebracht.  Der  in  Betscho  stationierte 
russische  Pristaw,  Herr  Aetowsky,  nahm  uns  mit  liebenswürdigster  Gast- 
freundschaft auf  und  teilte  uns  für  die  Zeit  unseres  Aufenthaltes  in  Swanetien 
einen   Milizkosaken   —   einen  Swanen   —   zur  Dienstleistung  zu. 

Die  Nacht  war  warm  und  mild,  zu  warm,  um  nicht  bald  schlechtes 
Wetter  befürchten  zu  lassen.     Im  Gebüsch  glühten  unzählige  Johanniswürmer. 


Der   Adisch-Gletscher. 


XXIII.   KAPITEL. 


Wieder  im  freien  Swanetien. 


Weh    Hiii,    zu    welchem   Volke    bin    iih    nun   wieiler  gekommen! 
Sin<l's  uumensehliche   Räuber   und  sittenlose  Barbaren? 

Oilvssee    Xm. 


In  Swanetien  nahm  die  P2rsteigung  de.s  Tetnuldgipfcls  die  erste 
Stelle  in  unsern  Reiseplänen  ein.  Der  X'^ersuch  sollte  an  seiner  Südseite, 
vom   Adischgletscher,   unternommen   werden.     Dieser  war  unser  nächstes  Ziel. 

Am  Morgen  nach  unserer  Ankunft  in  Betscho  war  der  Himmel 
bewölkt,  und  Freshfield  machte  mit  Michel  und  Josef  einen  Ausflug-,  um, 
wie  er  sagte,  Uschba  zu  rekognoszieren.  Gegen  Mittag  jedoch  hoben  sich 
die  Wolken  zum  Teil,  und  Pre.shfield  entschloss  sich,  einen  Pelsgipfel 
Uschba  gegenüber  zu  ersteigen,  einen  herrlichen  Aussichtspunkt,  der  seitdem 
Gulba  benannt  wurde. 

Am  30.  Juli  regnete  es  fast  den  ganzen  Tag.  Am  nächsten  Morgen 
(31.  Juli)  sollte  Betscho  verlassen  werden,  aber  die  schon  Tags  vorher 
bestellten  Pferde  kamen  erst  um  i  Uhr.  Die  erste  Nacht  wollten  wir  in 
der  Dorfkanzlei  von  Ipari  verbringen.  Freshfield  mit  den  Lastpferden  wanderte 
auf   dem   von   mir  \'or  zwei    lahren   bescineenen   Weo-  über  Mestia   und   den 


-     316     — 


Im  SüDiox  HKS  Mrni.KKi'.N  s\vaxkttsche\  Gkiürcszuces  nach  Itaki. 


Ugürpass,  indes  ich  südlich  und  längs  des  Bergzuges,  der  den  Ingur  von 
der  Mulchara  trennt,  nach  Ipari  gelangen  wollte,  eine  Wanderung,  die 
Freshfield   schon   früher  zurückgelegt  hatte. 

Es  war  ein  herrlicher  Weg,  der  mich  von  Latal  längs  wasserdurch- 
rauschten  Felsschluchten  auf  die  Mattenhöhe  eines  Hügelrückens  der  Sagar- 
kette  brachte,  von  welcher  entzückende  Blicke  auf  das  Mulcharatal  sich 
darboten.  Waldige  Schluchten  ziehen  hinauf  zu  den  Silberkämmen  der 
Leilakette.  Auch  dem  mich  begleitenden  Kabardiner  aus  dem  ernsteren 
Norden  gefiel   die  blühende   Schönheit  dieser  Landschaften. 

Durch  tiefschattige  Wälder,  meist  auf  der  Höhe  von  Hügelkämmen, 
führen  die  Pfade  nach  Cheskiel  und  zu  den  Hütten  von  Eli  (1632  ni),  an 
welchen  wir  um  j'A  Uhr  abends,  schon  bei  eintretender  Dämmerung,  vorbei- 
zogen. Bald  darauf  bringt  uns  ein  scharfer  Abstieg  zum  brausenden  Ingur, 
an  dessen  Ufer  entlang 
wir  in  nächtlicher  Wande- 
rung, die  später  sanftes 
Mondlicht  erhellte,  Ipari 
erreichten  (1493  m).  Es 
war  nahezu  9 ',2  Uhr 
nachts.  Die  unter  hohen 
Bäumen  einsam  stehende:; 
Kanzellaria  ist  eine  roh 
autgeführte  Steinhütte,  in 
der  wir  uns  so  gut  wie 
möglich  für  die  Nacht 
einrichteten.  Die  andern 
waren  noch  nicht  da. 
Erst  um  II  Uhr  nachts 
traf  die  Karawane  ein. 
Sie  hatten  viel  Aufent- 
halte mit  den  schlecht 
beladenen  Pferden  ge- 
habt, deren  Lasten  wieder- 
holt abfielen  und  immer 
wieder  aufgeladen  wer- 
den mussten.  Freshfield 
brachte  eine  Unglücks- 
botschaft. Das      Gay-  Uschba  vom  Osten. 


—     317      — 


MiTTACSRAST    IM    DORFK    AdISCII. 

Lussacsche  Ouecksilberbarometer,  welches  wir  Frangois  anvertraut  hatten,  war 
auf  unaufoeklärte  Weise  zerbrochen.  Es  war  ein  schwerer  Verhist  für  mich. 
I.  August.  Durch  das  pittoreslce,  engschhichtige  Tälchen  des  Adisch- 
baches  stiegen  wir  an.  Im  Rückblicke  bot  sich  eine  von  Berghängen  und 
Wald  eingerahmte  entzückende  Ansicht  Uschbas.  Drei  Stunden  waren  wir 
unterwegs,  als  wir  um  ii^^  Uhr  die  Hüttengruppe  des  Dorfes  Adisch 
erreichten,  das  ich  schon  während  der  Reise  im  Jahre  1885  berührt  hatte. 
Am  oberen  Ende  des  Dorfes,  an  der  Wand  eines  Turmes,  machten  wir 
Mittagsrast.      Wir    wollten    hier  ein   Schaf  kaufen,    die   Leute   stellten  jedoch 


Dorf  Adisch. 

übertriebene  Forderungen  und  verlangten  das  Doppelte  des  damals  in 
Swanetien  üblichen  Preises.  Als  wir  nach  einer  Stunde  Vorbereitungen  zum 
Aufbruch  trafen,  forcierte  einer  aus  der  Menge  der  um  uns  versammelten 
Dorfbewohner  Geld  für  die  Benutzung  des  ihm  gehörigen  Grundes,  auf 
dem  wir  gerastet  hatten.  Da  diese  Zumutung  energisch  abgewiesen  wurde, 
erhob  sich  ein  wüster  Lärm.  Es  wurden  Kindschale  gezogen,  der  Haupt- 
anstifter rannte  in  ein  nahe  gelegenes  Haus  und  stürzte  sich  dann  mit 
einer  hoch  gehaltenen,  langen  kaukasischen  Flinte  auf  uns.  Ich  hatte 
unterdes  die  Revolver  zur  Hand  kommandiert,  und  in  wenigen  Augenblicken 
waren  unsere  fünf  Revolver  in  Bereitschaft,  l'nser  Rücken  war  durch  die 
hohe  Wand   unterhalb   des  Turmes   gedeckt.      Ich   erinnere   mich  noch,   dass 


318 


l'JN    AncKIKF    LiER    WII.UEX    BKWÜIINKK    V(iN    AdISiII. 


Michel  Devouassoud,  der  hinter  mir  stand,  mir  zurief:  »Monsieur,  je  suis 
prct!  und  ich  gestehe,  dass  er  mir  damals  besser  gefiel,  als  auf  den  Bergen, 
am  Adyrpass.  Die  l-'rauen  und  Kinder  waren  mit  einem  kreischenden 
Geschrei  zurückgewichen,  und  den  Männern  warf  sich  ein  hoher  Swane  mit 
regelmässigen  Gesichtszügen  und  einem  vollen  blonden  Barte  entgegen, 
wehrte  einige  vom  Vordringen  ab  und  schien  mit  seiner  alles  übertönenden 
Stimme  beschwichtigend  wirken  zu  wollen.  Er  wandte  sich  dann  an  mich 
mit  einigen  gebrochen  russisch  gesprochenen  Worten,  denen  ich  entnahm, 
dass  die  Leute,  auf  die  er  wies,  arm  seien.  Er  wollte,  wie  ich  glaube,  die 
in  etwas  zu  aggressiver  Eorm  vorgetragene  Bitte  um  Geld  entschuldigen. 
Ich  erwiderte  ihm,  immer  im  Tone  grösster  Entrüstung,  dass  die  Armut 
der  Leute  kein  Vorwaml  für 
solche  ungerechtfertigte  l'orde- 
rungen  sei,  dass  wir  unter  dem 
Schutze  der  Regierung  reisten, 
was  auch  die  Begleitung  der 
beiden  Kosaken  beweise,  und 
dass  sich  die  ganze  Einwohner- 
schaft des  Dorfes  durch  ein 
solches  Vorgehen  einer  strengen 
Bestrafung  seitens  der  Behörden 
aussetze.  Nun  gab  ein  Wort 
das  andere,  und  wenn  auch  der 
ohrenbetäubende  Lärm  nicht 
aufhören  wollte,  die  Gefahr,  dass 
sich  die  Adischer  zu  einem  An- 
griffe hinreissen  lassen  würden, 
war  vorbei.  Nicht  um  das  (ield 
sei  es  uns  zu  tun  gewesen,  fügte 
ich  bei,  sondern  das  Ungerecht- 
fertigte ihrer  Forderungen  müsse  zurückgewiesen  werden,  und  als  der  ver- 
mittelnde Swane  unter  andern  beschwichtigenden  Entschuldigungen  auch  auf 
die  armen,  nahezu  unbekleideten  Kinder  hinwies,  nahm  ich  kleine  Münze 
und  verteilte  dieselbe  unter  ihnen.  Mittlerweile  hatten  unsere  Leute  mit  Hilfe 
der  beiden  Kosaken,  die  während  des  ganzen  Aufruhrs  untätige  Zuschauer 
blieben,  zusammengepackt  und  die  Pferde  beladen,  wir  schritten  auf  sie  zu, 
die  Menge  öftnete  uns  einen  W  eg,  und  wir  zogen  aus  Adisch,  hinein  in 
das   stille  einsame  Hochtal  hinter  dem   Dorfe. 


Swanen   in   Adisch. 
(Links  unser  Kiis:il<  au>   ilri-  Kabarcla.) 


MESSUNCKN    am    ;\l)lSCll-Gl,M'ISlllF,k. 

luiK'  Stunde  später,  nahe  vom  Gletscherende,  schlugen  wir  unser 
Lager  auf,  inmitten  von  einigen  Birkengruppen,  die  sich  in  der  Talsohle  bis 
hierher  vorgewagt  haben.  Ich  setzte  den  Weg  bis  zum  Adisch-Gletscher  fort. 
Wie  bei  meinem  ersten  Besuche,  riss  der  Sturz,  mit  welchem  der  Eisstrom 
über  die  steile  Stufe  seines  Bettes,  unter  welcher  er  endigt,  niederfällt,  zur  Be- 
wunderung hin.  Das  Gletschereis  trägt  keine  Moräne  und  glänzt  in  tadelloser 
Weisse.  Von  der  im  jähre  1885  erbauten  Mauer  und  den  Signalblöcken  fand 
ich  nur  den  mit  E.  bezeichneten  im  Bach  umgestürzt  liegend,  in  der  Ent- 
fernung von  zwei  Metern  vom  Gletscherende.  Im  Jahre  18S5  betrug  die  Ent- 
fernung dieses  Blockes  vom  damaligen  Gletscherende  i  3  m  30  cm,  es  ergibt 
sich   daher  ein  Vorschreiten   des  Gletschers   in  zwei  Jahren  von   1  i  m    30  cm. 


Das  Ende  des  .^disch-Gletschers. 


Als  ich  ins  Lager  zurückkehrte,  wurde  dort  die  Küche  gerüstet.  Es  war 
dem  Kosaken,  den  wir  sofort  nach  unserm  \'erlassen  von  Adisch  wieder  tlorthin 
zurückgeschickt  hatten,  gelungen,  ein  Schaf  zu  erstehen,  dessen  einzelne  Teile 
über  einem  grossen  Peuer  in  Kesseln  brodelten  und  an  Stäben  gebraten  wurden. 

Das  Wetter  hatte  sich  verschlechtert,  kurze  Regenschauer  fielen,  untl 
als  es  dunkel  wurde,  suchten  wir  fröstelnd  die  Zelte  auf.  Wir  hatten  die 
beiden  Zelte  nahe  und  einander  gegenüber  aufgestellt;  zwischen  ihnen 
wurde  das  Gepäck  aufgestapelt,  des  drohenden  Regens  wegen  sorgfältig 
mit  wasserdichten  Decktüchern  zugedeckt  und  diese  wurden  mit  Steinen 
beschwert.     Daneben   laeerten  sich  die   beiden  Kosaken.     In   der  Nähe   hatten 


Beraubung  des  Adiscii-Lagers. 

die  Swanen  unter  Bäumen  sich  ihr  Nachtquartier  zurechtgemacht.  Rascher 
als  sonst  trat  Ruhe  im  Lager  ein,  und  man  hörte  nur  noch  das  monotone 
Plätschern  des  Regens,   wie   er  auf  das   Zeltdach  aufschlug. 

2.  August.  Die  ganze  Nacht  regnete  es,  zeitweise  in  Strömen,  die 
\om  Sturme  gepeitscht  wurden.  Auch  am  Morgen  hörte  der  Regen  nicht 
auf.  Wir  blieben  im  Zelte  trocken  und  warm.  Das  Zelt  unserer  Führer 
war  unachtsamer  Weise  in  einer  kleinen  Bodenvertiefung  aufgestellt  worden, 
infolgedessen  sich  das  Wasser  darunter  ansammelte.  Die  Insassen  waren 
nass  und  elend.  Prangois  öfihete  unser  Zelt  und  zeigte  mit  einer  ver- 
zweifelten Stimme  an,  dass  die  Hälfte  des  gestern  geschlachteten  Schafes, 
welche  wir  zurückgelegt  und  an  einem  Baumzweige  aufgehängt  hatten, 
verschwunden  sei.  PZtwas  später  benötigte  jemand  ein  Arzneimittel,  und  als 
man  die  Medizinkiste,  welche  sich  zwischen  dem  Gepäck  befand,  hervor- 
nahm, bemerkte  ich  zu  meiner  grössten  Bestürzung,  dass  der  Deckel  ab- 
gesprengt sei,  obgleich  der  Inhalt  unberührt  geblieben  war.  Wir  konnten 
uns  dies  vorerst  nicht  erklären.  Eine  weitere  Untersuchung  des  Gepäcks 
zeigte  jedoch,  dass  auch  das  Schloss  der  kleinen  Kofferkiste,  die  meine 
Kleider  und  andere  persönliche  Effekten  enthielt,  aufgebrochen  und  ihres 
Inhalts  entleert  war.  Auch  andere  Gegenstände,  danmter  Steigeisen,  Revolver, 
Gürtel,  fehlten.  Die  Decktücher  waren  so  sorgfältig  wieder  über  das  Gepäck 
gebreitet,  dass  wir  den  schweren  Diebstahl  erst  lange  nachher  entdeckten, 
nachdem  das  Schafteil  vermisst  worden  war.  Die  Diebe  mussten  sehr 
unternehmend  und  geschickt  gewesen  sein,  da  das  Gepäck,  wie  erwähnt, 
zwischen  unsern  beiden  Zelten  lag  und  die  Kosaken,  obgleich  sie  infolge 
des  starken  Regens  sich  unter  Bäume  zurückgezogen  hatten,  immerhin  nur 
mehrere   Schritte   entfernt  waren. 

Der  Diebstahl  traf  mich  hart,  denn  ausser  dem,  was  ich  auf  dem  Leibe 
hatte,  blieb  mir  absolut  nichts  mehr  an  Wäsche  und  Kleidern,  ein  im 
kaukasischen  Plochgebirge  unersetzlicher  Verlust.  Freshheld  und  ich  be- 
nutzten ein  Zelt  zusammen,  und  jeder  stapelte  darin  längs  der  Aussenseite 
der  von  ihm  eingenommenen  Zelthälfte  den  grössten  Teil  seines  persönlichen 
Gepäcks,  ich  auch  noch  einen  Teil  der  photographischen  Apparate  auf 
Des  Regenwetters  wegen  hatte  ich  diesmal  alle  meine  persönlichen  Effekten 
ausserhalb  des  Zeltes  gelassen,  um  an  Instrumenten  und  photographischen 
Apparaten,   was   nur  möglich,   im   Zelte   unterzubringen. 

Unbarmherzig  fuhr  es  fort  zu  regnen;  kein  Zeichen  einer  Besserung 
bis  Mittag.  Wir  beschlossen,  uns  in  das  nächste  Dorf  im  Mulchara-Tale, 
nach  Muschal,  zurückzuziehen  und  dem  Pristaw  nach  Betscho  eine  Mitteilung 

Dechy:  Kaukasus.  ZI 

—     321      — 


Rückkehr  nach  Muschal. 

über  das  Geschehene  zu  senden.  Es  war  eine  unangenehme  Arbeit,  die 
nassen  Zelte  und  Stricke  zu  packen  und  unterdessen,  da  es  fortwährend 
regnete,  che  andern  Gegenstände,  insbesondere  die  photographischen  hi- 
strumente,  vor  Nässe  zu  bewahren.  Um  3  Uhr  verliessen  wir  den  Lager- 
platz. Adisch  schien  wie  ausgestorben,  als  wir  ohne  Aufenthalt  still  durch 
das  Dorf  zogen.  Während  des  Ueberganges  über  den  Scheiderücken 
zwischen  dem  Adisch-Tale  und  dem  obersten  Mulchara-Tale,  klärte  sich  der 
Himmel.  Im  Rückblicke  bot  die  feine  Eisnadel  des  Adischgipfels,  mit 
glitzerndem  Neuschnee  bedeckt,  einen  herrlichen  Anblick.  Aus  dem  wallen- 
den Nebelmeere,  welches  das  swanetische  Hochtal  erfüllte,  blitzten  die  beiden 
Arme  des  Twiber-Gletschers  und  in  der  östlichen  Ecke  das  Silberweiss  der 
Zunge  des  Zanner-Gletschers  auf,  während  weiter  draussen,  im  Norden, 
das  zweigipflige  Haupt  Uschbas,  in  grosser  Höhe  zwischen  Wolken  schwebend, 
auftauchte. 

Einen  Augenblick  waren  wir  versucht,  an  einem  reizenden  Punkte, 
auf  schwellender,  von  Wald  umgebener  Matte,  wo  sich  der  Blick  ins  Mulchara- 
Tal  öffnet,  ein  Lager  zu  beziehen.  Glücklicherweise  wiederstanden  wir,  und 
bald  darauf  war  der  Himmel  wieder  von  schwarzen  Gewitterwolken  um- 
zogen  und   der  Wind   strich   heulend   über  die   Hochfläche. 

Ein  steiler  Abstieg  führt  talwärts.  Wo  das  Gelände  wieder  ebener 
wird,  standen  alle  Wege  tief  unter  Wasser.  Wir  begegneten  zahlreichen 
Mähern.  Es  scheint,  dass  in  Swanetien  der  Heuschnitt  unabhängig  vom 
Wetter  betrieben  wird.  In  Muschal,  das  wir  um  710  Uhr  abends  ereichten, 
wurden  wir,  wie  ich  vor  zwei  Jahren,  im  Hause  des  Geistlichen  Margiani 
gastfreundlich  aufgenommen.  Im  ersten  Stockwerke  bewohnten  wir  wieder 
das  grosse  gedielte  Zimmer,  dem  entlang  ein  breiter  Holzbalkon  läuft,  der 
eine  schöne  Aussicht  auf  das   swanetische   Hochtal  bietet. 

3.  August.  Das  Wetter  war  am  Morgen  zweifelhaft.  Ich  sandte 
einen  Brief  an  den  Pristaw  von  Betscho,  und  der  Sohn  des  Geistlichen  er- 
bot sich,  nach  Adisch  zu  gehen  und  zu  versuchen,  gegen  Geld  die 
gestohlenen  Gegenstände  wieder  zu  erhalten.  Er  kehrte  erfolglos 
zurück.  Herr  Freshfield  war  mit  zwei  Führern  zu  einer  Rekognoszierung 
des  Tetnuld  aufgebrochen,  kam  aber  bald  durchnässt  zurück.  Es  war 
ein  Tag,  an  dem  Regengüsse  mit  kurzen  Intervallen  von  Aufheiterung 
wechselten. 

4.  August.  Das  kalte,  nasse,  neblige  Wetter  hält  an.  Mehr  Regen 
und  Stürme,  weniger  Aufheiterung.  Für  Muschal  war  es  ein  bewegter  Tag. 
Zuerst  kamen  berittene  Kosaken  aus  Betscho,  geführt  von  einem    grimmig 

—     322      — 


Einzug  ues  Bischofs  von  Pr)Ti  und  seines  Gefolges  in  Muschal. 

aussehenden  alten  Unteroffizier  mit  langem  grauen  Bart,  eine  typische 
Kosakengestalt.  Sie  ritten  weiter  nach  Adisch,  lun  dort  die  Beraubung 
unseres  Lagers  als  strafende  Rächer  zu  untersuchen.  Dann  wurde  dem 
Eintreffen  einer  andern  Partie  entgegengesehen,  und  zwar  niemand  ge- 
ringerem, als  dem  Bischof  von  Poti,  der  erste  Bischof,  der  seit  historischen 
Zeiten  das  freie  Swanetien  betreten   sollte. 

Es  war  schon  Abend,  als  der  Weg,  welcher  längs  der  schönen 
Berghänge  oberhalb  des  Dorfes  herabzieht,  von  zahlreichen  Reitern  belebt 
wurde.  Die  Kavalkade  teilte  sich  in  mehrere  Trupps;  zuerst  kamen  die 
Diener  mit  grossen  Satteltaschen,  dann  langhaarige  Priester,  Sänger  mit 
dunkeln  Locken  und  melanchoHschen  Augen.  Am  Ende  kam  der  Bischof, 
eine  gedrungene  dickleibige  Gestalt  in  imposanten  Kirchenkleidern,  begleitet 
von  seinem  Sekretär  und  einem  Mingrelier,  einer  Art  major  domus. 

Das  Abendessen  zeigte  die  Ressourcen  Swanetiens.  Wir  alle,  mit 
Ausnahme  des  Bischofs,  nahmen  am  Mahle  teil,  etwa  30  an  Zahl.  Ge- 
bratenem Schaffleisch  und  gekochten  Hühnern  folgte  Schweinebraten.  Es 
war  Mangel  an  Messern  und  Gabeln,  noch  mehr  an  Tellern.  Aber  die 
Leute  am  unteren  Ende  der  Tafel  bedienten  sich  des  Kindschals  als 
Messer,  und  die  flachen  Brote,  diesmal  zu  Ehren  des  Bischofs  gut  gebacken, 
wurden  zuerst  als  Teller  benutzt  und  dann  nach  der  Art  Aeneas  gegessen. 
Dazu  gab  es  Wein,  a  discretion,  ein  vorzüglicher  reiner  mingrelischer  Wein, 
welchen  trotz  seines  Bockleder-Geschmacks  niemand,  mit  Ausnahme  unserer 
Führer,  verschmähte.  Die  Kleider  und  das  lange  Haar  der  Geistlichen 
machte  die  Szene  zu  einer  merkwürdig  lebendigen  Reproduktion  einer 
Abendmahlzeit  vom  Pinsel  eines  Meisters  aus  dem  16.  Jahrhundert. 
Unser  Gastwirt  war  einem  der  Apostel  in  Albrecht  Dürers  Gemälden  aufs 
Haar  ähnlich.  Es  war  lange  nach  Mitternacht,  als  wir  uns  zurückziehen 
konnten,  beobachtet  von  einer  feierlichen  Gruppe  Priester  in  langen  Kleidern 
und  swanetischen  Bauern,  die  lebhaft  an  die  Zuschauer  erinnerten,  welche 
in  Raphaels  Kartons  dargestellt  sind. 

Am  folgenden  Morgen  verliess  der  Bischof  mit  seiner  Gesellschaft 
Muschal.  Unser  swanetischer  Kosak  brachte  die  Nachricht,  dass  am  Nach- 
mittage der  Pristaw  aus  Betscho  ankommen  werde.  Herr  Freshfield  er- 
klärte, gegen  Mittag  mit  den  Führern  aufbrechen  zu  wollen,  um  von  dieser 
Seite  einen  Versuch  zur  Ersteigung  des  Tetnuld  zu  unternehmen,  eine  Er- 
steigung, die  wir  von  Adisch  geplant  hatten,  um  dann  sofort  den  Rückweg 
auf  die  Nordseite  der  Hauptkette  auf  einem  Pass,  der  über  den  Zanner- 
Gletscher  führen   sollte,   auszuführen.      Es  war   mir  unmöglich,  wie  dies  Herr 


Kosaken  eskortieren  die  F"amiliexältesten  aus  Adisch  nach  Musciial. 

Freshfield  wissen  musste,  Muschal  zu  verlassen,  ohne  die  Ankunft  des 
Pristaws  abzuwarten,  der  in  unserm  Interesse  den  langen  Weg  von  Betscho 
zurücklegte  und  schon  früher  die  Kosaken  nach  Adisch  geschickt  hatte. 
Zudem  waren  keine  Vorbereitungen  für  die  Ueberschreitung  des  Gletscher- 
Passes  getroffen,  keine  Träger  für  das  Gepäck  bestellt.  Ich  legte  Herrn 
P^reshheld  keine  Schwierigkeiten  in  den  Weg  und  übernahm,  wenn  auch 
schweren  Herzens,  die  Mission,  Mannschaft  für  den  Uebergang  anzuwerben, 
um  am  nächsten  Tage  von  Muschal  aufzubrechen  und  am  Zanner-Gletscher 
zu   übernachten,   wo   wir  dann   zusammentreffen  sollten. 

Nach  dem  Abmärsche  von  F"reshfields  Partie  kamen  die  Kosaken 
mit  fünfzehn  Dorfbewohnern  aus  Adisch,  zumeist  den  Aeltesten  der  einzelnen 
l'amilien,  und  dem  Starschina.  Bald  darauf  traf  auch  der  Pristaw  von 
Betscho  mit  einer  zahlreichen  Kosakeneskorte  ein.  Wir  blieben  auf  dem 
Balkon  des  Hauses,  der  Pristaw,  der  Geistliche,  sein  Sohn  und  ich;  die 
Kosaken   und   die  Adischer  standen  vor  demselben   im   Hofe. 

Zuerst  wurde  der  Mann  vorgeführt,  welcher  von  uns  Geld  für  die 
Rast  im  Dorfe  gefordert  hatte.  Der  Pristaw  stellte  ihm  das  Unrechtmässige 
seines  Vorgehens  vor,  insbesondere  Reisenden  gegenüber,  die  unter  dem 
.Schutze  der  Regierung  standen  und  in  Begleitung  von  zwei  Kosaken  in 
ihr  Dorf  kamen.  Der  wild  aussehende  Mann,  der  auch  in  Adisch  der  Haupt- 
rädelsführer war,  gab  eine  trotzige  Antwort.  Der  Pristaw  befahl  den  Kosaken, 
ihm  den  Kindschal  abzunehmen  und  die  Hände  zu  binden.  Dann  wurden 
die  Leute  betreffs  der  Plünderung  des  Lagers  gefragt.  Sie  protestierten, 
das  Dorf  sei  unschuldig  und  die  Diebe  müssten  Fremde  gewesen  sein. 
»Das  kann  nicht  sein  ,  erwiderte  der  Pristaw;  »ihr  wisst  ganz  gut,  dass  es 
dort  keinen  Weg  gibt,  und  dass  keine  fremden  Leute  euer  Dorf  passierten.« 
Man  gab  ihnen  eine  Stunde  Bedenkzeit,  um  entweder  die  Täter  anzuzeigen, 
oder  die  gestohlenen  Gegenstände  herau.szugeben.  Die  ganze  Prozedur 
war  für  mich  höchst  unangenehm,  und  obgleich  der  Verlust,  der  mich 
betraf,  augenblicklich  unersetzlich  war,  nahm  die  Sache  eine  Wendung,  die 
ganz  ausser  Verhältnis  mit  dem  an  sich  geringen  Werte  des  Gestohlenen 
war.  Der  Pristaw  jedoch  erklärte,  nicht  anders  handeln  zu  dürfen,  um  die 
Autorität  der  Behörden,  unter  deren  Schutz  wir  reisten,  nicht  arg  blossstellen 
zu  lassen.  Als  nach  einer  -Stunde  weder  die  Täter  angegeben  wurden, 
noch  die  Zusage  gemacht  wurde,  dass  die  gestohlenen  Gegenstände  rück- 
erstattet werden  würden,  wurden  allen,  nicht  ohne  Widerstand  des  einen 
oder  des  andern  die  Waffen  abgenommen.  Darauf  gab  der  Pristaw  den 
Befehl,    die  Adischer    nach  Betscho  zu   führen    und    sie    so  lange,    bis    der 

—      324      — 


Gerichtsverfahren  des  Pristaws  von  Betscho. 

Täter  eruiert  sein  würde  oder  die  Sachen  zur  Stelle  gebracht  sein  würden, 
dort  gefangen  zu  halten. 

Einige  der  Leute  verlegten  sich  jetzt  aufs  Bitten.  Es  sei  jetzt  Ernte- 
zeit und  die  Unmöglichkeit,  unaufschiebbare  Feldarbeiten  zu  verrichten,  sei 
für  sie  und  ihre  Familien  ein  schwerer  Verlust.  Der  Pristaw  blieb  jedoch 
unerbittlich.  Es  tat  mir  nun  weh,  dass  jetzt  auch  Unschuldige  mit  den 
SchulcHgen  leiden  mu.ssten,  und  ich  machte  dem  Pristaw  hierüber  Vorstellungen. 
Herr  Aitowsky  jedoch  berief  sich  auf  seine  Kenntnis  des  Volkes  und  be- 
merkte, dass  bei  diesem  nur  in  solcher  Weise  das  Recht  gehandhabt  werden 
könne,  ja,  dass  er  nicht  daran  zweifle,  dass  dieses  Vorgehen  zur  Entdeckung 
der  Täter  führen  würde.  »Unsere  Aufgabe  ist«,  fügte  der  Pristaw  hinzu, 
»ordnungsmässige  Zustände  und  Sicherheit  in  diesem  Lande  herbeizuführen, 
und  ich  kann  einen  solchen  Fall  von  Gelderpressung  und  Beraubung  von 
unter  dem  Schutze  der  Regierung  reisenden  Fremden  nicht  vorübergehen 
lassen,  ohne  mit  aller  nötigen  Strenge  das  Verbrechen  zu  verfolgen  und 
die  Schuldigen  ihrer  verdienten  Strafe  zuzuführen.«  Ich  hatte  dem  gegen- 
über nichts  zu  erwidern,  als  Herrn  Aitowsky  für  die  grosse  Mühe  und 
Bereitwilligkeit  zu  danken,   mit  der  er  zu   unserm  Beistande  herbeigeeilt  war. 

Die  Kosaken  sassen  auf;  paarweise  reitend,  hatten  sie  zwischen  sich 
die  zu  Fuss  gehenden  Adischer,  ein  langer  Zug,  dem  wir  vom  Hause  nach- 
blickten, bis  er  dem  Auge  entschwand.  Dann  folgte  auch  der  Pristaw  mit 
drei  seiner  Mannen.  Vorher  hatte  er  den  Starschina  des  Dorfes  rufen 
lassen,  gab  den  Befehl,  mir  Träger  für  den  Uebergang  über  die  Haupt- 
kette zu  stellen,  und  machte  ihn,  den  Geistlichen  und  das  ganze  Dorf  für 
meine  Sicherheit  haftbar.  Es  war  Abend  geworden,  als  ich  allein  zurück- 
blieb, und  ich  gestehe,  dass  ich  mich  trotzdem  nicht  vollkommen  beruhigt 
fühlte,  während  der  ängstliche  Ausdruck  im  Gesichte  des  sanften  Kabardaers, 
unseres  Milizkosaken,  deutlich  zeigte,  dass  es  ihm  nach  dem  Vorgefallenen 
unter    den  wilden   Swanen    noch    weniger  behaglich   zu  Mute  war. 

Bis  spät  in  die  Nacht  und  vom  frühen  Morgen  des  nächsten  Tages 
an  währten  die  Verhandlungen  mit  den  Eingeborenen,  betreffs  Ueber- 
schreitung  des  Passes  nach  dem  Norden,  den  ich  schon  jetzt,  da  er  über 
den  Zanner-Gletscher  und  sein  Ursprungsgebiet  führen  sollte,  Zanner-Pass 
nennen  will.  Ich  hatte  vor  zwei  Jahren  gleichfalls  Schwierigkeiten  gehabt, 
Träger  zur  Ueberschreitung  des  Twiber-Passes  anzuwerben,  aber  es  gelang 
endlich  doch,  zwei  Swanen  zu  finden,  die  angeblich  vor  mehreren  Jahren 
diesen  Pass  als  Uebergang  auf  die  Nordseite  benutzt  hatten,  wahrscheinlich 
aus  Gründen,   die   ihnen   die  Wahl   eines  bequemeren  Passes,   auf  dem   man 

—     325     — 


Anwerbung  von  Trägern  für  die  Uüerschreitung  der  Hauptkette. 

ihnen  leichter  hätte  folgen  können,  nicht  ratsam  erscheinen  Hess.  Pfade  von 
Schmugglern  und  Wilddieben  haben  Bergsteigern  auch  in  den  europäischen 
Alpen  oft  Wege  für  ihre  Zwecke  und  Ziele  gewiesen.  In  betreff  des  Zanner- 
Passes  aber  gab  es  nur  die  Tradition,  die  noch  bei  mehreren  alten  Swanen 
im  Mulchara-Tale  sich  erhalten  hatte,  dass  einst  über  den  Zanner-Gletscher 
ein  Uebergang  nach  den  Nordtälern  der  Kette  geführt  habe,  und  nur  ein 
Greis  konnte  angeblich  dies  aus  eigener  Erfahrung  bestätigen.  Sonst  war 
niemand  seit  Menschengedenken  über  den  Zanner-Pass  gegangen.  Es  war 
daher  nicht  leicht,  die  Eingeborenen  zu  einer  Reise  in  eine  ihnen  unbekannte 
Eiswelt  zu  bewegen.  Hätte  irgend  ein  Reisender,  wie  Herr  Freshfield  mit 
Recht  bemerkt,  etwa  hundert  lahre  zurück  versucht,  in  den  Schweizer  Alpen 
die  Grindelwalder  dazu  zu  bringen,  ihre  Gletscher  auf  einem  Uebergange 
nach  dem  Wallis  zu  überschreiten,  er  wäre  jedenfalls  bedeutenden  Schwierig- 
keiten begegnet.  Es  gehörte  festes  Beharren  auf  der  Ausführung  meines 
Planes  und  viel  Geduld  dazu,  um  die  sehr  natürliche  Abneigung  der  Ein- 
geborenen von  Muschal  gegen  das  Abenteuer,  welches  wir  ihnen  zumuteten, 
zu  besieofen. 


Der  Zanner-Gletscher. 


XXIV.  KAPITEL. 


Ueber  den  Zanner-Pass  nach  dem  Norden  der 
Hauptkette. 

Mirabilis  in  altis  Dominus. 

Von  den  verschiedenen  Punkten  des  mittleren  swanetischen  Gebirgs- 
rückens, der  zwischen  dem  im  Süden  strömenden  Ingur  und  seinem  im 
Norden  ziehenden  Ouellflusse,  der  Mulchara,  streicht,  bieten  sich  wechselnde 
Ansichten  der  stark  vergletscherten  südlichen  Abdachung  der  Hauptkette. 
Es  sind  hauptsächlich  drei  grosse  Gletschergebiete,  die  .sich  dort  ausdehnen. 
Von  West  nach  Ost  betrachtet,  liegen  zuerst  im  Hintergrunde  der  sich  bei 
Mestia  öffnenden  Ouerschlucht  die  Firnbassins,  denen  Tschalaat-  und  Leks)T- 
Gletscher  entströmen,  das  Gebiet  unserer  Wanderung  über  den  Adyr-Mestia- 
Pass.  In  die  bei  Muschal  gleichfalls  von  Norden  niederziehende  Twiber- 
schlucht  dringt  der  aus  vier  grossen  Zuflüssen  gebildete  Twiber-Gletscher, 
dessen  höchste  Regionen  ich  auf  dem  Uebergang  über  den  Twiber-Pass 
überschritten  hatte.  Im  Osten,  in  der  Ecke  des  Mulcharatales,  dessen  obersten 
Quellrayon  bildend,  breitet  sich  der  mächtige,  vielarmige  Zanner-Gletscher 
aus,  dessen  Firnregionen  und  die  ihnen  entragenden  Eisgipfel  auf  der 
Wanderune    durch    das   Ingurtal    und    das    nördliche   Ouelltal  der  Mulchara 


—     327     — 


Durch  die  Zanner- Schlucht. 

am  fernen  Horizont  erscheinen  und  eine  eisige  Folie  für  die  entzückende, 
in   Grün  getauchte,   formenreiche  swanetische  Tallandschaft  bilden. 

Die  Eiswelt  oberhalb  der  Mulcharaquellen,  der  Zanner-Gletscher  und 
seine  Firnregion,  war  das  Ziel  der  Reise,  als  wir  gegen  Mittag  Muschal 
verliessen,  im  ganzen  eine  Karawane  von  vierzehn  Mann  ;  elf  Träger  und 
die  beiden  Kosaken. 

Nach  den  letzten  Hüttengruppen  oberhalb  Muschal  überschreitet  man 
den  Twiberbach  und  tritt  in  eine  steil  ansteigende,  von  wildem  Gebüsch 
bewachsene  Schlucht,   welche   der  vom   Zanner-Gletscher  kommende   Bach  in 


Zanner-  und  Xay  cb-Gletscher. 

weiss  schäumenden  Schnellen  durchtost.  Es  scheint  dieses  Hochtälchen  von 
den  Eingeborenen  kaum  begangen  zu  werden,  denn  der  gleich  zu  Beginn 
unseres  Marsches  kaum   kenntliche  Pfad  verschwand   später  vollkommen. 

Trotz  des  bewölkten  Himmels  herrschte  eine  schwüle  Mittagshitze ; 
kein  Lüftchen  wehte,  und  die  feuchte  Wärme  wurde  zwischen  den  üppig 
aufschiessenden  Stauden  und  den  hohen  Blattpflanzen  inmier  drückender. 
Als  wir  aus  dem  Haselgebüsch  traten,  dessen  dichte  Zweige  jede  Aussicht 
verschlossen  hatten,  erblickten  wir  den  eisigen  Talschluss.  Vor  uns,  am 
Fusse  eines  felsgipfligen,  vom  Eise  umschlossenen  Bergeilandes,  vereinigen 
sich    zwei    Gletscher.      In    einem    herrlichen  Eisfall,   zersplittert  und   zerri.ssen, 


—     328 


Der  Zannkr-  und  der  Nageij- Gletscher. 

stürzt  aus  seinen  unsichtbaren  Firnreservoirs  der  Zanner-Gletscher  herab. 
Das  Gletscherende  hat  sich  in  den  letzten  Jahren  zurückgezogen,  wie  die 
glatt  geschliffenen  Felsen  einer  steilen  Klippe  unterhalb  seiner  jetzigen 
Zunge  und  die  tiefer  liegenden  Endmoränen  zeigen ;  er  reicht  jetzt  bis 
2065  m  (A.  D.)  Zur  Rechten,  aus  dem  Süden,  kommt  aus  einem  von  steil 
abbrechenden  weissen  Felsen,  die  aus  der  Ferne  für  Kalkstein  gehalten 
werden  könnten,  umschlossenen  Tale  der  andere  Gletscher  herab,  der  in 
ruhigem  Laufe  dasselbe  erfüllt  und  sich  bei  etwa  2200m  (A.D.)  mit  dem 
Zanner-Gletscher  vereinigt.     Ich   nannte   ihn   damals  Telnuld-Gletscher ;   jetzt 


Der  Nageb-Gletscher. 

ist  er  als  Nageb-Gletscher  in  die  Karte  eingeführt  worden,  obgleich  diese 
Bezeichnung  bei  den  Eingeborenen  kaum  im  Gebrauche  gewesen  sein  dürfte. 
Der  Zanner-Gletscher  gehört  zu  den  grössten  Gletschern  des  Kaukasus ; 
die  von  seinem  FLinzugseebiete  und  dem  F"irnbecken  eingenommene  Fläche 
beträgt  55  qkm,  seine  Länge  11,5  km.  Ersteht  demnach  an  fünfter  Stelle 
unter  den  kaukasischen  Gletschern,  an  dritter  unter  den  an  der  Südab- 
dachung gegen   das  Ingurhochtal   sich   senkenden   Eisströmen. 

Es  kostete  eine  scharfe  Kletterei  von  etwa  einer  Stunde,  um  an  den 
steinigen,  zum  Teil  noch  mit  kümmerlicher  Vegetation  bedeckten  Hängen, 
längs    des  Eisfalls   des   Zanner-Gletschers,   auf  die   Höhe   eines  kleinen   Fels- 


—     329 


Nachtwache  im  Zanner-Lagkr. 

plateaus  zu  gelangen,  das  an  den  Gletscher  grenzt.  Das  Zelt  schlugen 
wir  um  4  Uhr  nachmittags  neben  einem  grossen  Felsblocke  auf,  der  uns 
\or  dem  eisigen  Winde,  welcher  vom  Zanner-Gletscher  wehte,  schützen 
sollte.  Die  um  7  Uhr  abends  beobachteten  Instrumente  ergaben  für  das 
Lager  eine   Höhe  von    2494   m   (A.   D.)   und   eine  Lufttemperatur  von   S°C. 

Unwillkürlich  hatten  sowohl  ich  wie  der  Kabardiner  beim  INLarsche 
durch  das  dichte  und  hohe  Gebüsch  der  Zannerschlucht  ein  scharfes  Auge 
auf  beide  Seiten  unseres  Pfades.  Obgleich  es  keinem  Zweifel  unterlag,  dass 
die  Adischer  die  Misset<äter  waren,  so  war  ich  doch  mittelbar  die  Ursache, 
dass  ihnen,  insbesondere  mit  der  Wegnahme  der  Waffen,  ein  grosser  Schimpf 
angetan  wurde  und  sie  jetzt  gefangen  in  Betscho  sassen.  Für  die  an  Rache- 
fehden von  jeher  gewöhnten  Swanen  war  diese  Buschschlucht  ein  passender 
Ort,  um  aus  solchem  Hinterhalt  eine  Kugel  dem  W^anderer  nachzusenden. 
Da  der  Kabardiner  einen  Ueberfall  von  selten  der  zurückgebliebenen  Männer 
in  Adisch,  Söhne  und  Brüder  der  Gefangenen,  fürchtete,  wollte  er  in  der 
Nacht  Wache  halten.  Ich  war  bestrebt,  ihn  zu  beruhigen,  war  jedoch  ein- 
verstanden damit,  dass  wir  W^ache  hielten,  nur  sollten  wir  abwechselnd,  ich 
bis  Mitternacht  und  er  später  wach  bleiben. 

Für  den  nächsten  Tag  hatten  wir  einen  frühen  Aufbruch  beabsichtigt, 
dem  diesmal  auch  die  Swanen  beistimmten,  es  wurde  daher  rasch  abgekocht, 
und  es  war  noch  hell,  als  es  im  Lager  still  wurde.  Die,  wie  es  schien, 
auch  vom  heissen  Anstieg  etwas  ermüdeten  Swanen  hatten  sich  in  ihre 
Burkas  und  Pelze  gehüllt  und  lagen,  eng  aneinander  gedrückt,  bald  in  tiefem 
Schlaf.  Ich  nahm  Schlafsack  und  Decken  aus  dem  Zelte  und  machte  es  mir 
bequem.  Sinnend  schaute  ich  auf  die  Landschaft,  die  vor  mir  ausgebreitet 
lag,  nach  dem  Himmel,  an  welchem  bewegte  Wolken  in  lebhaftem  Farben- 
spiel einen  immerwährenden  Wechsel  der  Erscheinungen  boten.  Es  gab  des 
Schauens  genug,  und  das  neben  mir  liegende  Buch  blieb  ungeöffnet.  Noch 
ist  es  licht  auf  den  Höhen,  und  rosiger  Duft  umfliesst  die  fernen  Gipfel  im 
Westen.  Nur  die  Taltiefe,  durch  welche  ich  weit  hinaus  in  die  Welt  blicke, 
hat  sich  schon  in  bläuliche  Schatten  gehüllt.  Je  mehr  aber  dort  alles,  Wald 
und  Wiesen,  Talgrund  und  Hügelgelände,  im  ungewissen  Abenddüster  sich 
verliert,  um  so  überschwänglicher  wird  das  P^arbenprangen  an  den  Schnee- 
gipfeln der  Leilakette,  die  in  eine  Flut  von  Gold  und  Rot  getaucht  sind. 
Rascher,  als  das  Licht  im  Ingurtale  und  auf  den  es  umragenden  Höhen  erlischt, 
hat  sich  die  Dämmerung  in  die  vom  Nageb-Gletscher  erfüllte  Talschlucht  gelegt. 
Ich  übersehe  den  Eisstrom  bis  zu  dem  ihn  krönenden  Pirnwall  der  Lak-tschildar- 
Kette,    der   in    kalter  Weisse  vom   lichten   Himmelssaum    sich   abhebt,    indes 

—      330     — 


Das  Eismekr  des  Zanner- Gletschers. 

das  Gletscherende  schon  in  tiefem  Schatten  ruht.  Rasch  bricht  dann  die 
Nacht  herein.  Da  blitzt  plötzhch  ein  schwacher  Feuerschein  auf  dem  rechten 
Ufer  des  Nageb-Gletschers  auf,  etwa  in  gleicher  Höhe  mit  unserm  Zeltplatz. 
Dort  lagern  also  Freshfield  und  seine  Leute.  Es  können  keine  andern  sein, 
denn  im  Kaukasus  betritt  niemand  die  Schnee-  und  Ei.swüsten  der  unzu- 
gänglichen  Hochregion.     Was   die  Mannen   wohl   erlebt   haben   mögen  ! 

Es  wurde  kalt,  und  ich  warf  noch  mehrere  Strauchzweige  in  das 
glimmende  Feuer.  Wenn  man  in  dunkler  Nacht  so  hoch  droben  einsam  am 
Feuer  sitzt,  wie  da  die  alten  Geschichten  aus  den  Flammen  steigen,  im 
raschen  Wirbel  durch  den  Sinn  jagen,  während  man  halb  wachend,  halb 
träumend  ihnen  lauscht !  Die  Zeit  flieht  dann  merkwürdig  rasch,  und  ich 
mag  nicht  nur  wachend  geträumt  haben,  sondern  war  vielleicht  auch  einen 
Augenblick  eingeschlummert;  denn  plötzlich  wurde  es  heller.  Der  Mond 
trat  über  den  zackigen  Graten  im  Osten  hervor,  seine  lichten  Strahlen 
drangen  zwischen  den  Wolken  bis  zur  Erde,  bis  zu  unserm  Lagerplatze 
und   hüllten  alles   um   mich  in   phantastischen   Schimmer. 

Glanzvolle  Nacht  erhellt  den  Horizont, 
Und  tiefe  Stille  herrscht  die  Welt  entlang; 
So  tiefe  Stille  herrscht,  dass  ich  im  Mond 
7.U   hören   wähne  leisen   Harfenklang. 

(Petöfi.) 

Der  von  geisterhafter  Helle  umspannte  Raum  enschien  wie  ein 
Traumbild.  Träumte  ich  wirklich.^  Aber  ein  lebhaftes  Gefühl  der  Kälte 
verneinte  dies,  und  bald  darauf  kam  der  Kabardiner,  der  nun  meinen  Platz 
einnahm,   indes   ich   mich   im   Zelte   zur  Ruhe   begab. 

Mit  Moreengrauen  waren  wir  wach,  tranken  unsern  Morgentee,  ohne 
aber  den  Aufbruch  zu  sehr  zu  beeilen,  da  wir  ohnedies  keinen  zu  grossen 
Vorsprung  vor  den  uns  nachrückenden  Gefährten  nehmen  konnten.  Um 
5  Uhr  am  7.  August  verliessen  wir  den  Lagerplatz,  hielten  uns  rechts  und 
betraten  bald  das  Eis. 

In  überraschenden  Grössenverhältnissen  dehnte  sich  vor  uns  das 
Eismeer  des  Zanner-Gletschers  aus.  Eine  Reihe  schneeiger  Höhen,  welche 
das  Firntal  einrahmen,  werden  von  den  leuchtenden  Zinnen  der  Gestola 
und  des  Tetnuld  gekrönt.  Das  Sonnenlicht  des  Morgens  zitterte  in  der 
klaren   Bergluft. 

Wir  überquerten  den  Gletscher.  Man  kam  auf  dem  Eise  gut  vorwärts. 
Aus  Südwesten  strömen  die  zerrissenen  Firnmassen  dem  Gletscher  zu. 
Tetnuld  stand  nun  voll  vor  meinen  staunenden  Blicken  und  entfaltete  die 
ungeheure  Flucht  seiner  eisigen  Wappnung.    Die  funkelnden  Hänge  endigten 

—     331     — 


Anblick  der  Eiskassade  des  Tetnuld. 

in  überhängenden  Firnbrüchen;  glatte,  schmal  gefurchte  Schneeplatten  hingen 
an  der  wunderbar  steilen  Fassade  des  Berges,  die  mit  den  Resten  von 
Eislawinen  überschüttet  war.  Mit  dieser  eisigen  Umgebung  kontrastierte  der 
Rückblick  auf  die  fernen  Tiefen  des  grünen,  waldreichen  Ingurtales,  über 
welchem  die  Leilakette  einen  glänzenden  Bogen  zog.  Noch  um  8  Uhr  war 
die  volle  Mondscheibe  sichtbar,  die  bleich  über  der  duftigen  Tallandschaft 
schwebte.  Eine  unendliche  Ruhe,  ewiger  Friede  schien  dort  ausgegossen, 
wo  rohes  Menschengetriebe,  für  uns  unsichtbar,  sein  Heim  aufgeschlagen  hat. 
Die  ganze  Breite  des  Gletschers  nimmt  jetzt  der  obere  Eisfall  ein, 
mit  welchem  jener  aus  seinem   Firnbassin   niedersinkt.     Ein   felsiger  Rücken, 


Unterer  Eisfall  des  Zanner-Gletschers. 

dessen  Gehänge  stellenweise  noch  mit  kurznarbigem  Grase  bewachsen  ist, 
erhebt  sich  auf  der  rechten  Seite  und  weist  uns  den  Weg  zur  Umgehung 
des  Eisfalles  an.  Die  Kletterei  den  Felsrücken  empor  war,  mit  Ausnahme 
eines  einzigen  mauvais  pas,  einer  senkrecht  abstürzenden  Felsklippe,  durch 
die  ein   kurzer  Kamin  führte,   nicht  schwierig. 

Von  der  Höhe  des  Felsrückens  kommt  die  gewaltige  Grösse  des 
niederdringenden  Zanner-Gletschers  zu  voller  Geltung.  Weit  hinaus  durch 
das  swanetische  Hochtal  trägt  der  Blick.  An  der  in  ihren  sanften  Formen 
immer  reizend   schönen   Leilakette  beginnen  sich  Wolken   zu   sammeln,   sonst 


332 


Ermüdender  Marsch  durch  tieeen,  i'ui,veri(;en  Schnee. 

empor,   die   wir  um    lo   Uhr   betreten,   um    sie   den    ganzen   Tag   über    nicht 
mehr  zu  verlassen. 

Am  Gletscher  unter  uns  sind  jetzt  Freshfield  und  die  drei  Führer  auf- 
getaucht; sie  scheinen  uns  nicht  zu  bemerken  und  streben  stetig  vorwärts. 
Nach  einer  kleinen  Stunde  hielten  wir,  um  unsere  Gefährten  zu  erwarten, 
die  jetzt  mit  uns  Zeichen  und  Zurufe  wechselten.  Sie  waren  etwas  länger 
links  vorn  am  Gletscher  geblieben  und  hatten  das  Gehänge  des  Felsrückens 
höher  oben  in  Angriff  genommen.  Als  sie  uns  zuerst  im  Firnbecken  er- 
blickten, eine  Karawane  von  vierzehn  Mann,  als  kleine  schwarze  Punkte 
in  der  weissen  Schneewüste,  muss  unsere  Gruppe  eine  eigentümliche  Aehn- 
lichkeit  mit  einem  der  alten  Steindrucke  gehabt  haben,  welche  De 
Saussures  Ersteigung  des  Montblanc  darstellen.  Als  wir  zusammentrafen, 
lagerten  wir  uns  alle  im  Schnee,  und  ich  empfing  meine  Gefährten  mit 
einem  kräftigen  Imbiss,  dessen  wir  alle  bedurften.  Freshfield  hatte  mit  seinen 
Führern  Tetnuld  glücklich  erstiegen,  ohne  besonderen  Schwierigkeiten 
begegnet  zu  sein.  Das  Wetter  hatte  die  Ersteigung  begünstigt.  Die 
Rundsicht  vom  Gipfel  war  entzückend  schön  und  dehnte  sich  bis  in 
ungeahnte  Weiten  aus.  Sie  hatten  unser  Lagerfeuer,  welches  der  Felsblock 
deckte,  nicht  bemerkt  und  waren  von  einer  gewissen  Unruhe  erfüllt  gewesen, 
bis  sie  am   Anstiege  zum  Lagerplatz  unsere   Fussspuren   fanden. 

Eine  halbe  Stunde  später  war  die  jetzt  vereinigte  Karawane  wieder 
auf  dem  Marsch.  Die  Swanen  führten  an  gebrochenen  Hängen,  halb  zu 
Eis  verwandelten  Firns  empor,  welche  die  höhere  Stufe  dieser  »glänzenden 
Tafelländer  verdeckten.  Die  swanetischen  Kaukasier  sind  so  geschickt  wie 
die  Gemsen  in  der  Wahl  ihrer  Marschlinie  und  zeigen  viel  Vorsicht  im 
Prüfen  gefährlich  aussehender  Strecken.  Wir  konnten  unsern  Weg  bald 
wieder  über  beschneite  Felsen  fortsetzen,  welche  zwischen  zwei  Zweigen  der 
Seracs  aufragten.  Der  Schnee  aber  lag  auf  denselben  in  dichten  Massen, 
war  lose,  pulverig  und  machte  den  Fortschritt,  insbesondere  für  diejenigen 
an  der  Spitze  des  Zuges,  zu  einer  langsamen  und  ausserordentlich  mühe- 
vollen Arbeit.  In  unserer  glücklichen  Unwissenheit  glaubten  wir,  dass  diese 
Arbeit  unsere  letzte  sei. 

Ein  wunderschöner  Gipfel,  weit  über  4000  m  hoch,  höher  als  alles 
zwischen  ihm  und  Uschba,  erhob  sich  seitwärts  von  uns,  in  der  nordwest- 
lichen Ecke  des  Zanner-Gletschers.  Später  lernten  wir  ihn  als  Tichtengen 
kennen ;  es  war  der  Berg,  den  ich  bei  Ueberschreitung  des  Twiber-Passes, 
als  dessen  Wächter  er  aufragt,  zuerst  gesehen  und  photographiert  hatte, 
der  grosse  Berg  des  Tschegem-Tales.      Im  Süden  und  im   Osten   umgaben 

—    333    — 


Irrfahrten  im  Nebel.  —  Gebete  der  Swanen. 

uns  endlose  gewellte  Schneeilächen,  und  fern,  weit  im  Norden  über  dem  Ende 
der  langen  Felsrippe,  welche  den  Firn  umgürtet,  war  ein  kleines  Stück  hellen 
blauen  Himmels,  von  scharfgeschnittenen  Schneehängen  umrahmt,  sichtbar. 
Dort  musste  unser  Pass  liegen.  Wir  massen  und  notierten  rasch  die  Lage, 
denn  die  Nachmittagsdünste  stiegen  von  allen  Seiten  auf,  verdichteten  sich 
rasch,   und   es  währte  nicht  lange   bis  sie   auch   uns   umschlossen. 

Der  Schnee  war  jetzt  knietief,  wo  es  am  besten  war,  und  an  den 
schlechtesten  Stellen  versank  man  bis  zur  Lende  in  demselben.  Die  be- 
ladenen  Männer  konnten  nur  äusserst  langsam  vorwärts  kommen.  Oft  stiegen 
sie,  im  tiefen  Schnee  watend,  fünf  Minuten  aufwärts,  um  sich  dann  für  zehn 
Minuten  wieder  zu  setzen  oder  in  den  .Schnee  nieder  zu  werfen.  Einen 
Augenblick  schwenkte  der  führende  Swanete  scharf  nach  rechts  ab.  Fresh- 
field  widersprach  dem  und  wir  hielten  die  frühere  Richtung  wieder  bei. 
Die  Schneefelder  hatten  eine  wellige  Oberfläche ;  der  Führer  schien  die 
Richtung  zu  verlieren ;  anstatt  im  gleichen  Niveau  zu  bleiben,  stiegen  wir 
stellenweise  abwärts.  Die  Aufenthalte  wurden  immer  häufiger,  der  Schritt 
langsamer;  die  Nebel  wurden  dichter;  halbe  Stunden,  Stunden  schwanden,  die 
Sonne  sank  und  wir  schienen  dem  Pass  nicht  näher  zu  sein.  Es  gab  einen 
Augenblick  der  grössten  Unschlüssigkeit,  welche  Richtung  man  verfolgen 
sollte.  Die  Swanen  blieben  stehen,  und  zwischen  denen,  die  genug  Kraft 
hierzu  hatten,  begann  eine  kurze,  lebhafte  Debatte.  Wir  nahmen  Kompass 
und  Karten  zur  Hand.  Freshfield  ging  gegen  Nordost  eine  kurze  Strecke 
vor,  um  vielleicht  einen  Ausblick  zu  erhaschen.  Alles  war  jetzt  von  dichtem, 
wallendem  Nebel  umhüllt,  so  dass  man  auf  eine  PIntfernung  von  einigen 
Schritten  kaum  die  Silhouette  eines  andern  unterscheiden  konnte.  Im 
nächsten  Augenblicke  tönten  fremdartige  Laute  durch  die  Nebelluft.  Die 
ganze  bunte  Gruppe  unserer  Swanen  lag  kauernd  auf  einer  Schneebank 
und  betete  mit  dem  ganzen  Aufgebote  ihrer  Stimmen.  Es  war  eine 
phantastische   Szene. 

Die  .Swanen  fetten  und  schwärzen  bei  Schneewanderungen  ihre  Ge- 
sichter, um  einer  Entzündung  ihrer  Augen  und  dem  Sonnenbrande  vorzu- 
beugen —  als  Ersatz  für  Schneebrillen,  welche  die  armen  Teufel  selbst- 
redend nicht  besitzen  —  und  dies  gab  ihnen  ein  Aussehen,  welches  alles 
andere  als  eine  andächtige  Vereinigung  vorau.ssetzen  liess.  Sie  waren  aber 
in  tiefster  Inbrunst  und  wiesen  absolut  jede  Kürzung  ihrer  Andacht  zurück. 
Sie  schienen  in  der  Tat  eine  Art  gemeinsamen  Gebetes  zu  haben,  geeignet 
für  diese  Gelegenheit.  Auch  die  Tibeter  sollen  ein  spezielles  Dankgebet  haben, 
wenn  sie  die    Höhe   eines   Passes   erreichen.       Aber    an    wen    waren    diese 

—     334     — 


Der  Zaxner-Pass  wird  erreicht. 

Gebete  gerichtet,  an  irgendwelche  Naturgewalten,  oder  irgendeinen  christ- 
lichen Heiligen?  Alles,  was  wir  bei  der  mangelhaften  Verständigung  zwischen 
unserni  Kabardiner  und  den  Swanen  entnehmen  konnten,  war,  dass  unsere 
Leute  die  Sonne  anriefen.  Sie  waren  so  hartnäckig,  wie  die  Baalspriester, 
aber  mit  besserem  Erfolg.  Die  Nebel  hoben  sich;  blauer  Himmel  erschien 
über  unsern  Häuptern;  die  Felswand  zur  Linken,  die  für  uns  ein  Merkstein 
war,  erhob  sich  in  unserer  Nähe.  Die  weisse  Lücke  wurde  sichtbar,  noch 
immer  in  einiger  Entfernung  von  uns.  Dann  verwandelte  sich  der  lange 
Gesang  in  eine  Hymne,  oder  eher  in  ein  Heulen  des  Triumphes,  ein  Geheul, 
anscheinend  nicht  ohne  irgend  eine  Form  und  Ordnung,  wie  man  solche 
in  den  Ausrufen  finden  mag,  welche  im  Altertum  zum  Chor  in  den  grie- 
chischen Tragödien  gehörten. 

Wir  wateten  und  schwankten  über  ein  Gehänge  von  Resten  einer 
Eislawine,  durch  Schneekorridore,  nicht  ohne  noch  einmal  von  der  Richtung 
abgewichen  zu  sein.  Jetzt  lag  der  letzte  Anstieg  vor  uns,  ein  sanft  sich 
hebendes  Schneetal,  eingeschlossen  zwischen  Felsen  auf  der  einen  und 
von  hohen  gefrorenen  Dämmen  auf  der  andern  Seite.  Eine  Brise  erhob 
sich  plötzlich  und  lüftete  die  Nebel.  Durch  die  Lücke  vor  uns  schien 
wieder  der  reinste   blaue   Himmel. 

Es  war  sechs  Uhr  nachmittags ;  wir  waren  volle  dreizehn  Stunden  in- 
mitten der  Eis-  und  Schneefelder  gewesen,  bevor  wir  in  einer  Höhe  von  über 
4000  m  auf  dem  Kamm  des  grossen  Kaukasus  standen  und  auf  den  Besingi- 
Gletscher  niederblickten  und  hinüber  auf  die  grossen  Gipfel,  welche  diesen 
umrahmen.  Ich,  und  ich  glaube  auch  mein  Gefährte,  werden  nie  die 
Szene  vergessen,  welche  sich  plötzlich  vor  unsern,  von  der  langen  Monotonie 
von  Schnee  und  Nebel  ermüdeten  und  schmerzenden  Augen  erschloss,  als 
wir  den  letzten  Schritt  auf  die  gefrorene  und  überhängende  Welle  machten, 
die   den   Grat  krönte. 

Aussichten  von  einzelnen  Bergen  reichen  selten  an  die  Vorstellung 
heran,  welche  wachende  Träumerei  uns  vorgaukelt,  oder  die  uns  durch  Er- 
innerungen verschönt  vorgezaubert  wird.  Es  liegt  oft  in  der  Natur  etwas 
Rauhes,  in  Linie  oder  Farbe  Mangelhaftes ;  das  Bild  ist  unvollkommen  in 
der  Komposition,  oder  es  fehlt  ihm  das  Romantische  und  Mysteriöse  des 
Raumes.  Der  Blick  aber,  den  wir  vom  Zanner-Pass  genossen,  bildete  eine 
Ausnahme  von  der  Regel :  er  übertraf  alle  meine  Visionen,  ob  wachend 
oder  träumend.  Nicht  nur  die  Szene,  auch  der  Moment  war  dramatisch 
und  magisch.  Um  Mittag  hätte  die  Landschaft  in  ihrer  weissen  Herrlich- 
keit zu  kalt  und  monoton  erscheinen  können.     Der  Abend  gab  Farbe,  Ab- 

—     335     - 


Grossaktigkk  Anblick  der  Besixgi-Gii'Fkl  V(.)M  Zanner-Pass. 

wechslung,  Ausdruck,  Gefühl  ihrer  fremdartigen  Hoheit.  Als  wir  die  Kamm- 
hohe  erreichten,  waren  Granitklippen  und  Schnee  von  den  Strahlen  der 
untergehenden  Sonne  erleuchtet;  kalte  blaue  Schatten  lagen  schon  über 
den  weiten  Gletschermassen  in  den  tiefen  Gründen  unter  uns.  Während 
wir  auf  der  eisigen  Kante  verweilten,  erblassten  auch  die  höchsten  Gipfel, 
um  dann,  den  Abendsonnenschein  im  westlichen  Firmament  erwidernd, 
noch  einmal  zu  erglühen,  bevor  sie,  berührt  von  der  grauen  Hand  der  vor- 
schreitenden Nacht,  in  Phantome  zerflossen. 

Gerade  uns  gegenüber  schwang  der  herrliche  Firngipfel  des  Dych-Tau 
seinen  scharfen,  keilförmigen  First,  mit  Gletschern  gepanzert,  zu  einer  Höhe 
von  mehr  als  5000  m,  sich  noch  1000  m  über  uns  erhebend.  Um  seine 
Basis,  nahezu  2000  m  unter  uns,  floss  ein  ungeheurer  Gletscher.  Wir 
blickten  durch  einen  langen  Korridor  von  Eis  empor,  bis  das  Auge  an 
einem  Firnzirkus  haften  blieb,  am  Fusse  einer  Reihe  von  abstürzenden 
Palissaden,  auf  mächtigen  Strebepfeilern  ruhenden  Graten,  welche  die  fünf- 
gipflige  Schchara  bilden,  einen  andern  Berg  von  über  5000  m.  Von 
Schchara  strich  zu  uns  herüber  eine  Linie  von  Gipfeln,  die  dreispitzige 
Dschanga,  Katyn-Tau,  wie  ein  tatarischer  Sattel  geformt,  der  stumpfe  Kegel 
der  Gestola,  alle  höher  als  der  Mont-Blanc.  Kein  Tal,  keine  Weide,  keine 
bewohnte  Fläche   war  irgendwo   in  Sicht. 

Der  Alpenkenner  kann  sich  vielleicht  unser  Verhältnis  zur  Umgebung 
mit  Hilfe  des  folgenden  Vergleichs  vorstellen.  Er  möge  sich  einen  Stand- 
punkt, nahe  beim  Hörnli,  am  Fusse  des  Matterhorn  denken.  Der  Besingi- 
Gletscher  nimmt  dann  die  Stelle  des  Gorner-GIetschers  ein,  Schchara  den 
des  Monte  Rosa,  Dschanga  wird  Lyskamm,  Katyn-Tau  Breithorn  und 
Gestola  das  kleine,  aber  bedeutend  überhöhte,  Matterhorn.  Aber  ihre 
Fassaden  ähneln  eher  den  Abstürzen  des  Monte  Rosa  oberhalb  Macugnaga, 
als  den  gegen  Norden  sich  abdachenden  Hängen.  Um  den  Vergleich  voll- 
ständig zu  machen,  muss  das  Matterhorn  auf  den  Gornergrat  versetzt  werden, 
um  sich  Dych-Tau  vorzustellen,  und  der  Gorner- Gletscher  bis  Randa  ver- 
längert werden.  Der  Vergleich  stürzt,  wie  man  sieht,  in  den  Details  zu- 
sammen, und  eine  Karte  ist  zum  Schlüsse  der  beste  Schlüssel  zur  Darstel- 
lung einer  Landschaft.  Aber  weder  Karte  noch  Vergleiche  werden  den  Ein- 
druck des  gigantischen  Walles  schneeiger  Abstürze  wiedergeben,  welcher 
die  Umrahmung  des  Besingi-Gletschers  bildet.  Er  ist  ohne  Rivalen  in  den 
Alpen  und  einzig  im  Kaukasus,  ein  Anblick,  den  keiner  der  wenigen  Euro- 
päer je  vergessen  wird,  welche  ihren  Fuss  auf  die  Schwelle  dieses  Alier- 
heiligsten  der  Bergwelt  gesetzt  haben. 

—      336     — 


UEBERHÄXCEXDK  FiKWVÄCllTKX  AUF  DER  PASSHÖHE,  JENSEITS  EIX  S'nai.lK  St  I  IXEEWALl.. 

Aber  die  Stunde  erlaubte  uns  nicht,  im  Anstaunen  iler  Wunder  zu 
verharren,  welche  uns  um^^aben.  Es  war  Zeit  zum  Handeln,  zu  schnellem 
Handeln.  Die  Schatten  der  Nacht  sammelten  sich  rasch,  und  wir  waren 
auf  der  Höhe  der  kaukasischen  Wasserscheide,  fern  von  jedem,  wie  immer 
gearteten,  Obdach.  Wir  waren,  wie  ich  erwähnt  hatte,  nicht  weniger  als 
1 3  Stunden  seit  dem  Aufbruche  von  unserm  Biwak  unterwegs  und  sieben 
Stunden  über  diese  unendlichen  Schneefelder  gewandert,  seit  wir  mit  Fresh- 
held   und   seinen   Gefährten   zusammentrafen. 

Die  andere  Seite  des  Passes  war  durch  eine  überhängende  Firn- 
wächte geschlossen,  hinter  welcher  ein  steiler  .Schneewall  in  die  Tiefe  reichte, 
an  dessen  Fuss  ein  eisiger  Graben  sich  hinzog.  Wir  hätten  über  die  Hänge 
niedersteigen  können,  aber  unsere  Träger  und  ihre  Lasten  wären  gewiss  in 
diesen  Kessel  gestürzt.  Eine  Passage  hätte  durch  die  Firnwächte  mit  unsern 
Eispickeln  gebahnt  und  herausgeschlagen  werden  können,  aber  dies  hätte 
jedenfalls  Zeit  erfordert,  die  für  uns  kostbar  war,  und  man  gab  uns  zu 
verstehen,  dass  unsere  Swanen  einträchtig  einen  schrecklichen  Eid  ge- 
schworen hätten,  dass  nichts  sie  bewegen  würde,  lebend  in  eine  solche 
Fallgrube  abzusteigen.  Einige  hundert  Schritte  nach  links  ansteigend,  sah 
man  dann,  dass  es  möglich  sei,  einen  Punkt  zu  erreichen,  wo  keine  Schnee- 
qewächte  war,  und  von  wo  eine  Felsrippe  zwei  Drittteile  der  Distanz  zum 
Bergschrunde  herablief.  Sie  war  etwa  von  der  Art  des  einst  berüchtigten 
Strahleggwalls   in  den   Berner  Alpen. 

Unsere  Swanen  standen  längs  der  Kante  des  Firnkessels  und  machten 
alle  einen  grossen  Tumult,  betend  oder  schwörend,  wir  wussten  nicht,  was. 
Einer  nach  dem  andern  ouckten  sie  über  den  Rand,  und  mit  Entsetzen 
zurückfahrend,  drückten  sie  ihre  Gefühle  in  einem  kurzen  Solo  aus,  welchem 
ein   Chor  in  der  ganzen   Stärke   der  Gesellschaft   folgte. 

W^ir  dachten,  dass  Beispiel  besser  als  Vorschrift  wirken  würde,  be- 
auftragten den  Kabardaer,  ihnen  zu  erklären,  was  zunächst  geschehen  müsse, 
und  begannen  an  den  P'elsrippen  abzusteigen.  Sie  waren  steil,  aber  es 
ging  ganz  leicht,  und  in  zehn  Minuten  befanden  wir  uns  jenseits  des  Berg- 
schrundes.  Aber  selbst  unserm  Beispiel  gelang  es  nicht,  die  Swanen  zu 
ermutigen,  oder  sie  zu  bewegen,  uns  zu  folgen.  Sie  schwatzten,  sie  kreischten, 
sie  gestikulierten,  sie  schienen,  wie  es  die  Gewohnheit  bei  exaltierten  Bar- 
baren ist,  im  Begriffe,  einander  anzugreifen ;  kurz  sie  taten  alles,  nur  nicht 
das,  was  wir  von  ihnen  verlangten,  vorwärts  zu  gehen.  Endlich  wurde 
uns  etwas  ungestüm  angekündigt,  dass  ein  grosser  Entschluss  gefasst  worden 
sei,   indem   sie   uns   eines   der  Zelte   zusandten,   welches  wie   ein  Ball,   in  rück- 

Uechy:  Kaukasus.  22 

—        337       — 


I'lRZWl'XGENER    AllS'IIEC    DKU    SWANKX    VOM    ZaXNKR-PaSS. 

sichtsloser  Weise,  über  den  erweichten  Schnee  des  Hanges  zu  uns  herab- 
geschleudert wurde.  Anderes  Ciepäck,  histrumente  inbegriffen,  folgte,  und 
dann  banden  sich  drei  der  unternehmendsten  Geister  mit  dem  Kosaken 
zusammen.  Dieser  spontane  Gebrauch  des  Seiles  zeigte,  dass  die  Swanen 
nicht  ganz  ausserhalb  des  PLinfiusses  neuer  Ideen  waren.  Sie  kamen  über 
die  Felsen  hinab,  mit  der  höchsten  Nervosität,  etwas  ungeschickt,  aber  un- 
versehrt. Nur  unten  im  steilen  Schnee  verlor  einer  der  vier  seinen  Fuss- 
halt.  lü'nige  .Sekunden  eines  /Abstieges  Kopl  nach  unten,  mehrere  tüchtige 
.Sprünge  durch  die  Luft,  mit  deren  einem  der  halboftene  Bergschrund  heil 
übersetzt  wurde,  und  das  Quartett  lag,  ein  zitternder  Haufen,  zu  unsern 
Füssen.  Voila  donc  notre  gros,  comme  il  a  la  mort  dans  le  visage«  sagte 
F"ran(:ois.  Bei  einem  der  Swanen,  einem  hochgewachsenen  Mann,  war  unter 
der  .Schwärze,  mit  welcher  er  sein  Gesicht  im  Umkreise  der  Augen,  um  sich 
vor  .Schneeblindheit  zu  schützen,  eingefettet  hatte,  die  Haut  totenbleich  vor 
Schrecken  geworden,  sein  gelbblondes  Haar  und  sein  Bart  waren  mit  Schnee 
bedeckt,  in  welchem  er  mehr  als  halb  begraben  lag.  Ein  tüchtiges  Schütteln 
zeigte  übrigens,  dass  kein  Schaden  geschehen  sei,  und  der  Verlust  be- 
stand nur  im  Messer  unseres  Kosaken,  welches  aus  seiner  Scheide  heraus- 
geflogen war  und  im  Berg.schrund  sein  Grab  fand.  Möglich,  dass  es 
der  Gletscher  nach  fiinfzig  Jahren  herausgibt  und  es  dann  als  eine 
Reliquie  im  Lesesaal  des  Grand  Hotel  d'Angleterre  am  Besingi-Gletscher 
ausgestellt  wird. 

b)ie  neun  Mann,  die  noch  immer  auf  der  Höhe  waren,  wurden 
natürlich  durch  den  Anblick  des  Abenteuers  ihrer  Genossen  nicht  sonderlich 
ermutigt.  Aber  der  Wind  des  Sonnenunterganges  machte  ohne  Zweifel 
ausserordentlich  kalt  auf  dem  Grate,  und  zwischen  die  Scylla  des  Erfrierens 
und  die  Charybdis  des  Bergschrundes  gestellt,  fanden  sie  zuletzt  den  Mut, 
zu  folgen,  wie  langsam  und  wie  lärmend,  das  kann  nur  der  sich  vorstellen, 
der  sie   beobachtete. 

Dieser  Abstieg  des  Schneewalles  kostete  mehr  als  eine  Stunde.  Die 
ganze  Zeit,  in  w^elcher  diese  lärmende  Farc^e  von  unserer  schwarz  gefärbten 
Truppe  gespielt  wurde,  bot  die  Natur  ihrerseits  ein  höchst  feierliches  Schau- 
spiel. Schnee  und  Himmel  röteten  sich  und  erblassten  abwechselnd,  so 
wie  die  Farbentöne  des  Sonnenunterganges  oder  des  Abendglühens  auf  sie 
fielen   oder  wieder  entschwanden. 

Wir  eilten  über  das  Firneis  eines  kleinen  Gletscherplateaus  in  der 
Richtung  einiger  Felsen  an  seinem  linken  Ufer.  Wir  wunderten  uns,  dass 
wir  nicht   über  dem  grossen  Zufluss  des  Be.singi-Gletschers  abstiegen,  welcher, 

^      338      — 


Das  L\gek  wird  hoch  üiikr  dkm  Hesixci-Gletsciikk  ai'fcksciu.ackn. 

von  Nordwesten  kommend,  unterhalb  des  Giijfels  der  Gestola  und  der  an- 
schliessenden  Firnhöhen   fliesst,   wie   wir  dies   erwarteten. 

Von  dem  Punkte,  wo  dieser  Zufiuss  den  Hauptgletscher  erreicht, 
ist  die  breite  Firneinsattlung-  des  Zanner-Passes  sichtbar.  Statt  jedoch  auf 
diese  zu  gelangen,  waren  wir  zu  w^eit  links  gegen  Norden  gekommen  und 
hatten  eine  etwas  höher  gelegene  Lücke  im  Hauptkamme  erreicht.  Diese 
von  uns  überschrittene  Einsattlung  nannten  wir  den  oberen  Zanner-Pass,  im 
Gegensatz  zur  etwas  tieferen  Lücke,  welche  gleichfalls  einen  Uebergang 
gestattet.  Nach  unsern  Messungen  4081  m  (A.D.)  hoch,  dürfte  er  den 
eigentlichen  Zanner-Pass  (3960  m)  mit  80  bis  100  m  überragen.  Der  obeie 
Zanner-Pass  bietet  die  direktere  kürzere  Route,  und  die  Schwierigkeit, 
welche  der  Schneewrall  und  die  Corniche  auf  der  Passhöhe  der  Passage  ent- 
gegenstellen, mag  infolge  des  Rückganges  der  Gletscher  während  der 
letzten  30 — 40  Jahre  im  Kaukasus  entstanden  sein.  Wie  in  den  Alpen 
noch  im  Anfange  des  neunzehnten  Jahrhunderts  Gletscher- Pässe  begangen 
wurden,  die  später  ausser  Gebrauch  kamen,  und  von  welchen  sich  nur  eine 
schwache  Tradition  erhalten  hat,  dürfte  auch  im  Ka  ikasus  der  Zustand  der 
lüs-  und  Schneebedeckung  bestimmend  auf  die  Wahl  der  llebergänge, 
welche   über  das  vergletscherte   Hochgebirge   führen,   gewirkt  haben. 

Es  war  schon  finstere  Nacht,  als  wir  nach  kurzem  Waten  durch  tie'"en 
Schnee  felsiges  Gehänge  erreichten.  Wir  schlugen  vor,  hier  zu  biwakieren,  aber 
es  wurde  grimmig  kalt,  einige  Windstösse  pfiffen  hinter  unserm  Rücken, 
und  die  Swanen  bestanden  darauf,  sehr  richtig,  wie  es  sich  später  zeigte, 
tiefer  abzusteigen.  Es  schien,  dass  die  V^orsehu ng  es  eingerichtet  hatte, 
dass  der  Hang,  auf  welchem  wir  uns  befanden,  nicht  aus  Granitklippen 
und  Gesteinblöcken  bestand,  sondern  aus  pulverigem  Schieferschutt  und 
einigen  Schneefeldern,  über  w'elche  wir  teils  rutschend,  teils  abfahrend  in 
die  Tiefe  stürmten.  hi  etwa  20  Minuten  hatten  wir  500  m  zurückgelegt, 
und  uns  gegenseitig  anrufend  und  mit  Lichtern  winkend,  um  einander  in 
der  Finsternis  nicht  zu  verlieren,  sammelten  wir  uns  alle  auf  dem  ersten 
P'leck  leidlich   ebenen   Bodens. 

Es  war  fast  neun  Uhr.  Laternen  wurden  sofort  angezündet,  Zelte 
entrollt  und  aufgerichtet.  Die  Geister  der  Swanen  waren  wieder  ermuntert, 
jetzt,  da  sie  heil  über  die  Kette  gekommen  waren.  Sie  sangen,  was  uns 
als  eine  Ballade  erschien,  in  deren  Refrain  die  Worte  'Tamara,  Tamara« 
immer  erklangen,  zu  Ehren  ihrer  Königin  von  vor  sechshundert  Jahren. 
Und  ein  Echo  dieser  Jahrhunderte  alten  Begebenheiten  erscholl  in  diesen 
weltabgeschiedenen    Wildnissen.       Dann    baten     sie    um     unsere    Eispickel, 


LucuLLisciiEs  Ai!Exde.ssp:n  im  ZiaTK. 

hackten  sich  Lin-her  im  Roden  aus,  und  sich  mit  ihren  Burkas  bedeckend, 
versanken   sie   rasch   in   tiefen   Schlaf. 

Wir  machten  es  uns  im  Zelte  gemütlich.  Ks  gab  bei  unserm 
Iliwak  —  das  nach  der  Aneroidmessung,  die  \vir  am  folgenden  Morgen 
machten,  noch  in  der  bedeutenden  Höhe  von  3331  m  (A.  D.)  lag  —  kein 
Holz,  kein  Wasser.  Wir  aber  wärmten  eine  mit  Kochvorrichtung  versehene 
Büchse  dicker  Suppe,  öffneten  eine  Pastete,  und  zum  Schlüsse  —  last,  but 
not  least  —  entkorkte  ich  eine  Masche  Portwein,  die  einzige,  welche 
wir  hatten,  und  die,  für  grosse  Gelegenheiten  bestimmt,  am  Grunde  eines 
unserer  Proviantsäcke  sorgfältig  verwahrt,  unversehrt  geblieben  war.  Wir 
fühlten  uns  glücklich.  Wir  hatten  den  Zanner-Pass  überschritten,  ein  Unter- 
nehmen, dessen  Ausführung  ich  schon  lange  geplant  hatte,  P>eshfield  hatte 
Tetnuld  erstiegen,  dessen  Bezwingung  an  erster  Stelle  auf  unserm  Reise- 
programm stand.  Die  Ersteigung  war  ausgeführt,  und  ich  vergass  einen 
Augenblick,  dass  ich  es  war,  der  die  Reise  dieses  [ahres  projektiert  hatte, 
und  dass  meine  Absicht,  Tetnuld  zu  ersteigen,  vereitelt  worden  war.  Indem 
Herr  Freshfield,  da  es  mir  unmöglich  war,  sofort  aufzubrechen,  und  es  nötig 
gewesen  wäre,  einen  Tag  abzuwarten,  allein  unser  \'orhaben  ausführte, 
handelte  er  wahrscheinlich  nach  dem  Grundsatze,  dass  in  erster  Reihe,  ohne 
persönliche  Rücksichten,  das  Unternehmen  zur  Ausführung  gebracht  werden 
müsse.  Diese  Anschauung  mag  vielleicht  bei  dem  kalten  energischen  Volke 
im  Norden,  dem  er  angehört,  als  richtig  bezeichnet  werden,  bei  mir  jedoch 
hinterliess  sie  einen  Eindruck,  dem  ich  mich  später  nicht  entziehen  konnte, 
und  als  dessen  Folge  ich  dann  nach  einem  kurzen  Ausfluge  von  Besingi, 
der  nur  photographische  Zwecke  verfolgte,  die  Reise  unterbrach  und  heim- 
kehrte. Pur  heute  aber,  an  diesem  Abend  im  Zelte,  trübte  nichts  die 
fröhliche  Stimmung,  an  welcher  vielleicht  die  gute  "Ware  des  Wladikawkaser 
Weinhändlers  einen   kleinen   Anteil   hatte. 

Wir  blickten  noch  einmal  aus  dem  Zelte:  der  Mond  war  aufgestiegen 
und  kein  Wölkchen  war  am  Pirmament.  Dych-Tau  türmte  sich  uns  gegen- 
über in  tiefem  .Schatten  zu  mächtiger  Höhe  empor,  auf  die  weüssen  Klippen 
der  Dschanga  hei  das  bleiche  Licht.  Unser  Lager  war  still,  kein  Laut 
Avar  hörber,  nur  das  ferne  Murmeln  der  Wasser  oder  das  Geräusch 
fallender  Steine. 


Der  Besin  g  i-Gletscher  (Talblick). 


XXV.  KAPITEL. 


Im  Umkreise  des  Kosehtan-Tau. 

Wo  die  Erde  erforscht  ist,  macht  sich  hoher  Mannesmut  und  Tatendrang 
in  dem  Streben  nach  Ueberwindung  physischer  Hindernisse  geltend.  So 
wendet  er  sich  jetzt  unerstiegenen,   vereisten  Bergspitzen  zu  .   .  . 

F.  V.  Richthofen:     Triebkräfte  und  Richtungen  der  iMdkunde«. 

Mit  der  Ueberschreitung  des  Zaiiner-Passes  war  ein  Gletsclierweg- 
über  die  Hauptkette  eröffnet  worden,  der  eine  Verbindung  zwischen  dem 
Ingur  -  Hoclitale  im  Süden  und  dem  Besingi-  (Urwan-)  Tale  im  Norden 
ermöglicht.  Die  herrlichen  .Szenerien  der  weiten  Schneegefilde,  durch  die 
man  vom  Süden  emporsteigt,  und  der  überraschende  Anblick  des  Gletscher- 
Amphitheaters  von  Besingi  mit  den  umragenden  Granitriesen,  der  sich  von 
der  Passhöhe  plötzlich  eröffnet  —  das  Grossartigste,  was  der  erhabene, 
eisige  Kaukasus  zu  bieten  hat  — ,  machen  den  Zanner-Pass  zur  schönsten 
Gletscherfahrt  im   Kaukasus. 


—      341 


UebI':r  i^EN  Besingi-Gi-etschkk  nach  dem  Aul  Besingt. 

Da  wir  spiit  am  Narhmittaije  auf  die  Passhöhe  gekommen  waren, 
zu  spät,  Ulli  noch  piiotooraphische  Aufnahmen  des  sich  von  ihr  erschhessenden 
Panoramas  zu  machen,  hatte  ich  beabsichtigt,  am  folgenden  Morgen  wieder 
bis  zur  Passhöhe  oder  doch  bis  zu  einem  Punkte  aufzusteigen,  der  das 
Besingi-Gebiet  der  Kundsirht  lieherrscht. 

Doch  —  dis  ahter  visum.  Als  wir  um  6  Uhr  morgens  das  Zelt 
öffneten,  lag  ein  ominöser  Nebelstreifen  in  den  Tiefen  unter  Schchara. 
Rasch  mehrten  sich  die  aufsteigenden  Nebel,  und  mit  Schnee  gemischter 
Regen  begann  zu  fallen.  Um  8  Uhr  war  das  Wetter  hoffnungslos. 
Verräterische  graue  Nebel  krochen  aus  der  Tiefe  längs  der  grossen 
Furche  des  Besingi  -  Gletschers  zu  uns  empor.  Der  Regen  fiel  in 
Strömen    und     es     blieb     nichts     anderes     übrig,     als     talwärts     zu     ziehen. 

Ein  steiler  Abstieg  von  etwa  500  m  brachte  uns  zum  Rande  der 
mächtigen  Seitenmoränen  des  Besingi  -  Gletschers,  wo  man  auf  grünen 
VViesenhängen  zahllose  weisse  Punkte  \on  Schafherden  sah  und  zwischen 
ihnen  die  in  ihre  schwarzen  Burkas  gehüllten  Hirten.  Mehrere  Stunden  lang 
folgte  ein  einförmiger  und  mühsamer  Marsch  über  ein  geologisches  Museum 
von  Gesteintrümmern,  die  den  Graten  entstammen,  welche  den  Besingi- 
Gletscher  umstehen.  Es  waren  zumeist  Granite,  CJneise  und  kristallinische 
Schiefer  in   den   verschiedensten   Varietäten. 

Diese  Nacht  schlugen  wir  das  Lager  etwa  eine  Stunde  unterhalb  des 
Gletschers  auf.  Der  Abend  war  weit  entfernt  davon,  fröhlich  zu  sein. 
Unser  Kosak  war  nahezu  schneeblind  und  litt  grosse  Schmerzen.  Michel  De- 
vouassoud  gestand,  dass  er  seine  Inisse  erfroren  habe,  und  die  Frostschäden 
sahen  arg  genug  aus.  Auch  Frangois  Devouassoud  war  in  einem  Zustande 
hochgradiger  Erschöpfung.  Zu  all  dem  kam,  dass  es  zu  nass  war,  um  ein 
Feuer  anzünden  zu  können. 

Am  nächsten  Morgen  umgab  uns  ein  dicker  Nebel,  der  sich  jedoch 
rasch  verflüchtigte.  Freshfield  besuchte  den  Midschirgi-Gletscher,  in  dessen 
Firnregion  ich  vor  zwei  Jahren  gedrungen  war. 

Am  Abend  kamen  wir  nach  Besingi  und  richteten  uns  in  der  finsteren, 
feuchten  und  schmutzigen  Höhle  ein,  welche  uns  schon  früher  als  Ouartier 
gedient  hatte.  Seine  Hoheit  der  Fürst  von  Besingi  imponierte  auch  jetzt  mit 
seiner  Höhe.  Seine  Gastfreundschaft  war  knapp  und  kostspielig,  aber  wir 
vergaben  ihm,  im  Hinblick  auf  den  Pack  Briefe,  die  er  aus  dem  Innern 
seines  schmierigen  Schaffellrockes  hervorbrachte,  und  einer  Kiste  unserer 
Provisionen,  die  er  uns  übergab.   Letztere  hatten  wir  am  Beginne  unserer  Reise 

-      342      — 


Ix  DAS  Dumai,a-Tai..  —  Der  Ui.lcaus-Gi.ftscukk. 

in  Wladikawkas  zurückgelassen,  und  sie  wurde  uns  diesmal  mit  den  Briefen 
über  Naltschik  pünktlich  nach  Besingi  geschickt,  so  dass  wir  in  Bezug  auf 
unsere  Verproviantierung,  so  lange  wir  in  und  um  Besingi  blieben,  unab- 
hängig und  gut  versorgt  waren. 

Die  nächste  und  letzte  Exkursion,  welche  ich  mit  Herrn  Freshfield 
machte,  hatte  den  Zweck,  die  Lage  des  Koschtan-Tau,  damals  Dych-Tau, 
g-enannten  Gipfels  zu  fixieren,  diesen  Berg,  einen  der  Granitriesen  des 
Kaukasus,  zu  identifizieren  und  photographische  Aufnahmen  von  ihm  heim- 
zubringen. 

Unser  Weg  führte  durch  die  Dumala  genannte  Schlucht  empor,  welche 
sich  in  das  Haupttal  etwas  oberhalb  Besingi  öffnet.  Sie  musste  zu  den 
Gletschern  der  nördlichen  Abdachung  des  Koschtan-Tau  führen.  Die  Szenerie 
dieser  steinigen,  zum  Teil  mit  spärlichem  Graswuchs  bedeckten,  schluchtigen 
Seitentäler  zwischen  den  beiden  Zweigen  des  Tscherek  ist  ausserordentlich 
einförmig,  wenn  man  ihre  Lage  an  der  Basis  der  mächtigen  Schneekette  in 
Betracht  zieht.  Sie  liegen  viel  höher  als  das  Besingital,  es  ist  immer  ein 
steiler  Anstieg  nötig,  um  sie  zu  erreichen.  Wir  kamen  an  mehreren  Kosch 
von  Schafhirten  vorbei.  Man  konnte  in  dieser  Schlucht  mehr  Schafherden 
sehen,  als  in  den  andern  Tälern,  durch  welche  wir  in  diesem  Jahre 
kamen.  Die  Weidegründe  sind  durch  niedrige  Steinwälle  voneinander 
getrennt,  und  jeder  derselben  gehört  zu  einer  besonderen  Gruppe  von 
Haushaltungen. 

Ein  Pfad,  der  nach  Baikar  führt,  trift't  zur  Linken  auf  das  Dumala- 
tälchen,  wo  es  scharf  gegen  Süden  sich  wendet.  Wir  wandern  noch  immer 
durch  eine  grasbedeckte  Talfurche,  zwischen  nackten  Steinwänden,  aber  an 
ihrem  Ursprünge  ist  vor  uns  in  der  Nähe  schon  Schneegebirge  sichtbar. 
Etwa  vier  Stunden  von  Besingi  erscheint  das  Ende  eines  breiten  Gletschers, 
das,  von  hohen  Schuttwällen  umringt,  abbricht.  Es  ist  der  Ulluaus- 
Gletscher,  damals  von  uns  und  nach  meiner  Meinung  richtiger  Dumala- 
Gletscher  genannt. 

Eine  Kette  edelgeformter  Berggipfel  erhebt  sich  über  ihn,  die  in 
reicher  Gliederung  von  Eis  und  Fels  bis  nahezu  4500  m  aufsteigen.  Es 
ist  der  mächtige  Bergwall,  der  in  südlichen  Streichen  zum  Koschtan-Tau 
zieht  und  uns  seine  eisbepanzerten  Ostflanken  zeigt. 

Wir  lagerten  auf  einer  kleinen,  von  Alpenpflanzen  geschmückten 
Wiesenebene,  einige  hundert  Meter  vom  Eise  entfernt.  Am  nächsten  Morgen 
erkletterten  wir  eine  hohe  Moräne  und  erreichten  die  untere  Fläche  des 
Ulluaus-Gletschers      Ein   steiler  Eisfall  senkt  sich  von   einer  oberen   Plateau- 

—      343      - 


K(isciitan-Tau  vom  Ui.luaus-Gletscher. 


höhe  herab  und  ist  von  einem  Ho^■en  herrlicher  eisbepanzerter  Fels- 
kHitpen  umg-eben.  Zur  höheren  Stufe  des  Gletschers  dringt  das  Eis 
aus  zwei  Firn  becken,  welche  zwischen  den  nördlichen  und  südlichen 
Graten  des  im  Koschtan-Tau  gipfelnden  Bergzuges  liegen.  In  all- 
beherrschender Grösse  baut  sich  Koschtan-Tau  auf.  Haarscharfe  I'irn- 
schneiden  bilden  die  Spitze,  deren  Breitseite,  mit  abbrechenden  Eis- 
lagern   gewappnet,     in   entsetzlicher  Steile    abföllt. 


UUuaus-Gletscher    mit    der    Koschtan-Kette. 

Es  war  das  erste  Mal,  dass  Europäer  am  gletscherumgürteten  Fusse 
des  mächtigen  Berges  standen,  und  ich  war,  nicht  ohne  ein  gewisses  Bangen 
in  Bezug  auf  das  Gelingen,  bestrebt,  mir  photographische  Aufnahmen  der 
Hochgebirgswelt  zu  sichern,  die  im  glänzenden  Lichte  eines  klaren  .Sommer- 
tages vor  unsern  staunenden  Blicken  sich  ausbreitete.  Nicht  ohne  ein 
gewisses  Bangen,  sage  ich,  und  wenn  man  bedenkt,  welche  Sorgfalt  bei 
Forschungsreisen  in  aussereuropäischen  Gebirgen  erforderlich  war,  um  das 
photographische  Flattenmaterial  vor  Licht  und  Feuchtigkeit  während  des 
wiederholten  Ein-  und  Auspackens  vor  und  nach  der  Exposition  und  während 
des  Transportes  zu   Wasser  und  zu   Lande,    auf  dem  Rücken  von  Lasttieren 


K  0  s  c  H  T/vN  -  Tau 


EXGl.ISCUK    REISKNDK    HKIM    VKKSUril,    KoSCIITAX-TaU    7X'    KRSTKIGKN,    VKKSrilol.I.KX. 

und  Trägern  zu  schützen,  welche  Sorge  man  während  dieses  Transportes 
um  die  zerbrechHche  Glasplatte  —  damals  die  einzige  lichtempfindliche 
Grundlage  für  das  photographische  Negativ  —  ausstand,  so  wird  man  dieses 
bange   Gefühl   begreifen. 

Nachdem  ich  meine  photographischen  Arbeiten  beendet  hatte,  kehrten 
wir  zum  Lager  zurück.  Freshfield  wollte  noch  einen  Ausflug  auf  eine 
der  Höhen  —  Ukiu  — •  in  einer  tiefer  unten  auf  das  Dumala-Tal 
sich  öffnenden  Seitenschlucht  machen,  ich  eilte  nach  Besingi,  um  heim- 
zukehren. 

Es  war  für  mich  ein  schwerer  Entschluss,  bei  schönstem  Wetter  die 
kaukasischen  Berge  zu  verlassen.  Ich  schrieb  damals  in  mein  Notizbuch : 
»der  Gipfel  des  Dych-'I'au  (jetzt  Koschtan-Tau)  wird  von  unternehmenden 
Bergsteigern,  begleitet  von  gleichgesinnten  erfahrenen  Alpenführern,  gewiss 
erreicht  werden,  ein  herrliches  Ziel,  der  Besten  wert. «  Ich  ahnte  nicht,  dass 
schon  ein  fahr  später  von  demselben  Orte  im  Dumala-Tale,  wo  wir  unser 
Lager  aufgeschlagen  hatten,  englische  Reisende  mit  Schweizer  Bergführern 
ausziehen  sollten,  die  Ersteigung  desselben  zu  versuchen,  um  nie  wieder 
zurückzukehren. 

Das  Interesse  für  die  Erforschung  des  kaukasischen  Hochgebirges 
war  in  England,  insbesondere  durch  unsere  letzte  Reise  und  das  Vorzeigen 
meiner  Photographien  aus  der  kaukasischen  Gletscherwelt,  sowohl  in  der  Royal 
Geographical  Society,  als  im  Alpine  Club  erweckt,  in  jenem  Kreise,  welchem 
Männer  angehörten,  die  in  der  Erforschung  der  aussereuropäischen  Hoch- 
gebirge ihren  Mut,  ihre  Kühnheit  und  ihre  Tatkraft  glänzend  erwiesen 
hatten.  Die  Folge  war,  dass  Im  Jahre  i8S8  mehrere  Reisende  in  Begleitung 
von  Schweizer  Bergführern  nach  dem  zentralen  Kaukasus  aufbrachen  und, 
begünstigt  durch  das  langandauernde  schöne  Sommerwetter  dieses  Jahres 
und  gute  Schneeverhältnisse,  glänzende  Erfolge  und  für  die  Kenntnis  der 
bereisten  Gebiete  wertvolle  Ergebnisse  errangen. '')  Ueber  diese  Errungen- 
schaften    jedoch     warf     das    tragische    LInglück,     welches     die    Expedition 


*)  Während  der  in  den  Jahren  1S88  und  1889  in  Begleitung  von  Scluveizer  Bergführern 
unternommenen  E-xpeditionen  im  zentralen  Kaukasus  wurde  von  Mummery  (der  1895,  auf  einer 
Forschungsreise  im  Himalaja,  am  Nanga  Parbat  seinen  Tod  fand)  Dych-Tau  erstiegen,  von 
H.  Woolley  Koschtan-Tau,  von  Cockin  (1899  an  der  Dent  Blanche  in  den  Walliser  Alpen  verunglückt) 
Schchara,  Dschanga  und  der  Nordgipfel  der  Uschba.  1889  halte  auch  der  Meister  der  Hochge- 
birgsphotographie,  Vittorio  Sella,  mit  italienischen  Alpenführern  eine  in  ihren  topographischen  und 
photographischen  Resultaten  von  schönstem  Erfolge  gekrönte  Reise  im  zentralen  Kaukasus 
ausgeführt. 


Nachkoksciiüxüex  nach  dem  Schicksale  der  Verschollenen. 

der  Herren  Prof.  W.  F.  Donkin  und  Harry  Fox  mil  den  Schweizer  Berg- 
führern K.  Streich  und  J.  l''ischer  aus  Meiringen  betraf,  einen  düsteren 
Scliatten. 

Die  Reisenden  nahmen  ihren  Weg  durch  Swanetien,  überschritten 
die  Hauptkette  nach  dem  Norden  und  gelangten  nach  Besingi  mit  der  Ab- 
sicht, die  Frsteigung  des  Koschtan-Tau  zu  versuchen.  Sie  hatten  das  grosse 
Reisegepäck  auf  Pferden  über  einen  Pass  nach  Baikar  geschickt  und  mit  ihren 
r'ührern  am  28.  August  im  Dumala-Tale  biwakiert,  um  von  dort  zur  Er- 
steigung des  Gipfels  aufzubrechen.  Seit  dieser  Zeit  waren  die  Reisenden 
verschollen.  Ihr  Schicksal  blieb  in  Dunkel  gehüllt  und  wurde  —  was  nicht 
überraschen  kann  —  im  Kaukasus  selbst  Gegenstand  abenteuerlichster  Ge- 
rüchte. Man  sprach  im  Lande  von  ihrer  Ermordung  durch  kaukasische 
Bergbewohner,  obgleich  man  in  alpinistischen  Kreisen  an  der  Meinung  fest- 
hielt, dass  während  des  Ersteigungsversuches  ein  Unglücksfall  sich  ereignet 
haben  müsse.  Die  Nachforschungen  im  Spätherbste  desselben  Jahres  nach 
dem  Schicksale  der  Verunglückten  konnten  teils  infolge  der  späten  Jahres- 
zeit, teils  mangels  geeigneter  Leute,  nicht  in  die  höheren  Regionen  aus- 
gedehnt werden,  und  ergaben  keine  näheren  Aufschlüsse.  Man  blieb  auf  die 
Vermutung  beschränkt,  die  sich  auf  die  beim  Gepäcke  der  verunglückten 
Reisenden  vorgefundenen  Aufzeichnungen  und  die  ihrer,  auf  andern  Wegen 
vorausgeschickten  kaukasischen  Begleitmannschaft  gegebenen  Befehle 
gründeten,  und  nach  welchen  das  llnglück  wahrscheinlich  bei  einem  Versuche 
zur  Ersteigung  des  Koschtan-Tau  auf  dem  Uebergange  nach  Baikar  sich  zu- 
getragen  haben  dürfte. 

Im  folgenden  Jahre  (1889)  zog  dann  eine  aus  Mitgliedern  des 
Alpine  Club  bestehende  Expedition  nach  dem  Kaukasus,  um  Nachforschungen 
nach  dem  Schicksale  der  Verunglückten  zu  unternehmen,  das  —  in  den 
Grenzen  der  Möglichkeit  —  festgestellt  werden  sollte.  An  derselben 
nahmen  der  damalige  Präsident  des  Alpine  Club,  Herr  Clinton  Dent,  Herr 
Douglas  W.  Freshfield  und  Kapitän  Powell,  vom  indischen  Dienst,  dessen 
Kenntnis  der  russischen  Sprache  der  Expedition  zu  gute  kommen  sollte,  teil. 
In  Begleitung  dieser  Herren  befanden  sich  Lehrer  Fischer,  ein  Bruder  des 
verunglückten  Führers  Fischer,  und  Bergführer  Karl  Maurer  aus  Meiringen. 
Herr  VVoolley  hatte  sich  mit  seinen  Führern  Jossi  und  Kaufmann  für  die 
Dauer  der  Suche   nach  den  Verunglückten   angeschlossen. 

Dent  hat  im  Journal  des  Alpine  Club  und  Freshfield  in  den  Pro- 
ceedings  der  Royal  Geographical  Society  Bericht  über  die  Ergebnisse  dieser 
Expedition   erstattet.     Hoch   oben   in   den  Felsen,   nur  etwa    100  m   unterhalb 

—      346      — 


Der  i.ktz'i  k  Biwakplatz  der  Vkkuxci.ückten. 

des  Ulluaus-Passes/')  auf  der  Balkarseite,  wurde  der  letzte  Biwakplatz  der 
Reisenden  gefunden  :  das  Gepäck,  die  Schlafsäcke,  Kochgefässe,  Rucksack, 
um  einen  Felszahn  geschlungen,  ein  Revolver,  alles  mit  dem  Leichen- 
tuch des  Winterschnees  bedeckt,  wie  es  die  X'erungllickten  zurückgelassen 
hatten  ehe  sie  auszogen  zu  ihrer  letzten  Fahrt  —  ein  ergreifender 
Anblick! 

Die  topographische  Lage  dieses  letzten  Biwakplatzes  und  das 
denselben  überragende  Terrain  führte  zu  folgenden  Schlüssen:  Es  war  klar, 
dass  die  Reisenden  zum  Biwakplatz  zurückzukehren  beabsichtigt  hatten. 
Zweifellos  wurde  ein  Angriff  unternommen,  um  Koschtan-Tau  über  den  öst- 
lichen Grat  zu  ersteigen,  nämlich  über  jenen  Grat,  der  zum  erwähnten 
Pass  abfällt.  Die  grossen  Felszähne  auf  der  eigentlichen  Kante  des  Grates 
hatten  kein  Vordringen  gestattet  und  es  wurde  wahrscheinlich  für  nötig 
erachtet,  an  der  Breitseite  des  Berges  zu  traversieren.  Die  Nordfassade 
besteht  aus  einer  Reihe  von  abschreckenden  Eishängen.  Die  südliche 
Fassade  besteht  aus  Klippen,  welche  mit  kleinen  Hängen  und  steilen  Flächen 
durchzogen  sind,  bedeckt  von  Eis  und  Schnee.  Es  ist  im  höchsten  Grade 
wahrscheinlich,  dass  ein  Sturz  sich  ereignete,  während  die  Partie  sich  auf 
einem  dieser  Hänge  bewegte.  Wenn  so,  dann  muss  der  Tod  fast  augen- 
bhcklich  eingetreten  sein.  Steinfall  könnte  eine  Gesellschaft  von  vier  Per- 
sonen kaum  hinabgerissen  haben,  noch  ist  überhaupt  eine  besondere  Gefahr 
aus  dieser  Quelle  an  die.sen  Stellen  vorhanden.  Zeitmangel  allein  muss 
die  Reisenden  verhindert  haben,  den  Gipfel  auf  der  angenommenen  und 
äusserst  schwierigen  Route  zu  erreichen.  Es  wurde  also  der  .Schluss  ge- 
zogen, dass  die  Reisenden  im  Aufstiege  zu  Grunde  gingen. 

Mit  der  Entdeckung  des  letzten  Biwakplatzes  der  Verunglückten 
war  die  Aufgabe  der  Expedition  erfüllt.  Eine  Suche  nach  ihren  Leichen, 
begraben  unter  dem  Schneefall  eines  Winters,  den  Lawinen  des  Frühjahrs, 
hoch  oben  in  den  Firnen,  war  von  vornherein  ausgeschlossen.  Man  wollte 
Aufklärung  über  die  Natur  des  Unglücksfalles  sich  verschaffen.  Man 
wollte  die  Bergbewohner  von  einem  schweren  Verdachte,  den  andere 
vielleicht  einen  Augenblick  hegten,  reinigen,  und  dies  gelang,  denn  kein 
Einheimischer  hätte  selbst  den  Biwakplatz,  des  schwierigen  Terrains  wegen, 
erreichen  können.  Jedes  weitere  Unternehmen  wäre,  wie  alle  Bergkundigen 
einsehen  werden,  in  der  Tat  zwecklos  gewesen. 


*)  Uebergang  vom  UUuaus-Gletscher  im  Dumalatale   nach  dem  Tatuin-Gletscher  im  oberen 
Tscherektal   (Baikar). 

—      347      — 


Requiescant  i\  face! 

Das  Schicksal  der  Verunglückten  war  tlurch  die  Nachforschungen  der 
Expedition  zur  traurigen  Gewissheit  geworden,  und  man  konnte  nichts  anderes 
tun,  als  sie  in  ihrem  Grabe  belassen,  geschirmt  durch  die  eisigen  Wälle 
und  nur  von  den  Sternen  bewacht  —  der  glänzendste  Gipfel  des  Kaukasus 
ihr  ewioer  Denkstein. 


(icstein   vom   höchsten   Felsgrate  am   Elbruss. 


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511  Kaukasus 

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